\r. 101 SONNTAG, 19. Mal 193S 60$ialfomograKfcfog SPocfrgiMoÄ Verlag: Karlsbad , HausGraphia" Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite Aus dem Inhalt; Die Yertrauensratswahlen Internationale und Kriegsgefahr Ein großer Emigrant Blamierte Menschenräuber Hitler verstirkt die ROfliM Innere Kämpfe Im braunen System Es wird Immer dentlicher, daß die Nichtveröffentlichimg des deutschen Etats, an sich eine vielsagende Tatsache, nicht nur auf den Grund zurückzuführen ist, daß man In- und Ausland die genaue Höhe der Milliardenausgaben für die Rüstungen verheimlichen will, sondern auch darauf, daß die Diktatoren miteinander über die Gestaltung des Budgets und die Fi­nanzierung nicht einig werden kön­nen. Schweizer Zeitungen berichteten kürz­lich, daß der bisher so gefügige Beichs- finanzminister Schwerin-Krosigk dem Hitler erklärt hat, die durch das Ar- beitsbeschaffungsprogramra(lies;- stungsprogramm) heraufbeschworene Fi­nanzkalamität nehme derart zu, d a ß er die Verantwortung dafür je länger je weniger tragen könne. Die Reichsbank drohe unter der Last der zu diskontierenden Arbeitsbeschaf­fungswechsel zu ersticken. Die letztere Tatsache ist sicher richtig. Von den zirka 3% Milliarden Wechsel, die sich im Portefeuille der Reichsbank befin­den, sind heute kaum mehr 300 400 Mil­lionen echte Handelswechsel, der Rest be­steht aus Arbeitsbeschaffungs- und son­stigen Finanzwechseln. Soweit gute Han­delsbeziehungen in Zirkulation sind, be­halten sie die Banken selbst und geben die Arbeitsbeschaffungswechsel der Reichs­bank, die damit immer mehr jede wirkliche Kontrolle über den Geldmarkt verliert. Dabei ist es wesentlich, daß diese rie­sige Kreditausweitung nicht, wie es nach der(falschen) Theorie ihrer Befürworter der Fall sein sollte, zur Ankurbelung der Privatwirtschaft und zur Ueberwindung der Krise führt, sondern überall, z. B. in den Vereinigten Staaten ebenso wie in Deutschland zur Ingangsetzung einer»Staatskonjunktur« die durch die inflatorisch finanzierten Auf­träge ausgelöst wird, die aber sofort zu­sammenzufallen droht, sobald die Kredit­ausweitung aufhört. So entsteht eine ge­radezu gegensätzliche Entwick­lung zwischen Staatskonjunk­tur und Konjunktur der priva­ten Wirtschaft. Die»Frankfurter Zeitung « schilderte das kürzüch ganz rich­tig: »Gewiß sind In der Privatwirtschaft er­hebliche»Sekundärwirkungen« der staatlichen Anregung festzustellen, aber Er­weiterungen und Neuin veatitionen scheinen dabei ziemlich gering zu sein, wenn man von den durch die Rohstoffknappheit hervorge­rufenen Bauten(namentlich Benzin und Faserstoffe) absieht die Aufwendungen hierfür dürften vorläufig über einige we­nige 100 Mill. nicht hinausgehen. Sie sind es auch dort, wo eine nahezu vollstän­dige Kapazitätsausnutzimg gegeben ist, offen­bar weil diese Industrien einen großen Teil der Aufträge für mehr oder weniger einmalig ansehen. Der überwiegende Teil der Industrie nimmt wohl kaum Ka­pazitätserweiterungen vor, sondern nur Ersatzbeschaffungen für Ma­schinen usw., die z. T. laufend erfolgen, z.T. wohl auch Nachhol ungsbedarf aus der Krise darstellen. Es kann kein Zweifel sein, daß die im Gang befindliche Neuverteilungder Exportlasten, über die noch zu sprechen sein wird, diese relative Zurückhaltung der Privatwirt­schaft zunächst noch verstärken muß. Daß diese Zurückhaltung besteht, zeigt sich . deutlich auch im Spiegel der Bankbilan­zen. Diese lassen nach wie vor ein U e b e r- wiegen der Schuldrückzahlun­gen erkennen bei gleichzeitigem Ansteigen der Wirtschaftseinlagen, ein Zeichen dafür, daß die Industrie die aus der Verkleinerung der Vorräte und der Erhöhung der Gewinne eingehenden Mittel nicht völlig zu Lagerergänzungen und Anlage- investitionen verwendet. Infolgedessen macht bei den Banken die Verflüssigung noch immer Fortschritte und befähigt sie damit, in wachsendem Umfange mittelbare und un­mittelbare Staatspapiere zu erwerben, also zur Finanzierung der»Staatskonjunktur« beizutragen.« Aber auch die»Frankfurter Zeitung « versteht und spricht es sogar offen aus, daß die immer weitere Finanzierung der Produktion von Munition, Kanonen, Tanks, Schlachtschiffe usw. allein durch den Notenbankkredit nicht in alle Ewigkeit fortgehen kann. Aber das ist eben das Dilemma: wird die bisherige Finanzierung ge­stoppt, dann bedeutet das Einschrän­kung der Rüstungen und rasch steigende Arbeitslosigkeit; wird sie fortgesetzt, wird der Notenbankkredit immer mehr ausgeweitet, so wird einmal die Bob­stoffknappheit vermehrt, zweitens die offene Inflation immer unvermeidlicher. Dies wollen Schacht und Kro­sigk vermeiden, scheinen aber in diesem Konflikt mit den nationalsoziali­stischen Arbeitsbeschaffern, der Reichswehr und den Rüstungs­industriellen unterlegen zu sein. Zwar hat Schacht alles versucht, um Hit­ler für seine Auffassung Verlang­samung der Arbeitsbeschaffungsfinanzie­rung, also des Rüstungstempos, wofür auch der Außenminister Neurath aus Furcht vor der zunehmenden Isolierung Deutschlands eintritt zu gewinnen. Kürzlich schifften sich Hitler und Schacht am frühen Morgen in Bremerhaven auf einen Dampfer des Norddeutschen Lloyd ein und die ohne Zeugen geführte Unter­haltung dauerte bis in die Nacht hinein. Schacht wies wieder einmal auf das»ge­fährliche Treiben gewisser nationalsozia­listischer Unterführer« hin und schilderte das Anwachsen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ziemlich ungeschminkt. Aber offenbar ohne Erfolg. Denn Schwerin-Krosigk ist in einem Krankheitsarlaub, er soll einen Nervenzusammenbruch er­litten haben und man bezweifelte, daß er aus seinem Urlaub so bald nach Berlin zurückkehren wird, Man glaubte an seine bevorstehende Demission und nannte bereits den Nach­folger den preußischen Finanzminister P o p i t z. Der frühere Staatssekretär des Demokraten Reinhold und des Marxi­sten Hilferding ist aber eine weit weniger fügsame Natur als Krosigk und hat wohl kaum vergessen, daß er seinen Sturz als Staatssekretär Herrn Schacht zu verdanken hatte. Er steht in seinen Anschauungen dem Leiter des Konjunkturinstituts nahe, und Wage­mann gehört zu den entschiedensten Verfechtern der Konjunkturausweitung... Zwar ist Schwerin-Krosigk inzwischen wieder in seinem Amt aufgetaucht un­ter sanftem Zwang, aber die sachliche Spannung bleibt, Jedenfalls weiß die ausländische Presse zu berichten, daß Hitler sich gegen Schacht und Krosigk auf die Seite von Görin g, Blomberg und den»Gene­ralrat der Wirtschaft« gestellt hat, in dem die Führer der Rüstungs­industrie sitzen, die Krupp und Thyssen, Diehm und Vogler. Das R U s t n n gs t e m p o soll nicht vermindert, sondern gesteigert werden. Die Diktatur will es! Schacht wird nichts übrig blei­ben, will er nicht Krosigk in die Wüste folgen und das ist dem Ehrgeizigen ein unvorstellbarer Gedanke als wider besseres Wissen auf dem bisheri­gen Weg der inflatorischen Finanzierung weiter zu schreiten. Vorläufig sucht er noch, sich zu weh­ren. Er hat seinem D r e y s e einen neuen Vorstoß anbefohlen, während er sich selbst allerdings in vorsichtiges Schweigen hüllt. Der Vizepräsident der Reichsbank stößt einen neuen Alarmruf aus. Bisher sei die Vorfinanzierung mit kurzfristigem Kredit erfolgt »Daß aber hier nicht Hemmungs­losigkeit die Parole sein kann, weiß nicht nur die Reichsbank, sondern ebenso die Reichsregierung. Beide wissen auch, daß Rüstungen nichts nützen, deren Herstellung ihrem Träger keine Kraft mehr läßt, die um den Preis des finanziellen Zusammenbruchs geschaffenen Waffen zu führen und zu erhalt en.« In so scharfer Weise, mit so drohen­dem Unterton ist bisher noch nie die Ge­fahr der»Hemmungslosigkeit« betont, noch nie in so direkter Weise gegen Um­fang und Tempo der Rüstungsvermehrung Stellung genommen worden. Die für das nationalsozialistische Regime so unge­wöhnlich deutliche Sprache kennzeichnet die Tiefe und Schärfe des Konfliktes. Schacht wird freilich alles daran setzen, Auswege zu suchen, die ihm einer­seits seine Stellung erhalten und anderer­seits die drohende Katastrophe hinaus­schieben. Daher die Versuche, die kurz­fristigen Kredite durch langfristige Anleihen zu fundieren. Wie er vor einiger Zeit die Sparkassen gezwungen hat, eine halbe Milliarde Anleihe zu über­nehmen, so verhandelt er seit Wochen mit den Versicherungsanstalten, um ihnen eine Anleihe von 750 Millionen auf­zuhängen. Aber ob der Versuch nun ge­lingt oder nicht, am Wesen der Sache wird nicht das geringste geändert. Spar­kassen, Banken, Versicherungsanstalten usw. waren ja ohnehin schon gezwungen, einen großen Teil ihrer Mittel in den»Ar­beitsbeschaffungswechseln« oder in sonsti­gen Staatspapieren anzulegen. Daß der Das rote Berlin Im Kampf 234 Jahre Zudithaus und Gefängnis gegen Berliner Sozialdemokraten Die illegalen Kämpfer gegen die Hit­lerdiktatur können nicht öffentlich über den Umfang und den Erfolg ihrer Arbeit berichten. Im Dunkel der Verschwiegen­heit und unter der stärksten Sicherung jedes Mitarbeiters gegen Verrat oder Leichtfertigkeit müssen die Ideen der Freiheit und des Rechts im Volke verbrei­tet und gestärkt werden. Keine Zeitimg, kein öffentlich geschriebenes und gespro­chenes Wort gibt Kunde von dem beispiel­los mutigen und zähen, aber auch gefahr­vollen und opferreichen Kampf, den die besten TeUe des deutschen Volkes nun schon seit zwei Jahren mit unverminder­ter Energie gegen den Barbarismus der Hitlerdiktatur führen. Vor uns liegt eine Liste von mehr als 100 Groß-Berliner Sozialdemokraten; Män­ner und Frauen, junge und alte, Arbeiter und Intellektuelle, Name an Name, und jeder einzelne dieser Liste sitzt heute hin­ter den Kerkermauern des Dritten Reiches . Sie waren alle des gleichen Verbrechens angeklagt, sie alle wurden für»schuldig« befunden; denn sie warben im Reich des »Volkskanzlers« Hitler für die Ideen der Freiheit und des Sozialismus. Unsere Liste ist sicher nicht vollständig; aber sie spricht Bände für die Lebenskraft des so­zialdemokratischen Berlins und für die Schreckensherrschaft seiner heutigen Herr­scher. Unsere Liste enthält die Namen von 107 Sozialdemokraten, die seit Mai 1934 wegen illegaler sozialdemokratischer Ar­beit verurteilt wurden. Gegen diese Män­ner and Frauen verhängte die Justiz des Dritten Reiches nicht weniger als 114 Jahre und 3 Monate Zuchthaus und 119 Jahre und 9 Monate Gefängnis. Mit 234 Jahren Freiheitsstrafe glaub­ten die Richter von Hitlers Gnaden das »Verbrechen« dieser 107 Männer und FVauen aus einer einzigen deutschen Stadt sühnen zu müssen, damit der Bestand des tausendjährigen Reiches nicht gefährdet wird. Diese Liste Berliner Sozialdemokraten ist eine E h r e n I i s t e. In das heiße Mit­gefühl mit den Opfern der Hitlerjustiz mischt sich der Stolz auf diese Männer und Frauen und auf die Bewegung, für die sie in den Kerker gingen. Die Beerdigung Husemanns 2000 Teilnehmer. Verhaftungen. Die Ueberführung des Genossen Ha­semanns vom Polizeigefängnis in Bochum nach Papenburg erfolgte angeblich am 11. April 1935. Am 14. April erhielt Frau Ku- semann durch einen Polizeibeamten die Nachricht, daß ihr Mann auf der Flucht er­schossen worden sei. Am Tage der Beisetzung auf dem Friedhof in Bochum wurde ein Kranz mit roter Schleife niedergelegt, wel­cher die Aufschrift trug:»Von Deinen Freunden gewidmet«. Ungefähr 2000 Menschen nahmen an der Beisetzung teil. Die Gestapo aller umliegenden Städte war dort vertreten, um die Teilnehmer zu mustern. So wollte jede Ortspolizei die Teilnehmer ans ihrem Ort kennen lernen. Beim Verlassen des Friedhofs wurden 8 Genossen, darunter mehrere aus der frü­heren Hauptverwaltung des Bergarbeiter­verbandes, verhaftet. Sie wurden für die eindrucksvolle Trauerkundgebnng und Trauerfeier verantwortlich gemacht.