Neuer Vorwärts

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Sozialdemokratisches Wochenblatt

Nr.84 SONNTAG, 20. Januar 1935

Aus dem Inhalt:

Julius Deutsch , Reise in Amerika Lehren von der Saar

Hitler einmal ehrlich

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Alldeutsche Bekenntnisse

Verlag: Karlsbad , Haus Graphia"

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Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite

2: 0

Lehren von der Saar

Die Saar ist verloren

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I wir kämpfen um Deutschland !

Fahnen über Deutschland ! Fackelzüge, zusehen, in solcher Größe hat sie aber des Nationalgefühls. Wer an die- men pflegen. Die Ernüchterung kommt Freudenfeuer verkünden einen Sieg Hitlers . kaum jemand erwartet. Auch pessimi- ses Nationalgefühl nicht glaubt und nicht später.

Das Saargebiet hat fast genau so ab- stische Prophezeiungen gingen über die mit ihm rechnet, ist ein schlechter Poli- Daneben haben natürlich ordinärer gestimmt, als ob noch Wilhelm Marx erreichten 8,4 Prozent weit hinaus. In der tiker. Unser Freunde an der Saar waren Terror und niederträchtige Lüge ihre Rolle oder Hermann Müller Reichskanzler Tat war schwer vorauszusehen, daß die sich der Kraft dieses Gefühls durchaus gespielt. Man hat sich nicht geschämt, den Opposition am 13. Januar 1935 der bewußt. Immer wieder haben sie voll- gefangenen Thälmann mit gefälschten

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Niederlagen sind dazu da, daß man aus

wäre. >> Nun laßt die Glocken von Turm zu Saar schwächer sein würde, als sie kommen richtig und wahrheitsgemäß Flugblättern vor den braunen Propaganda­Turm durchs Land frohlocken im Jubel- im Innern Deutschlands schon versichert, daß die Entscheidung für vor- karren zu spannen. Man hat noch in letz­sturm<<. am 19. August 1934 gewesen ist. läufige Beibehaltung des Status quo eine ter Stunde Aufrufe angeblicher sozialde Die Freude der Nazi ist verständlich. Das Saarland konnte die Wahrheit er- Entscheidung nicht gegen, sondern für mokratischer und kommunistischer Orga­Der Verlust, den sie erlitten haben 8,4 fahren. Es wußte von den Marxisten- und Deutschland sei, aber ihr Gedanken- nisationen produziert, in denen unter hef­Prozent ist viel geringer, als sie selbst Judenhetzen in Deutschland , es wußte gang war viel zu kompliziert, als daß er tiger Verfluchung aller Emigranten und erwartet hatten. Er ist erschütternd auch von der Verfolgung der katholischen auf Massen hätte wirken können. Die Mas- Separatisten der sofortige Anschluß an das gering! Kirche, von den ruchlosen Morden an sen hörten nur für Deutschland !« gingen Hitlerreich gefordert wurde. Alle diese ge­Die Weltgeschichte ist um einen der Klausener und seinen Schicksalsgenossen, hin und stimmten für Hitler. Die mei- meinen und schmutzigen Mittel hätten aber vielen Siege, die Gewalt und Unverstand von der Einkerkerung katholischer Geist- sten haben wahrscheinlich diese Wirkung nicht verfangen, wenn nicht breite Mas­über Menschlichkeit und Vernunft gewon- licher, von den Greueln des Columbia- durchaus nicht gewollt, sie haben für den senströmungen der braunen Propaganda nen haben, reicher. Viele von uns sind um Hauses und der Konzentrationslager, vom sofortigen Anschluß gestimmt, nicht we- zu Hilfe gekommen wären. eine Illusion ärmer. Raub am Arbeitereigentum, von der Ver- gen Hitler, sondern trotz Hitler . Dieser An dieser Stelle ist noch vor der Ab- nichtung der Arbeiterrechte, von der Zer- kann trotzdem den Gewinn für sich buchen. ihnen lernt. Der nun abgeschlossene stimmung so deutlich wie es damals mög- schlagung nicht nur der freien, sondern Es war aber wohl nicht das National- Kampf an der Saar hat manche Dinge in lich war, gesagt worden, daß mit einer auch der christlichen Gewerkschaften. gefühl allein, das an der Saar entschied, einem neuen Lichte gezeigt. Auch denen, Niederlage gerechnet werden muß. Der Trotzdem hat sich das Saarland , dessen Kampf, der an der Saar geführt wurde, Bevölkerung zum größten Teil aus Arbei- es war auch das Gefühl einer gewaltigen, die bisher in der Bildung einer sozial­war unvermeidlich, aber er war schon ver- tern besteht und in dem bei früheren Wah- stehen. Dieses Gefühl wurde durch die stischen Einheitsfront das große loren an dem Tage, an dem er begann. len eine sichere Zentrumsmehrheit einer braune Propaganda auf das Geschickteste Zaubermittel erblickt haben, das alle Pro­Dreizehn Jahre lang hatten wir Sozial- sozialdemokratisch- kommunistischen Min- gefördert und gesteigert. demokraten für die Rückkehr der Saar derheit gegenüberstand, mit einer Neun­letarierherzen gewinnt, und alle Kerker zum Mutterlande gewirkt. Wir hatten von zehntelmehrheit für den Anschluß an das Macht zieht Massen an. In der des Klassenstaates sprengt, mag er zu den­Frankreich eine Vorverlegung des Termins Reich entschieden, in dem sich solche Masse ist jeder einzelne ein Erfolganbeter. ken geben... zu erlangen versucht, Frankreich bestand Dinge zutragen, solche Zustände herr- Der Erfolg imponiert zunächst, er ent- Ihr aber, tapfere Freunde an der Saar , auf dem Buchstaben des Vertrages. Eine schen!? schuldigt in den Augen vieler auch die Ab- Kopf hoch! Der Kampf, in dem ihr ehren­Vorverlegung des Termins wäre eine große| Wie war das möglich? Was war es, scheulichkeit der angewandten Mittel. Der voll unterlagt, war keine Entscheidungs­Geste der Versöhnung gewesen und für die daß den Sieg des Feindes und unsere Nie- Blutgeruch, der einem Regime anhaftet, schlacht, sondern nur ein Gefecht auf deutsche Republik ein großer Erfolg. Man derlage entschied? wirkt lange nicht so abstoßend, wie wir einem Nebenkriegsschauplatz! Die Saar hat der Republik damals den Erfolg nicht Das war wohl vor allem die alles nie- Sozialdemokraten unentwegte Gläubi- ist verloren auf, kämpfen wir gegönnt- und so kann heute Hitler den derwerfende, alles niederwalzende Gewalt ger des Humanitätsgedankens anzuneh- Deutschland! Sieger spielen.

Daß wir der sofortigen Rückkehr der Saar zu Deutschland widersprechen könn­

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unwiderstehlichen Macht gegenüberzu- demokratisch- kommuni­

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Wer wird Vizekanzler?

allow Der Kampf um die Macht Schacht gegen Göring

Aus Berlin wird uns geschrieben:

um

dieser Gedanke wäre uns noch vor zwei Jahren geradezu aberwitzig erschie­nen. Die schäbigste Bürgerblockregierung, die schwärzeste Reaktion hätte uns nicht dazu vermocht. Erst als das Ungeheuer­liche geschah, daß eine Verbrecherbande sich des Reiches bemächtigte, als Mord, Brandstiftung und Raub zu Maximen deut-| scher Staatskunst geworden waren, da erst Schachts zum Mitdiktator und Vizekanz- flügels der Reichswehr rühmen; er führt die Reihen der prominenten Parteiführer aber bekam auch das Saarproblem für uns ein ler hat in den Kreisen um Göring die breite Front und duldet gerade noch, daß an darf und kann der Sündenbock nicht genom­neues Gesicht. Rückkehr zum Reich be- größte Bestürzung hervorgerufen. Seit lan- den abgelegenen Seitenfronten die Nazi ihre men werden; Schacht jedoch kann und soll deutete jetzt Versinken auch der saarlän- gem hat Göring darauf hin gearbeitet, selbst Dummheiten weiter machen dürfen; er kom- es sein! Wenn der politische Zustand die dischen Arbeiter in die abscheulichste der Nachfolger Papens zu werden, wenn mandiert und dirigiert und läßt die Nazi persönliche Bloẞstellung eines hervorragen­Sklaverei, Auslieferung der weltanschau- möglich in Verbindung mit einer Ernennung reden. Jetzt wünscht er eine auch nach außen den Regierungsmitgliedes notwendig machen lichen und rassischen Minderheiten des zum Wehrminister! Landes an viehische Folterknechte. Die haben diese Bemühungen unterstützt. Hitler Wünschen der Reichswehr , sondern auch de­Unmöglichkeit von heute. Weil kein an- nicht, weil er begründete Furcht vor dem nen derer Weg sichtbar war, aus der Verzweif- sich zeitweilig seltsam äußerndem maßlosen lung heraus, kam die Parole des Status Ehrgeiz Görings hat, wozu nicht wenig der

der völligen Uebereinstimmung seiner poli-| weiß denn, wie lange die gegenwärtige Form Die Wahrscheinlichkeit einer Ernennung tischen Absichten mit denen des Blomberg - des Zusammenbruches noch anhält? Aus den

quo.

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sichtbare Beleuchtung seiner überragenden sollte, dann wird es Schacht sein müssen. Weder Hitler , noch Heẞ oder Göbbels Stellung und begegnet hierbei nicht nur den Ihm werden Hitler und die Nazi alles auf­

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Hitlers!

Hitler weiß, daß er zu wählen hat zwischen Göring und Schacht.

offen ausgesprochene Wunsch der Göring - Er weiß auch, daß ihm Schacht unter Um­

Die Parole des Status quo hat nicht ge- Clique beigetragen haben mag, daß der La­zündet, denn sie wurde nicht verstanden. mettahermann mit Hilfe

Hitler ab­

ständen sehr gefährlich werden kann. Trotz­

entscheiden.

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bürden, was das Volk belastet; er wird der

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allein Verantwortliche sein. So glauben sich die Nazi noch einmal aus der gefähr lichen Schlinge ziehen zu können.

Der Plan ist gut; sein Vater heißt Göbbels . Er hat nur einen Fehler: die Pläne

von

der Monarchisten dem wird er sich für den Wirtschaftsdiktator Schacht sind besser! Der Wirtschaftsdiktator denkt nicht daran, wollte ja die Verewigung des gegebenen lösen möge; Heß und Göbbels nicht, weil sie Nicht nur, weil er dadurch Göring in der Hitler aus der Verantwortung zu lassen. Er Zustandes, niemand fand an dem Status aus Gründen der persönlichen Sicherheit eine gewünschten Distanz halten kann, sondern wird solange in der Rolle des» bescheidenen starke Stellung Görings verhindern vor allem, um sich gelegentlich des sehr Zweiten« verharren, wie der unbescheidene bequemsten ent-» Erste« noch gebraucht wird also bis Hit­Bergwerksdirektion müssen, Wobei außer acht gelassen ist, daß selbständigen Schacht am den lebhaften ledigen zu können. ler rettungslos verloren ist. In dem Augen­In der Naziführung ist man sich durchaus blick, da Hitler seinen Sündenbock brauchte, eine auf diese Weise die verlorene Verbindung der darüber klar, daß die Popularität der Nazi- wird seine eigene Stellung ohnmächtig sein.

quo mit einem englischen Gouverneur, allzu

einer französischen

um

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und einer englisch - italienisch- holländisch- zeitweilig besonders Heẞ schwedischen Militärbesatzung Gefallen. Wunsch hatte, Vizekanzler zu werden, Partei mit der Regierung wieder herzustel- partei und der Regierung rapid im Schwin- Der Wirtschaftsdiktator besitzt nicht nur den

Die Parole des Status quo

Uebels.

war

Und eine Parole auf Zeit. len.

In Wirklichkeit bedeutete sie nur, daß der ganz selbstverständliche naturnotwendige klärt, daß Wiederanschluß des abgetrennten Gebietes verschoben werden sollte bis zu dem

Tage,

der vakante Posten Ides Vizekanzlers

unverzüglich wieder besetzt

den begriffen ist. Die Entfremdung zwischen entscheidenden Apparat der Wirtschaft und Nach dem Sturz Papens hatte Hitler er- Volk und Partei, Volk und Regierung ist fast Finanzen, sondern auch den der bewaffneten hoffnungslos. Das Schlimmste ist, daß Hitler Gewalt. nicht mehr die Macht hat, den Kurs zu än- Hinter Schacht stehen Blomberg und die entscheidenden Stellen der Reichswehr. dern, selbst wenn er den Willen dazu hätte. und den Nationalsozialismus Die Not wächst, die Unruhe steigt, die Un- Ueber Hitler wird täglich größer. Dazu siegt die Diktatur des honetten Finanzkapi­kommt noch die um sich greifende Oppo- tals, und manch einer wird darüber klagen Heute ist die Stellung Schachts so stark sition in den eigenen Reihen! Der Kredit dürfen, der heute noch im Besitz großer

an dem Deutschland wieder ein zivi- werden sollte. Das war auch offenbar seine

lisierter Staat sein wird. Was vorgeschla- Meinung gewesen; aus den angeführten Grün- zufriedenheit

gen war, war ein Provisorium, und wer den unterblieb jedoch die Ernennung. kann sich für ein Provisorium begeistern?|

Damit soll die Bedeutung der Nieder- geworden, daß seine formelle Ernennung zum Hitlers geht langsam aber sicher verloren Macht wähnt. gegebenen Tatsachen und darum braucht man einen Sünden- Als Cesare Borgia vor Sinigaglia die re­Er darf sich offen bock! Man braucht ihn dringend, denn wer

lage an der Saar nicht verkleinert werden. Vizekanzler nur den

Sie

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bellischen Kondottieri Italiens umzubringen