Neuer Vorwärts

Sozialdemokratisches Wochenblatt

Verlag: Karlsbad , Haus Graphia" Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite

Nr. 123 SONNTAG, 20. Okt. 1935

Aus dem Inhalt:

Abkehr vom Nationalsozialismus Deutsche Richter und

deutsches Recht Das Ende der Juden­emanzipation Kriegserfahrungen in Reinsdorf

Völkerbund gegen Faschismus

Die Internationale und die europäische Demokratie

Die Hitlerpropaganda versucht dem die große einigende Kraft gegen den Fa- Die Lähmung der Sozialistischen Ar- Auf ihrer Tagung vom 16. bis 18. Volke einzureden, daß der Austritt schismus. Die Verteidigung des Friedens beiter- Internationale rührte nicht zum we- August in Brüssel gerade in den Tagen, Deutschlands aus dem Völkerbund und gegen die Gewalt ist ihre gemeinsame Po- nigstens mit davon her, daß die französi- in denen die Pariser Dreimächtekonferenz die Isolierung sich zu lohnen anfange, sie litik. Sie ist das Lebenselement des Völ- schen Sozialisten und die englische Labour zusammenbrach hat sie ihre Politik der will aus der großen weltpolitischen Krise kerbundes. Party sich nicht auf der Linie einer ge- vollständigen Beachtung des Völkerbunds­

eine Rechtfertigung ihrer Politik machen. Es ist wahr, daß sie unfähig und ge- meinsamen europäischen Politik zusam- paktes und der Sanktionen festgelegt. Sie Diese Propaganda zieht Nutzen aus Er- lähmt lange der faschistischen Friedens- menfinden konnten. Aber je bedrohlicher hat sie durch die Entschließung der ge­wägungen, wie sie im Lager jener ange- bedrohung zugesehen hat. Es war ein un- sich die Weltlage zugespitzt hat, desto meinsamen Antikriegskonferenz der Sozia­stellt worden sind, die lieber Mussolini natürlicher Zustand, daß der Faschist mehr hat sich die Labour Party von ihrer listischen Arbeiter- Internationale und des freie Hand in Abessinien gelassen hätten, Mussolini als eine der Hauptsäulen einer ursprünglichen Haltung des schematischen Internationalen Gewerkschaftsbundes. als die große Auseinandersetzung herauf- Politik galt, die auf ein in seinem Wesen Pazifismus und der reinen Agitation mit 6. September in Genf energisch weiter­zubeschwören. Aber ist Hitler- Deutschland demokratisches Ziel gerichtet war. Dieser dem Frieden abgekehrt. Die Tatsachen verfolgt. Diese Entschließung wurde durch wirklich der Zuschauer und Nutznießer Zustand ist jetzt beseitigt, und die große haben sie aus den Höhen der reinen Ethik eine Delegation dem Präsidenten des Völ­dieser Krise, dem die Gewinne in den Schoß weltpolitische Krise duldet keine Trägheit auf dem Boden der Realpolitik herunter- kerbundṣrates überreicht und allen Rats­fallen, ohne daß er die Hand danach aus- mehr. Sie hat auch der Verworrenheit und geholt. Diese Umkehr zur Realpolitik hat mitgliedern übermittelt. Die Einheitlich­strecken muß, handelt es sich wirklich um der Lähmung in der Sozialistischen es ermöglicht, daß die Internationale sich keit der Politik der Internationale in der einen Triumph der nationalsozialistischen Arbeiter- Internationale ein zu einer festen und einheitlichen Politik großen weltpolitischen Krise ist damit Außenpolitik? Solche Auffassung ist so Ende gemacht und hat sie als eine der zusammenfand, so daß sie ihre Stimme in festgestellt. Aber mehr noch diese sozia­falsch wie die braune Propaganda. Sie Kräfte der europäischen Demokratie vor der großen weltpolitischen Krise erheben listische Politik der unbedingten Treue übersieht völlig, daß es sich nicht um den eine große Aufgabe gestellt. zur Völkerbundssatzung gibt der Politik Wandel eines Panoramas im diplomati­schen Kampf handelt, sondern um eine geistig- politische Bewegung, um ein Er­wachen der europäischen De­mokratie aus ihrer Trägheit gegenüber dem Faschismus, das nicht nur den einen Mussolini , sondern den Faschismus überhaupt bedroht. Eine zum Kampf entschlossene lebendige Demo­kratie in Europa ist eine bessere Siche­rung gegen den Faschismus als diplomati­sche Eventualkriegserklärungen für den Ernstfall.

In der Rede, die Sir Samuel Hoare am 11. September im Völkerbundsrat hielt, um ein festes Bekenntnis zur Anwendung des Völkerbundspakts führte er

aus:

abzulegen,

-> Die Kraft oder die Schwäche des Völker­bundes wird von der Zahl, der Bedeutung und der Treue der Mitglieder, die ihn zusam­mensetzen, ebenso abhängen, wie von der Unterstützung, die die Regierungen der Mit­gliederstaaten bei ihren eigenen Völkern fin­den werden. Wenn diese nationale Unter­

konnte.

Alkeke vom Nationalsozialismus

Eine vollkommne Entlarvung des braunen Systems

Das braune System hat auch in der gesprochen werden. An dieser Tatsache än- lehnung der nationalsozialistischen( und fron­Schweiz Anhänger gefunden. Die sogenann- dern auch die augenfälligen sogenannten So- tistischen) Verfolgungsmethoden. te>> Nationale Front« übernahm die Ideo- zialmaßnahmen nichts, denn diese erfolgen logie des Nationalsozialismus. Der Gründer

6. Die den christlichen Bekennt­

schen Staat angewandten Vernichtungsme­

der>> Nationalen Front«, Dr. Hans von lediglich im Interesse der Vermehrung und nissen gegenüber vom nationalsozialisti­Wil, ging nach Deutschland . Er ist nach Erhaltung der Staatsallmacht. zwei Jahren völlig ernüchtert zu­rückgekehrt. Die Basler Natio- 3. Das Prinzip» Gemeinnutz geht thoden( ich sage ausdrücklich: Methoden!) nalzeitung erhielt von ihm den folgen- vor Eigennutz« wurde in der national- sind der Träger einer angeblichen Weltan­

den Aufruf: Angesichts der zunehmenden Verschärfung des politischen Kampfes fühle ich mich ver­pflichtet, der schweizerischen Oeffentlichkeit folgende Erklärung abzugeben:

Sozialistischen Praxis

überall ins genaue Gegenteil, dessen verkehrt, was das arbeitende Volk davon erwartet hatte.

schauung unwürdig. Ich habe es unzählige Male erlebt, daß bei religiös- politischen Zwi­schenfällen die Herausforderung stets vom Staate ausging und über­dies noch von, unerzogenen Elementen, denen

stützung stark sein wird, so wird der Völ. Ves Urteil abzugeben über die praktischen erster Linie als» Gemeinnutzen« nach den Moral und über eine Menschenliebe verfügen,

kerbund stark sein. Wenn sie schwach und zögernd ist, so wird die Politik des Völker­

bundes nicht fest und konstant sein können Frontismus!) auf das Leben des Einzelnen teilt; mit dem kläglichen Rest muß das ganze sten Trägern der sogenannten nationalsozia­

Ein zweijähriger Aufenthalt im» Gemeinnutz«< wurde restlos dem gleichge- jeder Sinn für die Verantwortlichkeit ihres nationalsozialistischen Deutschland und zeit- stellt, was der oberschichtigen nationalsozia- Tuns fehlte. Wer eine neue Weltanschauung weise enger Verkehr mit dortigen listischen Herrschaftsgemeinschaft dient. Der mit Erfolg der christlichen zur Seite setzen Behörden gestatten mir, ein objekti- Gesamtertrag der deutschen Arbeit wird in wollte, müßte vor allem über eine praktische Auswirkungen des Nationalsozialismus( und Bedürfnissen und den nicht geringen An- die denjenigen der Christen zum mindesten damit auch eines allfällig verwirklichten sprüchen dieser Herrschaftsgemeinschaft ver- gleichwertig wären. Das ist aber bei den mei­übrige Sechzigmillionenvolk wirtschaften! listischen Weltanschauung in keiner Weise der Fall. 4. Der Kapitalismus und die Zins­

Kurz, die öffentliche Meinung ist für den Völ­kerbund ebenso wichtig wie für jede demo­kratische Regierung.<<

und der Gesamtheit eines Volkes.

1. Das vom Nationalsozialismus aufgestell­te und von seinen ideellen Nachahmern, wozu knechtschaft haben im Dritten Reich Als Gründer der» Nationalen in der Schweiz besonders die>> Nationale nachgerade Formen angenommen, in denen Front<< und des» Eisernen Besen«< Es liegt in diesen Sätzen nicht nur die Front« zu zählen ist, übernommene Tota- ein reiner Kapitalisten staat sein richte ich deshalb an alle ehemaligen und Anerkennung, daß der Völkerbund ein litätsprinzip des Staates führt zu einer Ideal sehen müßte. Zu den privaten heutigen Kameraden, an alle, die gleich mir demokratisches Instrument ist, sondern Kapital- und Zinsherren tritt heute in Entrechtung der Einzelperson, vom Nationalsozialismus und Frontismus auch ein Bekenntnis zur Demokratie. Die Deutschland ergänzend der Staat und bean- etwas besseres erwarteten oder heute noch europäische Demokratie besteht nicht wie sie graduell höchstens in asiatischen sprucht prinzipiell eine Art Obereigentum erwarten, die allein aus den Linksparteien oder aus den Despoten staaten oder in mittelalter­dringende Mahnung: Treibt über den ganzen Privatbesitz und das Ein­Parteien, die sich ausdrücklich demokra- lichen absoluten Monarchien denkbar war. Politik wie ihr wollt, wählt in die Behörden, kommen. Eine» Brechung der Zinsknecht­tisch nennen. Sie durchdringt über Partei­

2. Der seinerzeit von vielen als eine ver- schaft« wird also von der nationalsozialisti. wen ihr wollt, folgt, wem ihr wollt,

historischen Sozialismus

schen( und damit von einer allfälligen>> fron­tistischen<<) Staatsform nicht zu erwarten sein, sondern das Gegenteil.

5. Seit der nationalsozialistische Staat den

aber rennet nicht wie das deutsche Nachbarvolk mit offenen Augen in den Abgrund!

Sozialdemokratie

grenzen hinaus Völker und Regierungen besserte Art des in vielen Ländern mit ihren Grundanschau- begrüßte Nationalsozialismus hat sich in sei­ungen, gleichgültig, welche parteipoliti- ner Praxis als ein System entpuppt, das vom schen oder staatsrechtlichen Ausprägun- Sozialismus täuschenderweise bloß den Na­gen sie gefunden hat, sie ist als Grund- men führt. Die dem national->> sozialistischen<< anschauung bei den englischen Konser- Regime unterworfenen deutschen Arbeitsmen- von ihm ideell bekämpften jüdischen Groß­rücksichtslosen Verfol- Die unsterbliche vativen mit Ausnahme der reinen Faschi- schen stehen heute unter einem geistigen, kapitalisten in der sten ebenso lebendig wie bei den Liberalen seelischen und materiellen Druck, der für gung gesteckter materieller Ziele nach jeder Hinsicht den Rang abgelaufen hat, ist es für oder bei Labour. Sie ringt in Frank- schweizerische Begriffe einfach unvorstellbar einen denkenden Menschen sinn­Die» NSZ- Rheinfront« in Saarbrücken , das reich gegen die Kräfte, die den Völker- ist. Ich wage dabei nicht zu entscheiden, wel­los geworden, gegen jüdischen Parteiblatt der Nazis, meldet, daß der Ge­bund preisgeben wollen um der Freund- che Art der Bedrückung am härtesten auf den Geldimperialismus anzukämp­schaft mit Mussolini willen. Der Kampf Betroffenen lastet! Nationalsozialismus, wie nosse Karl Blatt aus Limbach zu vier Mona­fen. Seit der nationalsozialistische Staat in ten Gefängnis verurteilt worden ist, weil er um eine Politik der festen Zusammenar- er heute in Deutschland herrscht, bedeutet der angeblichen Bekämpfung einzelner jüdi- bekannt hat:» Ich war Sozialdemokrat, bin beit Englands und Frankreichs im Völker­für jeden Erwerbstätigen eine gewal­scher Auswüchse dazu übergegangen ist, für bund ist in Frankreich ein Kampf der De­tige Verschlechterung seiner Stellung jeden Juden prinzipielles Unrecht zu schaf­mokratie gegen jene militaristischen als volkswirtschaft- fen, also die Grundsätze menschlicher Ge- ist einer von Zehntausenden, die in den letz­Machtpolitiker, denen der Völkerbund im- als Einzelmensch wie mer nur Maske für ihre Hegemoniepolitik liche Gruppe. Von einer rechtlich geschütz- rechtigkeit selbst mit den Füßen zu treten, ten Jahren lieber Kerker, Marterungen gewesen ist, und die sich jetzt als treueste ten Stellung des unselbständig Erwerbenden zwingt er sogar denjenigen, dem je von jüdi- und Tod auf sich genommen haben, als ihrer Freunde des italienischen Faschismus ent- kann, soweit die Interessen des überall rück- scher Seite schweres Unrecht widerfuhr, sich Ueberzeugung untreu zu werden oder sie auch der über alles zu stellenden nur zu verleugnen. Die Weltgeschichte lehrt puppen. Der Kampf um die Anwendung sichtslos die Priorität fordernden Staates den- im Namen mit den Juden auf jedem Blatt, daß solche Taten der Treue wirksamer Sanktionen scheidet die Geister. jenigen der Einzelexistenz widerstreiten, im menschlichen Gerechtigkeit Die Demokratie ist als Grundanschauung heutigen Deutschland überhaupt nicht mehr solidarisch zu erklären in der restlosen Ab- früher oder später zum Erfolge geführt haben.

es und werde es bleiben.<<<

Genosse Blatt