Nr. 94 BEILAGE 31. März 1933 Per Heilige Thomas Horns Am 1. April 1935 tritt im Vatikan das Konsistorium zusammen, um im Jahre seines vierhundertjährigen Todestages die Heiligsprechung des einstigen englischen Lordkanzlers Thomas Moore und des mit ihm zugleich auf dem Schafott verbluteten Londoner Bischofs Fisher zu beschließen. Diese Kanonisation bedeutet nicht nur eine Verlängerung des endlosen Verzeichnisses katholischer Heiliger, sondern auch eine Verneigimg vor einem Manne, dessen schriftstellerisches Werk im Kampfe um die Befreiung der unterdrückten Klassen eine nicht nur auf seine Zeit beschränkte Wirkimg gehabt hat Karl Kautsky hat ihm eine Schrift gewidmet, Max Beer behandelt sein Werk in seiner »Allgemeinen Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe« sehr ausführlich, und wenn die Worte»Von der Utopie zur Wissenschaft« aus einem Buchtitel zu geflügelten Worten geworden sind, ist auch das ohne Moore nicht denkbar, denn er hat das Wort Utopia oder Utopie erst geschaffen. Es war im England der Regierung Hein- richs Vm., jenes jugendlichen Frevlers auf dem Thron, der seine politischen und persönlichen Schwierigkeiten jeweils durch den Scharfrichter zu beseitigen pflegte. Wirtschaftlich war diese Epoche durch das Emporsteigen des englischen Handelskapitals gekennzeichnet, das die alten Dorfgemeinschaften zertrümmerte, um die Bauern von ihren Ländereien zu vertreiben und den Grundherren die Möglichkeit zu geben, Schafzucht zu treiben und sich am Wollhandel mit Flandern zu bereichem. Politische Despotie und wirtschaftliche Verelendung des Volkes ergänzten sich, wie so oft in der Geschichte der Menschheit, zu gemeinsamem Unheil. Thomas Moore , der seinen Namen nach damaliger Humanistensitte in Morus lateinisierte, entstammte nicht den darben- ben Schichten des englischen Volkes, Sein Vater war Richter, der Sohn erhielt eine vorzügliche Erziehung, besuchte auch die berühmte Universität von Oxford und studierte neben der Rechtsgelehrheit, innerem Antriebe folgend, Theologie und Philosophie. Schon in jungen Jahren war er ein weit über die Grenzen Englands hinaus berühmter Gelehrter und als seine juristische Tätigkeit ihn auch zum höchsten Beamten des Königreiches, zum Lordkanzler, emporsteigen ließ, konnte er als eine der reprä- sentabelsten Persönlichkeiten Englands in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts geifertet werden. Wir haben heute, in dieser ungeheuren Wirtschaftskrise, um so mehr Veranlassung, uns seiner zu erinnern, als er, seiner Zeit weit voraus, der erste war, der, nach einer fast zweitausendjährigen Pause, wieder wie Plato , die Auffassung vertrat, daß das Glück der Menschheit eine radikale Aenderung der Eigentumsverhältnisse voraussetze, und diesen Stand- Punkt eingebend begründete. Morus sah, wie er in dem ersten, sozialkritischen Teil seiner»Utopia« ausführt, daß in einem Lande, in dem die Adeligen, Bankiers, Wucherer und Hofleute die größten Belohnungen und Gebühren erhalten, während für die Bauern, Landarbeiter, Schmiede, Tischler, Bergleute und andere Arbeitsleute, ohne die das Gemeinwesen gar nicht bestehen könnte, gar kei- he Vorsorge getroffen wird,— daß es in einem solchen Lande keine Spur von Recht Und Gerechtigkeit geben könne. Das Schicksal der Arbeitsleute sei sogar schlimmer als das der Arbeitstiere; Armut sei Ihr Lohn, so lange sie kräftig genug seien, beschäftigt zu werden, und Elend, wenn Alter und Krankheit sie arbeitsunfähig �achten. Die Gesetze seien stets gegen sie, 'he bestehende Ordnung nur eine Ver- ■�chwörung der Reichen, um ihr eigenes Wohlergehen zu sichem . Infolge der erschütternden Erfahrun- Sen, die Morus mit dem Aufkommen der Feldwirtschaft und der Verdrängung her Naturalwirtschaft machte, sah er •he Wurzel allen Uebels im Gelde �bst. Seiner Meinung nach würden •hie Verbrechen aufhören, wenn man die hhurichtung des Geldes beseitigte. Sogar hie Armut, die doch scheinbar aus Mangel � Geld entstehe, würde verschwinden, �erm das Geld verschwände. Bevor Morus dann seine Ideen über eine bessere Organisation der Menschheit auseinandersetzt, befaßt er sich mit dem heute noch genau so- aktuellen Problem Reform oder Revolution, ohne sich allerdings eindeutig zu entscheiden. Er bringt Gründe für und wider, zitiert Plato , der es als zwecklos abgelehnt habe, Gesetze für ein Land zu machen, in dem Sondereigentum herrscht, meint aber auch, man dürfe sich Reformen in einem kapitalistischen Staate nicht entziehen, denn»man darf das Schiff inmitten eines Sturmes nicht deshalb aufgeben, weil man nicht imstande ist, den Sturm zu beherrschen.... man muß vielmehr klug zu Werke gehen und die Sache diplomatisch behandeln, so daß, wenn man nicht in der Lage ist, das Beste zu erreichen, man wenigstens das Schlimmste verhütet« Um den praktischen Schwierigkeiten auszuweichen, die sich aus der ungelösten Frage nach dem besten Weg zu einem gemeinwirtschaftlichen Staat ergeben, läßt Morus seinen Helden Utopus eine rauhe und regenlose Halbinsel erobern und sie durch seine politischen, wirtschaftlichen und sozialpolitischen Maßnahmen zu einer Wohnstätte der Glückseligen(auf Griechisch Eutopia) entwickeln. So kann der Verfasser, ohne Rücksicht auf widerstrebende Kräfte nehmen zu müssen, organisieren und braucht sich um den Zwiespalt Reform oder Revolution nicht zu kümmern, denn es ist noch nichts vorhanden, das revolutioniert oder reformiert werden könnte. Er wird neu gebaut, wie es im Leben nirgends möglich ist, und so entsteht das, was man seit Morus eine Utopie nennt. Trotzdem bleibt in vielen Punkten interessant, wie sich Menschen vor vierhundert Jahren eine bessere Organisation vorgestellt haben, und es ist ein besonderer Ruhmestitel Moores, daß er in seiner Denkarbeit vor der Verneinung des geheiligten Privatbesitzes nicht zurückgeschreckt ist. Seine in Aussicht genommene Heiligsprechung verdankt er allerdings nicht diesen wahrhaft revolutionären Gedanken, sondern dem Märtyrertod, den er dafür erlitten hat, daß er es mit seinem katholischen Gewissen nicht glaubte vereinbaren zu können, einer der Ehescheidungen seines königlichen Herrn nachträglich seine Zustimmung zu geben. Morus hat in seiner Konstruktion nicht etwa schon die 250 Jahre später proklamierten Menschenrechte vorweggenommen. Der spätere englische Lordkanzler sieht keine Möglichkeit, äeine Gütergemeinschaft zur Grundlage des Staates zu machen, wenn es nicht doch Leibeigene für die schmutzigen und beschwerlichen Arbeiten gibt, und es ist für unser heutiges Empfinden ein schwacher Trost, daß er die Leibeigenschaft auf Sträflinge und landfremde Arbeiter beschränken wül, auch darin Piatos Spuren folgend, dessen gesellschaftspolitische Grundsätze auch nur für eine Oberschicht gedacht sind, die sich durch Sklaven- und Ausländerarbeit ernährt. Doch ist Moores Staat immerhin schon als demokratischer Bund autonomer Kreise gedacht, mit Präsidenten an der Spitze, die auf Lebenszeit gewählt werden und nur abgesetzt werden können, wenn begründeter Verdacht besteht, daß sie nach der Tyrannei streben, es herrscht allgemeine Schulpflicht(in Europa hat es noch Jahrhunderte gedauert, bis es so weit war) und Religionsfreiheit, allerdings nur innerhalb des Bekenntnisses zu Gott, eine Toleranz, wie sie mehr als 200 Jahre später Lessing noch immer vergeblich fordern mußte, der Krieg galt als grob und grausam, aber die Landesverteidigung wurde bejaht, und vieles andere mehr, an dem wir Menschen des 20. Jahrhunderts noch immer herumdoktern, da eben Morus nicht vermocht hatte, seine utopischen Ideen in europäische Wirklichkeit umzusetzen. Die Bedeutung der»Utopia« wird durch diese Feststellung nicht geschmälert Sie leitete eine endlose Reihe utopischer Romane ein, die den Menschen bessere Welten— mit und ohne Privateigentum— vorführten, sie stand an der Wiege der praktischen Versuche Owens und ist schließlich die Mutter aller modernen Parteiprogramme, im besonderen aber jener, die sich die Befreiung der Menschheit durch Ueberwindung des Privatkapitalismus zum Ziel gesetzt haben. Grenzen der Mystik Die Intellektnellen und das Dritte Reich. »Freiheit Gleichheit und Brüderlichkeit« waren für das in die Geschichte tretende Bürgertum keineswegs»betrügerische Parolen«, sieht man von dem in ihnen enthaltenen Selbstbetrug ab. Vielmehr ging es u. a. darum, die allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Entwicklung zu schaffen. Wenn nun heute der Geist des liberalen Bürgertums kaum noch vorhanden ist und sich auf allen Gebieten grundlegende Wandlungen vollziehen, so muß man doch beachten, daß dieser Entwicklung gewisse Grenzen gesteckt sind. Die Diskussion um die Stellung der Wissenschaft im Dritten Reich liefert ein interessantes Beispiel für diese Behauptung. Der aufsteigende Kapitalismus brauchte die freie Wissenschaft, die Schule und die Bildung, ohne sie wäre er nicht denkbar. Aber er braucht sie auch noch heute, wie auch andere Kreise sie nicht mehr entbehren können. Das führt nicht nur dazu, daß jene mit der wissenschaftlichen Forschung auf Tod und Leben verbundene Geselischaftsschichten sich gegen die Bedrohung der Wissenschaft durch das Rasseprinzip wenden, sondern bringt es auch mit sich, daß Vertreter der entwickeltsten Bourgeoisie In den verschiedensten Formen gegen die nationalsozialistische Mystik ankämpfen müssen, die für die Forschung und damit für die kapitalistische Produktion selbst eine große Gefahr darstellt Die nationalsozialistische Geisteshaltung ist nicht die des Großbürgertums, sondern— im Großen gesehen— die des versinkenden und darum in die Mystik sich flüchtenden Kleinbürgertums, das keineswegs im selben Maße auf die Wissenschaft angewiesen ist wie das moderne Großbürgertum. Ist auch dieses auf vielen Gebieten mystischen Ideologien zugänglich, so ist es doch andererseits gezwungen, weitaus realer und nüchterner zu denken als andere Schichten. Das Laboratorium der L G. Farben z. B. kann nicht den Geist von Rosenberga Mythos atmen. Und darum finden wir in der»Frankfurter Zei tung « stets große Artikel gegen«He heutige Mystik. Und umgekehrt Angriffe der Mystiker gegen sie und die DAZ. Die genannte Zeitung fragte z. B. in einem großen Artikel auf der ersten Seite ihres Blattes:»Intellektuell.— ein Aergernis?« und beklagte sich darüber, daß man in Deutachland nicht den feinen Unterschied zwischen »intellektueü« und»intellektualistisch« macht, wie es die Engländer tun. Freilich, heißt es welter, gibt es Menschen, die Uberschätzen die Möglichkelten des Verstandes. Aber das sind eben die»Intellektualisten « und für die normale Gedstestätigkeit habe der Engländer die Bezeichnung»Intellektuell«. In Deutsch land aber, so wird geklagt, ist mangels Differenzierung jeder InteUektuelle der Gefahr ausgesetzt, ein Aergernis zu sein. »Das bat leider dazu geführt, daß — der Sicherheit halber— alle Intellektuellen zur Zeit in einen unangenehmen Ruf gekommen sind. Das tut uns Deutschen auf die Dauer nicht gut« Eine sehr interessante Erkenntnis! Ob der Verfasser dieses Artikels an die SA-Methoden in den Konzentrationslagern gedacht hat, als er schrieb:»So wenig man die Kraft verachten wird, well sie mißbraucht werden kann«, ist nicht klar ersichtlich, aber aus der Portsetzung dieses Satzes könnte man das entnehmen. Denn sie lautet:»... so wenig sollte man den Intellektuellen schmähen, weil es einen Mißbrauch geistiger Fähigkeiten gibt« Die die Kraft mißbrauchen, sind nämlich— gerade darum! — genau dieselben, die ihren Mangel an geistigen Fähigkeiten dadurch erträgüch tna- Au f er stehung
Ausgabe
3 (31.3.1935) 94
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