Verlag; Karlsbad, Haus„Graphia"— Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte SeiteHitler bewaffnet Ungarn.;Auf den Spuren von 1914Nr. 121SONNTAG, 6. Okt. 1935<5o£la(d*m9lrattfd)?* ittodKnWa#Aus dem Inhalt:Karl Kautsky:Sozialdemokratie und KriegRichard Kern:Ausbau der KriegswirtschaftStreicher macht AußenpolitikTodesstrafe in den JudengesetjenDer europäische Hauptfeind heißt Hitler. Er bedroht den Frieden und die Landkarte. Er ist das Hindernis, das einer Lösung der wirtschaftspolitischen Verkrampfung Europas im Wege steht. Er steht amAnfang des neuen Wettrüstens, er ist derstärkste Treiber der Rüstungsschraube.Seine Macht ist größer als die Macht Mussolinis. Das Tempo seiner Kriegsvorbereitungen ist um ein vielfaches rascher, seineMacht- und Eroberungsansprüche weitgreifender und gefährlicher noch als die desitalienischen Diktators.Die Mächte, die sich jetzt gegen denKriegstreiber Mussoüni zusammenschließen, haben den Kriegstreiber Hitler großwerden lassen. Sie haben heute den Konflikt im Mittelmeer, sie müssen morgenden Konflikt in Mittel- und Osteuropafürchten. Eine verhängnisvolle geschichtliche Kette von Ursache und Schuld gehtvon ihrer Lauheit gegen die Anfänge desfaschistischen Verbrechens bis zu der heutigen Zerreißung Europas in zwei Lager.Der feste Zusammenschluß auf klaren Linien, den sie heute eingehen, wäre einsteine Garantie des Friedens, der ruhigenEntwicklung und Entwirrung, eine Voraussetzung nicht nur der militärischen,sondern auch der wirtschaftlichen Abrüstung gewesen. Heute birgt er die Gefahrin sich, daß eine kriegerische ExplosionEuropa wieder in zwei Lager zerreißt, diein einem irrsinnigen Krieg bis zur Erschöpfung miteinander ringen könnten. Soernsthaft das englisch-französische Einvernehmen jeden der faschistischen Unruhestifter bedroht, so kann es nicht mehrungeschehen machen, daß diese Unruhestifter und ihre Trabanten heute ungleichstärker sind als noch vor einem Jahre unddaß sie sich ihrer Macht bewußt sind.Die Wiederbelebung des Völkerbundesauf der Grundlage des neuen französisch-englischen Bündnisses treibt die Blockbildung der Diktatoren vorwärts. Es warG ö m b ö s, der die politischen Ziele dereuropäischen Diktatoren enthüllt hat. Erhat im Frühjahr in einer Rede gegen dasfranzösisch-russische Abkommen alle Hintergedanken der Politik Hitlers und seinerTrabanten ausgesprochen: eine Verteidigungslinie Berlin-War-schau- W i e n- Budapest-Rommüsse und werde entstehen. Dieser Repräsentant des korrupten ungarischen Nationalismus, dieser BewundererHitlers hat mit einer Gewissenlosigkeit,die in umgekehrtem Verhältnis zu seinereigenen Macht steht, laut und öffentlichausgesprochen, worüber die Hitler, Göringund Ribbentrop im geheimen verhandeln.Wer historische Parallelen liebt, kann heute angAn: die Diktatoren und die politischen Scharlatane wollen die Front von1914 wieder aufbauen— Block der Mittelmächte gegen die Westmächte— nurdaß sie diesmal hoffen, daß auch Italienunter der Führung Mussolinis, der ihnenart- und wesensverwandt ist, am Ende aufder Seite der Diktaturen, der Revisionistenund Expansionisten stehen werde. Auchhier, nicht nur in Abessinien und im Mittelmeer, wird auf lange Sicht ein Kriegsverbrechen vorbereitet, und der Treiberdieser Vorbereitungen ist Hitler. Er benutzt den Konflikt des Völkerbundes mitMussolini, um seine eigene Bündnispolitikund Machtsammlung zu fördern.• Schon vor Monaten sind die deutschitalienischen Beziehungen verdächtig geworden, als Göring auf dem Balkan umherreiste und überall erzählte, daß einedeutsch-italienische Entspannung bevorstehe, die durch nahe Ereignisse von großer Tragweite bezeichnet werden würde.Sie sind noch verdächtiger geworden, alsMussolini eine demonstrative Geste inBerlin unternahm, und sie sind heute ganzbesonders verdächtig, da G ö m b ö s, einstder Vasall Mussolinis, von ihm nicht nurpolitisch, sondern auch durch Waffenlieferungen unterstützt, in Berlin mit HitlerVerhandlungen führt, über deren politischen und militärischen Sinn gar keinZweifel besteht. Die Brandstifter und ihreTrabanten waren beisammen; die deutschen Diktatoren und die polnischen undihr ungarischer Nacheiferer. Es war eineDemonstration gegen das neue französisch-englische Einvernehmen, eine Einladungfür Mussolini, sich dem Brandstifterbundanzuschließen, wenn seine imperialistischenPläne ins Wasser fallen, die auf dieSchwäche des Völkerbundes, auf die Verlegenheiten Frankreichs und seiner Vcr-Es schien vielen so, als habe auf dem»Parteitag« in Nürnberg der»Radikalismus« gesiegt und Hitler sich in dieReihen seiner»Alten Kämpfer« geflüchtet. Manche freilich meinten, das seialles nur Theater für das großePublikum gewesen. Hitler sei mit HjalmarSchacht ein Herz und eine Seele in demZiele, das Reichsschiff in ruhige konservative Wasser zu lenken. Wieder andereaber philosophieren, nun seien SchachtsTage gezählt, und der zinsbrechende Programmatiker Feder werde auf das raffendeKapital losgelassen. In Wahrheit dürfte esin Nürnberg bei dem Durcheinander undGegeneinander geblieben sein, das bei allerorganisatorischen Geschlossenheit schonimmer das innere Wesen des nationalsozialistischen Führerprinzips gewesen ist undbei seiner vollendeten Grundsatz- undRichtungslosigkeit außerhalb der reinenMilitärpolitik auch bleiben muß.Wenn unmittelbar nach dem Parteitagschon wieder eine Führerbesprechimg nachMünchen einberufen werden mußte, so istdas Beweis genug, daß die großen Sprüchevon Nürnberg nicht eine einzige der inneren Schwierigkeiten auch nur für Tage beheben konnten.Das plötzliche Aufspringen Hitlers nachdem Schlüsse der Reichstagssitzung zuhündeten gegenüber den Hitlertr eibereienin Mittel- und Osteuropa berechnet waren.Die Umrisse eines von ihnen erhofften politischen Systems sind sichtbar geworden,das dem Völkerbund entgegengestellt werden soll.Der Cäsarenwahn Mussolinis hat demCäsarenwahn Hitlers eine neue Chanceverschafft. Wenn Mussolini, einst einerder wildesten Treiber zum Krieg gegen dieMittelmächte, heute entgegen aller politischen Tradition Italiens sich gegen England erklärt und die Neigung erkennenläßt, noch einmal im Jahre 1915 anzufangen, diesmal aber die Dreibundvariante deritalienischen Politik durchzuspielen, dannwächst der Uebermut der braunen Kriegstreiber ins Ungemessene, dann werden allepolitischen Verhältnisse in Mitteleuropaschankend und ungewiß.Noch ist auch das Spiel der Brandstifter schwankend und ungewiß. Jeder vonihnen ist von vielfachem Risiko umgeben,einer Mahnung an die Diszipün seiner Paladine und die Wiederholung dieses Mahnens durch ein Defilee der Abgeordnetenvor dem»Führer« in der Halle des improvisierten Parlamentsgebäudes offenbaren, wie sehr das deutsche Staatsoberhaupt noch immer fürchtet, daß ihm wichtige Teile der Bewegung aus der Handgleiten könnten. Trotz allem Siegheilgeschrei fehlt es an der einfachsten Autorität. Ein Erlaß des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern gibt zu, daßes der höchsten Spitze der Reichsverwaltung bisher nicht gelungen ist, die Parteikommissare in den Gemeinden überall abzuschaffen. Die Gauleiteroder Kreisleitcr setzen noch immer willkürlich Bürgermeister ab und segnen irgendwelche Parteikreaturen mit der kommissarischen Betrauung solcher Posten gegen entsprechende Bezahlung. Der Minister hat jetzt ein Ultimatum bis zum 10.Oktober gestellt Gleichzeitig aber hieltder Oberbürgermeister Dr. Weidemannaus Halle als stellvertretender Leiter desHauptamtes für Kommunalpolitik, alsoeiner nationalsozialistischen Parteistelle,vor den Kommunalpolitikern in Nürnbergeine Rede, die das genaue Gegenteil derAnordnungen des Ministers, also einerobersten Aufsichtsbehörde sind. Er ver-jeder von ihnen wird Bündnisse ebensoleicht verraten wie er sie schließt. Jedervon ihnen ist ein gefährlicher Spekulant,der nicht nur um den Frieden, sondernauch um die eigene Existenz spielt. Obbei den Besprechungen in Romintcn undBerün aktuelle Angriffspläne der Hitlerdiktatur auf Litauen besprochen wordensind und gegenseitige Unterstützung fürdie damit verbundenen Konsequenzen, obman sich auf eine gemeinsame Front des•Hasses und des Angriffs gegen die Sowjetunion geeinigt hat für den Fall, daßMussolini die Kräfte der Westmächte binden sollte, das steht dahin. Aber eines istsicher: diese Verhandlungen bilden einenwichtigen Markstein in der Aufrüstung der friedensfeindlichen Diktaturen.Als seinerzeit in unbegreiflicher Verblendung unter dem Einfluß Mussolinisin Stresa die Westmächte die Aufrüstungvon Oesterreich, Ungarn und Bulgarien alseinen der Programmspunkte einer kom-Das große DurdielnanderTodesstrafe in den Judengese�enHinter den Kulissen der Nürnberger ReidistagssitgungDie in Nürnberg verkündeten Judenge-aetze bedrohen den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und»Staatsangehörigen deutschen oder artverwandtenBlutes« mit Gefängnis- oder mitZuchthausstrafe. Dabei ist wedereine Mindeststrafe noch eine Höchststrafefestgesetzt. Das ist nicht auf die üblicheLiederlichkeit der braunen GosetzeSmacherelzurückzuführen— vielmehr ist die ünbe-stlmmtheit dieser Strafandrohung die Folgeeines wilden Kuhhandels In letzter Stunde.Die in Nürnberg vorgelegten Gesetzewaren nur einem kleinen Kreis bekannt. Dieursprünglich vorgelegte Fassung kam denStreicherschen Forderungen noch welter entgegen. Sie enthielt die Erfüllung einer altenStreicherschon Idee, da sie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Judenund Nichtjudon mit dem Tode bestrafen wollte! Noch in letzter Stundewurde gegen diesen Irrsinn Einspruch erhoben, und es begann nun ein wildes Verhandeln unter Zeitdruck. Das Ergebnis warjene unbestimmte Strafandrohung, die in der endgültigen Fassung enthalten Ist.Dieser Kuhhandel der letzten Stunde warauch die Ursache davon, daß die Gesetzevom deutschen Rundfunk nicht mit den üblichen Tagesn ach richten um 10 Uhr abendssondern erst gegen Mitternacht mitgeteiltwurden.Achnliches scheint jetzt bei den Aus-tührungsbestimmungen vor sich zu gehen.langt, daß die Staatsstellen sich in derPersonalpolitik den»Parteibeauftragten«in den Gemeinden fügen sollen und kündigteine nochmalige»Auskämraung« der-Staats- und Gemeindeverwaltungen an,»was mancherlei Mißhelligkeiten undSchwierigkeiten aus dem Wege schaffenwürde.«Eine amtliche Kundgebung des Stabschefs der SA, Lutze, muß bekennen, daßes den vereinten Kräften der Reichs- undParteiführung nicht gelungen ist, denWiderstand des»Kösener S. C.«gegen die Einführung des Arierparagraphen zu brechen. Der Zorn des SA-Gewaltigen kann sich nur in einem Befehlentladen, SA-Mitglieder zu entlassen, diesich weigern, aus ihrer Studentenverbindung auszutreten. Es muß also wohl einebeträchtliche Anzahl Korpsstudenten undAltherren geben, die es wagen, der allmächtig scheinenden Diktatur gegenüberaus freiem Entschlüsse zwischen SA undKorps zu wählen, und sie wagten esschwerlich, wenn nicht ihr Einfluß in derBürokratie wieder fühlbar wäre.Die Autorität des Führers hat nichteinmal von Nürnberg bis Würzburg gereicht. Trotz seiner Mahnung zur Disziplinund seines Bannfluches gegen Einzelaktionen ist in der fränkischen Bischofstadt dieSA»spontan« vor die Druckerei des katholischen Kirchenblattes gezogen, weildieses gegen die Sterilisation Stellungnahm. Die Polizei, die des obersten Führers Liebe zur Disziplin in ihrem Sinneauslegte, sperrte nicht etwa die Radaubrüder ein, sondern den Kaplan, der dasKirchenblatt redigiert, und den Direktordes Verlages. Das Gaupresseamt tat nochein übriges. Es erließ eine Kundmachung,die besagt, daß der Nationalsozialismusauf Enzykliken und Hirtenbriefe pfeife.Was dem deutschen Volke diene, bestimmeallem sein Führer. Jeder Katholik habesich auch in der Sterilisierungsfrage alleinan Hitlers Unfehlbarkeit zu halten.Neulich schrieb eine englische Zeitung,in diesem Deutschland sei noch alles möglich. Ganz richtig! Unmöglich ist nur, daßdieser Hitler und sein System sich normalisieren, wie noch immer einige Träumerglauben.c nn