Neuer Vorwärts

Sozialdemokratisches Wochenblatt

Verlag: Karlsbad , Haus Graphia" Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite

Nr. 74

SONNTAG, 11. Nov. 1934

Aus dem Inhalt:

Hunderttausende politischer Ge­fangener

Neue Aktivität von rechts

Unternehmerfuchtel über Ar­

beitsfront

doin

Die Diktatur des Hausknechts

Kriegsfurcht und Kriegsstimmung

Alle neuen Berichte aus Deutschland lassen erkennen, daß die Masse der Bevöl­kerung einen neuen Krieg schon als fest­stehende Tatsache hinnimmt. Die Kriegs­furcht ist bei vielen zur Kriegspsychose geworden, bei anderen wieder in wahre Kriegsstimmung umgeschlagen.

Wir veröffentlichen im folgenden Aus­züge aus Berichten, die uns aus allen Teilen Deutschlands zugegangen

sind:

Schlesien

> Daß die Kritik sich nicht in der Weise bemerkbar macht wie vor einigen Monaten,

Nordbayern

>> Die Befürchtung, daß es bald zum Kriege komme, steckt in den weitesten Volkskrei­sen. Dort, wo Textilfabriken sind, schließen das die Leute der Verarbeitung Ersatzstoffes.

aus

Südbayern

des

neralität wie die Rüstungsindustrie Hitler Der Brand

immer wieder zu Friedensbeteuerungen und außenpolitisch friedlich anmutenden Maßnah­

men veranlassen werden.

Bei

der gesamten übrigen Bevölkerung

A8 196

sib Jad Anja

im Saargebiet

Aus dem Saargebiet wird uns geschrie­

Dabei denken die Leute ein- wirkt am erschütterndsten ihre psycholo- ben: fach mechanisch und sagen:» Das ist wie- gische Verfassung, die den Krieg als unver- Am 21. November tritt in Genf der der die gleiche Sache, wie wir sie meidlch ansieht und in großem Umfang sogar Völkerbundsrat zusammen und wird über im letzten Kriege verarbeitet ha- mit seinem baldigen Ausbruch rechnet. Auch die letzten technischen Modalitäten der am ben. In anderen Orten sind es wieder die ein großer Teil der Arbeiterschaft sucht Er- 13. Januar stattfindenden Volksabstim­nationalsozialistischen Rüstungsvorbereitungen, die Kasernenneubau- lösung vom Uebel mung an der Saar beschließen. Zwar sind durch den Krieg. Sie flieht aus der politi- die Abstimmungslisten, die durchweg von ten und das Anlegen von neuen Flugplätzen.<< schen Wirklichkeit in die politische Metaphy- Behörden und Beamten mit hitlerischer sik. Was wechselt sind ihre Hoffnungen. Gesinnung aufgestellt wurden, so unkor­Früher war es eine Militärdiktatur oder die rekt, daß viele tausende Einsprüche be­Monarchie, jetzt ist es der Krieg. rechtigt sind, aber die neutrale Abstim­Die Tragik liegt darin, daß damit auch mungskommission traut sich zu, die not­die Kriegschancen wachsen, während alles wendigen Berichtigungen der Listen recht­darauf ankommt durch wachsenden inneren zeitig vorzunehmen. Es wird daher wohl Widerstand das Naziregime von diesem bei dem einmal dem einmal festgesetzten Abstim­letzten und verbrecherischsten Abenteuer mungstermin bleiben. abzuhalten.<

>> In einigen Fällen machten wir die son­ist hier wahrscheinlich darauf zurückzufüh- derbare Entdeckung, daß sogar Arbeiter tat­

deut­

ren, daß ein anderes Moment die Bevölkerung sächlich an den Erfolg eines gefangenhält; ihr Gesprächsthema ist: Je- schen imperialistischen Krieges der redet vom kommenden Krieg glauben, daß sie von einem militärisch über­als einer jetzt schon feststehen- legenenen Deutschland eine Besserung ihrer den Tatsache. Erschreckend ist, mit wel- Lebenshaltung erwarten.<< cher Selbstverständlichkeit die Leute den na­hen Ausbruch eines Krieges als gegeben an­

Nordwestdeutschland

Der Vorsitzende der Regierungskom­

nehmen. Als Termin wird allgemein der> Die immer mehr sichtbar werdende fie­Diese Stimmungen spiegeln die Zerset- mission des Völkerbundes an der Saar , der Januar 1935 genannt, da bei der Saarabstim- berhafte Rüstung gibt in der Bevölkerung zu zung und Verzweiflung des Volkes wieder. Engländer Knox, hat sich monatelang mung Konflikte, die zum Kriege führen, er den buntesten Ansichten über die außenpoli- Es wird systematisch mürbe gemacht für bemüht, die Anwerbung einer ausreichen­wartet werden. Aus Neustadt O. S. wird da- tische Situation Veranlassung. In der geschul- den Krieg. Wenn erst die Ueberzeugung den neutralen Abstimmungspo­Wel folgender Vorfall gemeldet. Ein Reichs- ten sozialistischen Arbeiterschaft rechnet man um sich frißt: der Krieg kommt ja doch! lizei zu erreichen. Grundsätzlich stimmte

wehroffizier äußerte in einem Lokal:

zwar auch mit der Möglichkeit eines Krieges,

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dann ist der Weg bis zur Bejahung des ihm der Völkerbundsrat zu, aber in den >> Das ganze deutsche Volk wird unseren ist aber davon überzeugt, daß sowohl die Ge- Krieges nur noch sehr kurz!

Reichsführer auf der Tagung in Nürnberg verstanden haben. Am 14. Januar 1935 werden wir unseren Brüdern an der Saar die Hand reichen. Wenn ich ihnen deutlich sagen soll: am 14. Januar marschieren wir Ins Saargebiet ein. Diesen Geheimbefehl habe ich schon in der Tasche.<<

Int

Kerker und Hunger

deutschsprachigen Ländern, die für die Rekrutierung solcher Polizeikräfte in Be­tracht kommen, haben Regierungen und Presse kühl abgewinkt. Sie wollen ihre Landeskinder nicht der Gefahr aussetzen, mit Waffengewalt in Konflikte an der Saar eingreifen zu müssen. Die neutralen Länder befürchten davon unangenehme

Er ist öffentlich und amtlich als heimischen Polizisten und Gendarmen aber

Die Leute sehen den ungeheuren Das System hat bisher keinerlei Nach- sogenannten Volksgerichts meh- Rückwirkungen auf ihre Beziehungen zum militärischen Betrieb in allen weisungen über die Zahl der politischen rere Todesurtelle wegen Landes- Deutschen Reiche , mit dem sie ohnehin Garnisonstädten. Das Straßenbild ist Gefangenen in Deutschland veröffentlicht. verrats gefällt habe. Seit dem Inkraft- wirtschaftliche und finanzielle Sorgen ge­in manchen Orten jetzt schon vom Militär Die offiziellen Zahlen über die Konzentra- treten des Gesetzes vom 2. Mai 1934 sel bei nug haben. Die deutsche Regierung und weit stärker beherrscht als während des tionslager sind längst als notorische Lügen Landesverrat grundsätzlich nur die ihre Presse gaben sich schließlich auch Krieges. Truppenverlegungen erfolgen über- entlarvt. Jetzt werden auf dem Umweg Todesstrafe vorgesehen. Der Dritte Se alle Mühe, die Aufstellung einer neutralen all. Die Motorisierung wird in stärkstem über die Kosten des Strafvoll nat wird demnach künftig nur Todesurteile Saarpolizei zu hintertreiben. Daß die ein­Maße durchgeführt. Es gibt kaum eine schle- zugs Zahlen bekannt, die Schlüsse auf fällen. bauten durchgeführt werden. asche Stadt, in der nicht große Kasernenneu- das Ausmaß des Justizterrors zulassen! Blutgericht niedergesetzt worden. eine zuverlässige Exekutive nicht darstel­Die Fälle und die Namen selbst, auf die len, ist leicht erklärlich. Abgesehen da­Es wird den Nazis in den Unterrichtsstun- rialdirektor Dr. Schmidt mit, daß die täg- sich die Meldung bezieht, bleiben geheim. Die von, daß sehr viele von der nationalsozia­den erzählt, daß wir unter allen Umständen, liche Durchschnittsbelegung an Gefange- deutsche Tscheka verhaftet geheim, listischen Psychose erfaßt sind, muß na­selbst wenn Deutschland den Polen noch mehr nen in den preußischen Strafanstalten sich verurteilt geheim, erschießt oder entgegenkommen muß, dieses Land zum Ver- folgendermaßen gesteigert hat: bündeten bekommen müssen, selbst wenn Deutschland die größten Opfer bringen muß. Dem Verbündeten muß dann natürlich jede

Hilfe zuteil werden.<

Westsachsen

In der Deutschen Justiz« teilt Ministe­

1931

1932

1933

4>>

32.525

37.982 56.928

köpft geheim. Die Mitteilung hat des­halb überall tiefe Beunruhigung hervorge­

will wissen,

türlich jeder im Falle der Rückgliederung des Saargebietes an Hitlerdeutschland mit dem Verlust seiner Existenz rechnen, wenn

rufen. Man erblickt in ihr eine Bestätigung er sich bei der sogenannten> deutschen der Erschießung der Frau Kitty von Berg. Front miẞliebig macht. Es bedeutet kei­Dieser Sprung ist nur durch die Wir- Die» Morningpost«, eine ernsthafte, gar nicht neswegs eine Diffamierung der saarlän­kung der politischen Justiz zu erklären! sensationshäscherische Zeitung, dischen Polizei, wenn man solche Tatsa­chen feststellt, denn schließlich kann man nicht von jedem Beamten verlangen, daß er heroisch seine Stellung aufs Spiel setzt. Der Vorsitzende der Regierungskom­mission Knox, der ein sehr vorsichtiger und keineswegs zu abrupten Entschlüssen

Ein Blick auf die Praxis der Sonder daß mehrere Maschinenschreiberinnen aus gerichte sagt alles. Die Masse der dem Reichswehrministerium unter der An­

> Von allen Seiten hört man die Ueberzeu­gung, daß das Dritte Reich den Krieg nicht Verurteilungen wird durch die kleinen und klage des Landesverrats verhaftet und zum nur materiell, wirtschaftlich und psycholo- kleinsten Fälle hervorgerufen, in denen ein Tode verurteilt worden seien. Eine von ihnen gisch vorbereitet, sondern ihm auch bewußt Wort auf der Straße oder am Wirtshaus- soll bereits erschossen worden sein.

zutreibt. Es kommt demzufolge immer stär- tisch genügt, um einen Menschen auf W 0- Aber was ist im Dritten Reich alles» L a n- neigender Herr ist, hat das Spiel, das die ker die Ansicht zur Geltung, daß der Krieg chen oder Monate ins Gefängnis zu la ein nicht mehr abzuwendendes Schicksal bringen. Berücksichtigt man dies, so er desverrata? Wenn schon bei Wahlen» deutsche Fronte seit Monaten mit seiner Europas nahe bevorsteht. Diese Stimmung kennt man, daß der braune Justizterror in die Beschuldigung des Landesverrats von offi-| hat eine höchste Steigerung durch die Atten- Deutschland

1935

Hunderttausende von Opfern

ziellen Stellen gegen jene geschleudert wird, die nicht für die befohlene Liste stimmen wol­len welchen Schutz, haben die Gegner des

Regierungsautorität treibt, nun endlich satt bekommen. Er hat sich darauf be­sonnen, daß er im Falle ernster Unruhen im Saargebiet, die durch Polizei und Gen­darmerie nicht gemeistert werden können,

tate in Marseille erfahren, die man im Reich allgemein als das Sarajewo von 1934 bezeich zur Strecke gebracht hat! Die ganze Nie- Systems dagegen, daß nicht alles, was sie get. Man hält den Krieg für unabwendbar. dertracht des Systems aber wird offenbar, tun oder nicht tun, sagen oder nicht sagen, auf Grund der Völkerbundsbestimmungen wenn man erfährt, daß zugleich die Ko­als» Landesverrate von dem sogenannten das Recht hat, französische Trup­sten für die Verpflegung der Gefan- Volksgericht angesehen werden wird? Das genen gegenüber 1931 pro Kopf um über geheime Blutgericht beim sogenannten Volks­40 Prozent gesenkt worden sind. gericht ist nichts anderes als die Fortset­zung des 30. Juni die Methode der

Spätestens werde es so weit sein.<. im Frühjahr

Ostsachsen

pen anzufordern. Neulich schon hat der inzwischen ermordete Außenmini­ster Barthou in seiner viel besproche­nen Saardenkschrift an den Völkerbund erklärt, daß sich Frankreich dieser Ver­pflichtung gegebenenfalls nicht entziehen Dies Blutgericht spricht nicht Recht werde. Jetzt aber ist die französische Re­ein Instrument des Terrors! publik noch einen Schritt weiter gegangen. Vor allem aber kann der in Deutsch - Sie hat motorisierte Truppen an der Grenze Die Justizpressestelle des Dritten Reiches land herrschende Kriegsgeist deutlicher des Saargebietes bereitgestellt und dem

> Es verstärkt sich allgemein die Stim- Das System wirft Hunderttausende ins mung in Deutschland , die an einen baldigen Gefängnis, weil sie sich nicht gleichschal- geheimen Erschießungen, des Mords im Na-| Krieg glaubt. Diejenigen, die noch die eige- ten lassen und läßt sie im Kerker men der Staatsraison des Dritten Reiches . nen Kriegserinnerungen haben, wehren hungern! sich zwar verzweifelt gegen die

Schrecken

eines

kommenden

Krieges, betrachten ihn aber als unver­

meidlich. Für ganz kritisch hinsichtlich der

Das Blutgericht

es ist

Kriegsgefahr hält man die Saarangelegen- hat eine terroristische Drohung veröffentlicht. gekennzeichnet werden als durch diese Ver- General in Nancy befohlen, auf telefoni­

heit.<

Sie tellt mit, daß der Dritte Senat des lautbarung?

schen SOS- Ruf des Präsidenten Knox so­