Nr. 84 BEILAGE

Neuer Vorwärts

20. Januar 1935

Reiseeindrücke in Amerika

FAM

Von Julius Deutsch

sen hat man immer wieder den Eindruck, Die Politisierung to hau Von ihnen hörte ich die Frage: Was dann,

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Genosse Julius Deutsch ist soeben amerikanischen Volk ganz unerwartet. In im Produktionsmechanismus finden und| heit befreien. Einsichtige Wirtschaftspo­von seiner Propagandareise durch die Gesprächen mit Amerikanern aller Klas- ausbessern werde. litiker sehen diese Enttäuschung kommen. Vereinigten Staaten zurückgekehrt. Er schreibt uns: daß die Amerikaner dieses Ereignis nicht wenn die Hoffnungen auf Roosevelt ver­Der erste Eindruck des Besuchers ist: zu fassen imstande sind. Man ist in Ame­der Arbeiterschaft gangen sind und das amerikanische Volk Amerika ist das Land der Kontraste. Ein rika im allgemeinen weit davon entfernt, Der große Wahlsieg, den die demokra- noch verzweifelter sein wird als jetzt? Gang durch die Straßen einer der großen die Krise als eine notwendige Folge der tische Partei im November 1934 bei den Es ist schwer, auf diese Frage eine Ant­amerikanischen Städte drängt immer wie- kapitalistischen Produktionsweise zu be- Gouverneurswahlen erzielte, ist dem Wun- wort zu geben. Der Weg der politischen der den Vergleich zwischen arm und reich trachten. Man glaubt vielmehr, daß da derglauben zuzuschreiben, Man glaubt vielmehr, daß da derglauben zuzuschreiben, mit dem das Entwicklung Amerikas kann in dieser Zeit auf. Man kommt an den Villen der Rei- irgendwo im Mechanismus der Produk- Volk auf die Lösung durch die Roosevelt - sowohl nach links als nach rechts gehen. chen vorbei und hört von dem kundigen tionsweise Fehler stecken müssen, die man schen Reformen hofft. Diesem Wunder- Die amerikanischen Massen sind politisch Führer, wie viel Millionenbesitz dieses oder beseitigen könne. So blickt das Volk gläu- glauben muß naturgemäß die Enttäu- ungeschult und können deshalb das Opfer jenes Haus beherbergt. Einige Minuten big zu Roosevelt auf und hofft, daß er der schung folgen. Denn auch Roosevelt kann politischer Schlagworte werden. Aber eines später kann man in den Vierteln der Ar- Werkmeister sein werde, der den Fehler den Kapitalismus nicht von seiner Wesen- ist sicher: die amerikanischen men sein, in Slums, die den Elendsvier­teln einer osteuropäischen Stadt in nichts nachstehen.

Diese Elendsviertel sind meistenteils national gegliedert. Man kann ein Vier­tel der Juden besuchen, der Italiener, der Polen , Ungarn , aber auch solche von Chi­nesen und Negern.

Die Rassenfrage

Das Problem der farbigen Völker spielt in Nordamerika eine geringere Rolle. Hier haben auch die Neger die vollen staats­bürgerlichen und gesellschaftlichen Rechte. Natürlich werden auch in Nordamerika Unterschiede gemacht, aber sie treten nicht so scharf hervor wie im Süden. Wer im Süden der Vereinigten Staaten reist, stößt immer wieder auf die ungleiche Be­handlung der Neger und Weißen. Theo­retisch hat der Neger auch im Süden die gleichen Staatsbürgerrechte wie der Weiße. Praktisch ist er im Süden ein miẞachteter Paria der Gesellschaft. Der Neger darf nicht einen Eisenbahnwaggon betreten, in dem sich Weiße befinden, er wird nicht in einem besseren Hotel aufgenommen, ja, er kann nicht einmal Versammlungen und Vorträge der Weißen besuchen.

Erst in der letzten Zeit beginnen sich die Neger gegen ihre Bedrückung auf­zulehnen. Ihr Aufstieg in kultureller Hin­Isicht geht Hand in Hand mit der sozialen Entwicklung. Während in der Lebensfüh­rung und in den Lebensgewohnheiten der beiden Rassen ein großer Unterschied be­steht, führt die Arbeit die Proletarier beider Rassen täglich zusammen. In den Fabriken, sowie bei Straßenbauten und Eisenbahnbauten sieht man Schwarze und a Weiße gemeinsam an der Arbeit. Diese gemeinsame Arbeit führt dazu, daß jetzt, wo die Proletarier Amerikas zu erwachen beginnen, auch vielfach Streiks gemeinsam geführt werden. Im Kampfe gegen die Unternehmer ist der schwarze Arbeiter natürlich ebenso wertvoll wie der Weiße. Die weißen Arbeiter beginnen wenig­stens in den Zeiten des Kampfes die Neger als Kampfgenossen zu betrachten.| Anderseits hebt der soziale Kampf das Selbstbewußtsein der Neger und weckt in ihm das Bedürfnis, rassisch gleichgewer­

tet zu werden.

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Massenarbeitslosigkeit

Die sozialen Kämpfe in Amerika haben in den letzten Jahren eine Ausdeh­nie

der, in Amerika gibt es derzeit 12 Millio­

nen Arbeitslose.

Die Statistiker streiten

Nach der Saarabstimmung

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Proletariermassen beginnen

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olivi hay allmählich politisch zu den­ken. Früher war das der Stolz eines jeden amerikanischen Arbeiters: sich selbst zu helfen. Er hatte für sich das Vorbild eines Rockefellers oder eines Mor­gans oder eines anderen Industriemagna­ten, der klein begonnen hatte und schließ­lich ein Multimillionär wurde. Nun sind diese Hoffnungen in der Krise in nichts verflossen. Mit dem persönlichen Aufstieg ist es nichts auch in Amerika nicht. Das wurde durch die Krise Millionen und aber Millionen demonstriert. Anderseits haben die Rooseveltschen Reformvor­schläge die Massen auf den Staat zu blik­ken gelehrt. Täglich verkünden die Zei­tungen, daß der Staat in diesem Elend der Krise helfen solle und helfen kann. Nun beginnen die Arbeiter den Staat mit an­deren Augen als bisher anzusehen. Früher wollten sie von einer Staatshilfe so wenig etwas wissen wie etwa die Arbeiter Deutschlands am Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. In dem Augen­blick nun, in dem sie sich von der Selbst­hilfe abwenden und die Staatshilfe als eine Möglichkeit der Besserung ihrer Existenz betrachten beginnt das politische Den­ken der amerikanischen Arbeiter.

Die deutschen Arbeiter: ,, Nur keine Bange, Karl, die werden auch noch klug werden!"

Für geistige Arbeit keine Verwendung

Die Intellektuellen räudige Schafe"

Wir zitieren hier den Brief einer national tuellen gezeigt, was eine Harke ist. In dem Brief heißt es:

sich darüber, ob diese Ziffer richtig ist. Optimisten behaupten, es gäbe nur 10 Mil­lionen Arbeitslose. Aber selbst diese Zahl| als richtig angenommen, bedeutete dies, gesinnten, in Berlin lebenden Frau an ihre daß ein Viertel der amerikanischen Indu- Freundin. Die Schreiberin schildert das elen­striearbeiter ohne Arbeit ist. Dazu kommt, de Schicksal der geistigen Arbeiter im un­daß die Arbeitslosigkeit nicht erst von geistigen Dritten Reich. Sie schreibt: gestern stammt, die Krisis liegt nun seit mehr als drei Jahren bleiern auf dem ame-| rikanischen Wirtschaftskörper. Ich habe mit Arbeitslosen gesprochen, die schon vier und fünf Jahre arbeitslos sind.

> Selbst wenn man, wie ich, eine stramm nationale Haltung von jeher nachweisen kann, so ist es doch jetzt vor allem durch die Schrumpfung unzähliger schriftstelle­rischer und auch Vortragsmöglichkeiten besonders noch für Frauen fast unmög­

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In der Zeit der Prosperität konnten lich, als Schriftstellerin und geistige Arbei­

terin weiter zu existieren, auch wenn man rastlos sich um die Möglichkeiten in der Tagespresse und an anderen Stellen be­müht. Die Gründe für dies grenzenlose Elend, das fast in der ganzen Schicht der geistig tätigen Kräfte der Nation jetzt herrscht und um das sich niemand eigent­lich kümmert, sind so breitschichtige und so tiefliegende, daß ich gar nicht erst da­mit anfange, sonst könte ich Dir nur davon allein schreiben.<<

sich die amerikanischen Arbeiter bei rela­tiv hohen Löhnen ein kleines Familien­haus kaufen und auch das übliche Klein­auto. Nun ist der Mann arbeitslos gewor-| den. Es ist ihm unmöglich, die vertrags- i mäßigen Raten für das Haus zu bezahlen. Er verliert Haus und Auto. An das Auto klammert er sich am längsten. Aber auch| dieses ist nicht zu halten. So sinkt der Arbeiter immer tiefer und lernt nun alle| Schon die Beschäftigung mit geistigen Fra­des europäischen Arbeiter- gen macht verdächtig. Nicht nur Kalender­sprüche versichern, daß ein Deutscher > nie

Schrecken

daseins in Amerika kennen.

Der Sturz von der Höhe der Prospe- ein Intellektueller sein könne«, auch im täg­

Irität in die Tiefen der Krise kam

dem lichen Leben wird den verfluchten Intellek­

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Vorbild die englische Arbeiterbewegung

Die sozialen Auseinander­setzungen zwischen den Besitzenden und den Arbeitermassen haben auf der ganzen Linie eingesetzt. Es kann nicht lange dauern, und diese sozialen Ausein­andersetzungen werden nicht allein im kleinen Gebiet des Wirtschaftslebens, son­dern auch in der Arena der Politik aus­gefochten werden. Amerika scheint vor dem Beginn einer Arbeiterbewegung zu stehen. Die Entwicklung verläuft, wie es scheint, ähnlich wie seinerzeit in England. Es ist die große historische Aufgabe der sozialistischen Partei in Amerika die Mög­lichkeiten, die sich aus der derzeitigen Situation ergeben, auszunutzen und den Proletariermassen Führerin im Kampfe zu sein. Eine Arbeiterbewegung in Amerika ist im Werden. Das ist der stärkste Ein­druck, den ich von meinem Besuch in den Vereinigten Staaten mitgenommen habe.

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nicht seines Lohnes wert, auch nicht im Falle bestellter Arbeit.<

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Auch Rundfunkvorträge, so versichert die Briefschreiberin, werden jämmerlich hono­riert. Sie hat einmal versucht, diese Frage in einer Fachschaftssitzung aufs Tapet zu brin­aber da ist sie schön angekommen: » Zuletzt wurde ich wegen der Erwäh­nung dieser Honorierung, die doch kein Ge­heimnis war, noch zum, Meckerer' gestem­pelt. Du kannst Dir denken, daß bei sol­chen Erfahrungen natürlich kein Mensch seinen Mund mehr auftut, um irgend einen Miẞstand oder sachlichen Notstand zu er­wähnen Wir hören zwar immer wie­der, es soll jedem Notstand abgeholfen wer­den. Wenn man aber solche Notstände gar nicht anhören will, die sich in der Pra­xis ergeben, wie will man helfen? Da man trotz offizieller Aufforderung das, was als Erleben aus der Arbeit und aus Nachden­ken erwächst, praktisch, an die Nerven­stränge der Partei' ebensowenig heranbrin­gen kann, wie man solche Dinge in der Tagespresse wirklich diskutieren kann, platzt es eben bei solcher Gelegenheit( näm­lich beim Briefeschreiben. NV) heraus.<

> Sind wir doch als, Intellektuelle ohne­hin räudige Schafe und ich erst recht als geistige Frau', die sich auch nicht zu den sogenannten Märzgefallenen rechnen lassen möchte. Das geht mir wider den Stolz. Wenn ich lese, wie sozusagen das Ins- Theater­Gehen als selbstverständliche nationale Kul­turpflicht verkündet und erwartet wird, so kann ich nur annehmen, daß die betreffen­den Herren keine Ahnung haben, wie es heute gerade bei der früher eifrigsten Theatergemeinde aussieht. Wie sollen wir denn das möglich machen, wo wir schon bei aller Ausnutzung von Zeit, Kräf­ten und verfügbaren Mitteln kaum existie­ren können? Es scheint, daß man sich über die Lage und die heutigen allgemeinen Le­bensbedingungen des Arbeiters der Stirn' wenig Gedanken macht wenigstens habe ich davon in offiziellen Kundgebungen und Maßregeln nichts bemerkt... Die Not des , Arbeiters der Stirn' als solche scheint im wollen wir dem Leser noch verraten, wie es sonst doch so sozial gesonnenen Staat nicht in unsre Hände kam. Durch einen Kurier? zu existieren; auch die Erfahrungen, die ich Auf Umwegen? Heimlich? Aber nein! Dieser mit den heutigen Presseorganen gemacht Brief ist weder ins Ausland gerichtet, noch habe, zeugen nicht von wirklichem Ver­für die» Emigrantenpresse<< bestimmt, ob­ständnis für die soziale Lage des Schrift­stellers. Der Geistesarbeiter ist offenbar gleich es so scheinen könnte. Er wurde zu­

SO

Soweit das Schriftstück. Und zum Schluß