Nr. 101 BEILAGE
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Heuer Vorwärts
rudell 19. Mai 1935
Er ist der große Dichter eines großen streich des 2. Dezember 1851, der die Ge- lers versteckt halten; am 11. Dezember ihn, daß die gleichgeschaltete< Pariser Volkes. Wie groß darüber zu orakeln, walt über Frankreich einem halben verließ er Paris und entkam nach Brüssel . Presse ihn einen elenden Landesverräter kommt auf Stäubchensieberei heraus. Jede Dutzend frecher und trüber Abenteurer in Im Exil war Victor Hugo sich bewußt, schimpfte, weil er der mexikanischen ReNation hat ihren eigenen Maßstab literari- die Hände spielte. Victor Hugo war ge- daß er im moralischen Sinn eine europäi- publik, gegen die» Napoleon der Kleine< scher Größe, und wenn sehr begeisterte willt, alles an alles zu setzen, diese sche Großmacht darstelle, und vom ersten einen ruchlosen Krieg führte, seine guten Wünsche entbot, den unerbittlichen
An das Volk.
von dem, was sich heute in der Literatur an den Mauern erschienen: aufplustert, längst vergessen ist, noch die » Oden und Balladen«, die» Herbstblätter<<, >> Die Betrachtungen« und» Die Kunst, Großvater zu sein« Menschenherzen in Freud und Leid bewegen; immer wieder werden Romane wie» Die Elenden « ,,, Die Arbeiter des Meeres « und» Der lachende Mann dankbare Leser finden, und mögen Dramen wie» Cromwell«,» Hernani « und > Ruy Blas << nur mehr wenig gespielt werden, so bedeuten sie doch einen sehr wichtigen Einschnitt in der Geschichte der französischen Bühne.
Er
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Augenblick an entschlossen, das Gewicht
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als Goethe und Shakespeare , bleibt es Bänden Prosa und Poesie, die er hinter seines Namens gegen den gekrönten Ban- Scheidestrich ziehend zwischen Frankreich nationalsozialistisch verbohrten Oberleh- ließ, sind vielleicht das Erhabenste die diten in die Waagschale zu werfen. Im und dem System, das es vergewaltigte. rern überlassen, darüber die Nase zu wenigen Zeilen, die er im Fieber jener De- ersten Jahr noch erschien sein» Napoleon > Es gibt zwei Trikoloren, die der Republik rümpfen. Jedenfalls werden, wenn vieles zembertage entwarf und die bald im Druck der Kleine<<, ein Buch, nein, ein glühendes und die des Kaiserreiches. Diese, nicht jene ist es, die sich gegen euch erhebt.<< Eisen, das dem Dezembermann das verdiente Brandmal des Galeerensträflings Von all den Unbilden des Exils blieben auf die Schulter preßte. Ein noch gewalti- Victor Hugo die wenigsten erspart. Heimhat die Verfassung verletzt. Er ist mein- geres Strafgericht brach über den Schä- weh nagte an seinem Herzen. Seine Frau cher in den Tuilerien mit Hugos Gedicht- starb in der Verbannung, und da sie in eidig geworden. Er steht außerhalb des sammlung» Les Châtiments<,> Die Züch- französischer Erde bestattet, ward, konnte Gesetzes. tigungen, schlagender» Die Geißelhiebe«, er sie nicht einmal zu Grabe geleiten. Die herein. Wie hier der eidbrüchige Gewalt- Rechtlosigkeit des Geächteten im fremden täter samt seinen feilen Kreaturen Lande erfuhr auch er. Napoleon III. war stäupt wurde, war unerhört durch die Ge- eine Macht, und daß» dieses Individuum<<, walt des Dichterwortes, die Kühnheit des wie im englischen Unterhaus Hugo geTons und die Leidenschaft des verletzten nannt wurde, es wagte, gegen diese Macht Rechtsempfindens: schonungslos anzugehen, fiel den Regierungen auf die Nerven. So wies ihn Bel gien aus, wo er zuerst eine Zuflucht gesucht hatte, und vier Jahre später mußte er auch die britische Insel Jersey, wo er unerwünscht war, gegen das benachbarte nur ein Eiland Guernsey vertauschen; EngSturm der öffentlichen Meinung in land verhinderte, daß man ihn zwang, auch dieses Asyl zu verlassen. Schlimmer war,
ein Unter
Als Victor Hugo , am 22. Mai 1885 gestorben war, rüstete ihm die Nation ein Leichenbegängnis, wie es kaum je Kaiser oder König gehabt hatte, dem Triumphbogen wurde der tote Dichter aufgebahrt, und Hunderttausende und wieder Hunderttausende füllten die Plätze
Die republikanischen Abgeordneten innern Volk und Heer an die Artikel 68 die und 110:» Die Konstituante vertraut Verfassung und die Rechte, die sie verbürgt, dem Schutz und dem Patriotismus aller Franzosen an.<<
Das Volk, das, jetzt und immerdar im Besitz des allgemeinen Stimmrechts, keines Prinzen bedarf, der es ihm zurückgäbe, wird den Meuterer zu züchtigen wissen. Tue das Volk seine Pflicht! Die republikanischen Abgeordneten marschieren an seiner Spitze.
Kurt Doberer:
O weint, die Freiheit ward erschlagen, Ein Dolchstoẞ hat sie umgebracht. Doch jetzt ist keine Zeit zum Klagen, Der Bräutigam steigt in den Wagen, Der Cäsar feiert Hochzeitsnacht. Singt Brautgesänge, ihr Kamönen, Dem Mörder, der um Frankreich freit... Laẞt heut von Notre- Dame die Totenglocke tönen,
Morgen dräut Sturmgeläut!
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und säumten die Straßen, durch die, dem Gezeichnet: Victor Hugo letzten Wunsch des Poeten entsprechend, dern. Der Dichter fehlte auch keineswegs Fast jede Zeile des Bandes ist, auf einen was ihm der Wind aus dem Vaterland zuder Armenleichenwagen den Sarg führte. dort, wo die Barrikaden aus dem Boden anderen Vergewaltiger eines großen Vol- trug; der Siegestaumel der anrüchigsten Aber Victor Hugo brauchte nicht den Tod wuchsen und die Kugeln pfiffen, aber da kes bezogen, heute mit neuem Leben er- Elemente, die Plebiszite eines verstummabzuwarten, um zur Sonnenhöhe des Massen für eine Republik , die sich selbst füllt. Aber auch fürder ließ der Dichter ten und verdummten Volkes, die WürdeRuhms emporzusteigen. Schon zu den entwürdigt und aufgegeben hatte, nicht von hundert Gelegenheiten nicht eine vor- losigkeiten und Speichelleckereien Füßen des Jünglings, der die Welt durch auf die Beine zu bringen waren, mußte er über, den Schinderhannes, der den Cäsar Ueberläufer. die Vollendung seiner Strophen über- sich vor den Häschern des Staatsstreich- spielen wollte, zu treffen; was kümmerte raschte und entzückte, schichteten sich die Lorbeerkränze; mit neununddreißig Jahren zog er in die Akademie ein, die sich sonst nur Greisen öffnet, und bald danach wurde er um seiner literarischen Verdienste willen in die Pairskammer berufen. In den letzten anderthalb Jahrzehnten seines Erdenganges gar wurde er nicht wie ein Monarch, sondern wie ein Gott gefeiert. War er wirklich, wie man ihm nachsagte, eitel, so konnte der Weihrauch, der tagtäglich vor seinem Bild aufwirbelte, auch der ausschweifendsten Eitelkeit genügen.
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Dennoch bildet den Höhepunkt dieses langen, an Erfolgen und Ehren fast überreichen Lebens die Periode, da der soviel Gefeierte ein Geächteter war: die fast zwanzig Jahre, die Victor Hugo fern der Heimat verbrachte, ein politischer Flüchtling unter politischen Flüchtlingen, ein großer, ein unsterblicher Emigrant. Dem Poeten, der sich von der Nation absperrt und in seinem Elfenbeinturm einschließt, hatte er nie gleichen wollen; er fühlte sich, ein politisches Temperament, berufen, mit der weithin tönenden Stimme seiner Poesie zu den Massen und für die Massen zu sprechen. Aber fanden seine ersten Gedichte, ehe er den Bann seiner Erziehung abschüttelte, den Beifall der Royalisten und Katholiken, und stimmte darnach seine Harfe zum Preis des ersten Napoleon, so hatte er doch schon früh einen Nerv für das soziale Elend und den Kampf gegen die Barbarei der Todesstrafe nahm er auf, als er noch im Lager der Rechten zu stehen schien. Die Julirevolution von 1830, mit der das Volk in Bluse und Hemdärmeln wieder als aktiver Faktor in die Weltgeschichte eintrat, gab ihm einen inneren Ruck; langsam entwickelte er sich unter dem Königtum Ludwig Philipps zur Linken und bekannte sich freudig als Republikaner, nicht als die Februarrepublik von 1848 Aemter und Würden zu vergeben hatte, sondern als sie von den Reaktionären bespuckt, unterhöhlt und bedroht wurde. In die Kammer von 1849 wurde er noch als sozusagen Konservativer gewählt und ließ sich sogar für die Präsidentschaftskandidatur Louis Bonapartes einfangen, da er von ihm Einlösung seiner Sozialen Versprechungen erhoffte. Aber als er mit bitterer Enttäuschung gewahrte, daß nichts als ein kleiner und schäbiger Despot ins Elysée eingezogen war, erhob er sich im Parlament wie ein Löwe zur Verteidigung der republikanischen Freiheiten. Dann kam der Staats
zürnender
Legende
So starb er, wird er sterben, starb er schon.
Der Sand, der Sanduhr Ewigkeit, zeigt die Jahrzehnte gleich. ist keine Zeit. Der Tag ist nicht
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So bricht, so brach er und mit ihm sein Reich.
Zuerst sah es ein Henkersknecht, der kannte Farb und Zeichen gut.
Doch tat er so, als säh er schlecht
und schwieg. Man spricht nicht gern von Blut.
So ging der Cäsar, König, Führer, Herr,
noch seinen Weg und war schon tot und wußt es selbst nicht, ging, aẞ, schlief, nur eben was der Henker sah sein Schatten war schon rot.
Grau war er nicht, nicht schwarz, nicht ohne Licht, nicht Nacht. Und immer, wenn ein Opfer fiel, dann trank der Schatten neue Macht.
Und niemand sah es, bis zum Tag, da er vor allem Volk in einem Mai die Sonne und die Freiheit höhnen ging, da war er tot und glaubte, daß er lebend sei. Groß fiel sein Schatten hin vor allem Volk, und alle sahen, daß er blutig war. Das war der Tag, die Zeit war reif und von Erfüllung schwer in diesem Jahr.
Blut zog der Schatten aus der braunen Erde. Millionen Augen sahen es und klagten an.
திளச
Er zitterte, als er die Hand hob, schlecht war die Gebärde, und dreht sich um, blickt auf den Weg, auf dem er kam.
Und niemand weiß, warum er strauchelte und sank.
Er wankte, fiel, fiel aufs Gesicht.
Ob Blei ihn traf, ob Stahl ihn stach, ob Gift ihn brach Er sank. Wann und warum, man weiß es nicht.
Er fiel. Fiel in den eignen Schatten, fiel in ein Meer, in warmes Blut.
Sein fauler Atem blies die frische Erde an und brodelnd schäumte sie zu Lava und zu Glut.
Voll Ekel wich ein Stück der Stein zurück, als er zerschmelzend aus dem Erdleib drang. Er wich zurück und kochte auf, voll Haß und Zorn und sprang den Hingefallnen an.
Sein Maul ward voll von aller Toten Blut. Ihm graute, wie so sehr sein Atem stank. Er wandte von sich selbst sich sterbend ab und stöhnte und ertrank.
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Auch mancher, von dem man anderes erwartet hätte, wurde schwach und machte seinen Frieden mit den Machthabern des Tages, Victor Hugo nicht. Dabei hätte man ihm goldene Brücken gebaut; der Bonaparte war gescheit genug, zu wissen, welch ein moralisches Kapital für ihn der Gewinn des Nationaldichters bedeutet hätte. Aber Hugo kannte keine vollendeten Tatsachen, er kannte nur das Recht, und über die Amnestien, Köder, ausgeworfen, gerade die berühmtesten Flüchtlinge zurückzulocken, blickte er verächtlich hinweg. Er hatte sich zugeschworen, bei denen auszuharren, die ihren Idealen Treue wahrten bis zuletzt:
Sind's tausend nur, mich wird man drunter sehn,
Sind's hundert nur, ich trotz dem falschen Cäsar: Nein!
Ich bin der zehnte, bleiben nur noch zehn, Und bleibt ein einz'ger, werde ich der eine sein!
Aufrecht erhielt ihn auch in der Periode, da er schmerzlich feststellte» Nacht über Europa , der unerschütterliche, der fast religiöse Glaube an die Demokratie, an den Sieg der demokratischen und sozialen Re publik , an den Triumph der Freiheit und Menschlichkeit trotz allem erspähte er I am Horizont den ersten zagen Lichtschein, der den Anbruch eines neuen Weltentags, der Vereinigten Staaten von Europa , ankündigte. Und zu einem guten Teil wenigstens ließ ihn sein Glaube nicht zuschanden werden: der 4. September 1870 kam, der die historischen Rollen vertauschte. Da das Kaiserreich zerschmettert am Boden lag, kehrte der Dichter umjubelt und bekränzt ins Vaterland zurück, und sein erledigter Gegenspieler ging nach England in die Verbannung, nur daß sie ehrloser und unwiderruflicher war. Der eine, im Glanz der Krone und des Throns, hatte alles für sich gehabt, eine Armee von Soldaten, eine Armee von Gendarmen, eine Armee von Spitzeln, den gesamten Staatsapparat vom Präsidenten des Obersten Gerichtshofes bis zum Feldhüter des letzten Dorfes, Flinten zum Töten, Gold zum Beastechen, Zeitungen zum Belügen, und der andere, der Emigrant, hatte nur die Macht und der Idee und die Wucht des Wortes war Sieger geblieben.
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