Nr. 125 BEILAGE

Ücuccttontiflrfs

5. November 1935

Diktatur der Deklassierten

Konrad Heidens Hitlerbudi

In seinem neuen Buch»Hitler , das Leben eines Diktators«(erschie­nen im Europa-Verlag, Zürich ), erzählt Konrad Heiden auf viereinhalbhun­dert Seiten die Geschichte, wie man Dik­tator von Deutschland wird. Ein zum Men­schen Untauglicher, ein großer Minder­wertiger, wächst durch mancherlei Ver­puppungen und Entfaltungen zum»deut­schen Dämon« empor. Eine Gestalt aus den Nachtasylen Wiens, ein Münchner Bo- hemien, der den Weltkrieg als die Erlö­sung von einem verpfuschten Dasein be­trachtet, ein radau-antisemitischer Wan­derprediger der Münchner Spelunken ver­wandelt sich stufenweise zum bejubelten Versammlungsredner, Liebling der Mas­sen, Parteiführer, Reichskanzler, Reichs­oberhaupt, Ueberkaiser, Gottgesandten, vielleicht selber Gott . Deutschland liegt ihm zu Füßen, indes der Rauch des Reichs­tagsbrandes zum Himmel steigt und das Blut gemordeter Feinde und Freunde in Bächen dahinfließt Heiden entblättert die Legende. Er zeigt uns die geheimen Tricks des großen Taschenspielers, den die unwissende Men­ge als echten Zauberer bewundert. Er schildert ihn zu diesem Zweck ausführ­licher und sorgfältiger, man könnte fast sagen liebevoller als irgend einer seiner Hofbiographen es getan hat Er klettert in die geheimsten Abgründe dieser sonder­baren Menschenseele und beleuchtet sie mit der modernsten Apparatur. Er findet sie»tief zerrissen gegen sich selbst schwach und mißtrauisch« aber triebhaft, von in­neren Stimmen beherrscht Hitler ist so abergläubisch, daß er sogar an sich selber glaubt. Heiden verüert sich jedoch nicht in psychologischen Analysen. Er versucht auch eine Antwort auf die Frage zu fin­den, die uns alle am meisten interessiert, die Frage, wie eine so geartete Persönlich­keit sich zum unbeschränkten Beherrscher des deutschen Volkes aufwerfen konnte. Heidens Antwort lautet: Hitler ist ein Deklassierter und Repräsentant der Deklas­sierten aller Klassen. Die Männer, die er um sich geschart hat, sind Deklassierte, die Anhänger, die ihm zu Millionen nachge­laufen sind, sind Deklassierte.»Die Deklas­sierten aller Klassen, repräsentiert in den sieben bis acht Millionen Erwerbeloser, sind sein Meer und eine Handvoll unheim­licher Freibeuter die Besatzung seines Schiffes. Der Abfall aller Klassen sammelt sich als Kern der Bewegung und erhebt sich zum Herrn des Staates.« Man erkennt in der Tat einen Teil der Wahrheit, wenn man die Dinge so sieht, aber beileibe nicht die ganze. Es ist nicht so, daß die Kompliziertheit der modernen Klassenkämpfe durch eine Deklasaierten- bewegung abgelöst worden ist, die alle Klassen sozusagen über den Kopf gekom­men wäre. Es geht nicht an, um dieser Vereinfachung willen, alle Erwerbslosen in das Schema des Deklassiertentums zu pressen, und es ist schon ganz und gar unmöglich, die Bauern, die zum Siege Hit­ lers so viel beigetragen haben, den Deklas­sierten zuzurechnen. Immerhin empfindet man es als eine angenehme Abwechslung, daß Heiden nicht wie andere hinter allem UnheU die schwar­ze Hand der Reichswehr oder der Schwer­industrie sieht. Aber wo andere über­schätzen, ist Heiden geneigt, zu unter­schätzen. Er sieht ein»müdes Proletariat« auf der einen Seite, einen»müden Kapita­lismus« auf der anderen, zwischen denen sich der wilde Strom der Deklassierten- bewegung hinduich drängt. Hitler hätte aber nie werden können was er ist, wenn ihn nicht gewisse Kapitalist enkretsc als ihren Preisfechter gegen das Proletariat betrachtet hätten. Die siegreichen Deklas­sierten haben ja nicht nur gemordet und geplündert, sie haben auch alle poli­tischen und sozialen Rechte der arbeitenden Massen ver­nichtet Mit dem Verbot der marxisti­ schen Propaganda, der Unterdrückung der Arbeiterpresse, der Zerschlagung der Ge­werkschaften, hat Hitler all das ausge­führt, was die»Kreuz-Zeitung « der Jun­ker und die»Post« der Schwerindustriellen Scharfmacher von Wilhelm H. vergeblich gefordert hatten.

Die Tatsache der Deklassiertenherr- schaft steht nur scheinbar im Gegensatz zu der anderen nicht minder unbestreit­baren Tatsache, daß mit Hitler der re­aktionärste Teil der alten Oberschicht über alle anderen Teüe und über das Proletariat gesiegt hat. Was jener reaktionärste Teil der alten Ober­schicht von einem»starken Monarchen« vergeblich erwartete, konnte ihm nach den Sturz der Monarchie nur ein Diktator ge­ben, den die Hurrakanaille zur Macht emporgetragen hatte. Innerhalb des re­

deutsche Revolution verraten haben soll. Jeder Diener der Reichskanzlei wußte, daß seit Kriegsbeginn, wie ganz selbstver­ständlich, ein direkter Draht zur Obersten Heeresleitung bestand. Da sich Hinden- burg für die Demobilmachung zur Ver­fügimg gestellt hatte, war es selbstver­ständlich, daß die Reichskanzlei weiter mit der Obersten Heeresleitung telefonisch in Verbindung stand. Es äst auch falsch, daß die Arbeiterbewegimg, wie es bei Heiden scheint, damals schon in mehrere fast gleich große Teile zerfiel. Ebert hatte

»Wir« haben genug Fett!

aküonären Massenblocks, der in Deutsch­ land schon immer bestanden hat, haben sich die Kräfte verschoben: der stumpfe Haufen, der hinter den herrschenden Min­derheiten herlief, ist in seinem Selbst­bewußtsein erhöht und in seiner Aktivität gestärkt. Demokratisierung konnte inner­halb dieses Blocks nur Verpöbelung be­deuten. So wurde der Führer des Pöbels zum Despoten. Heiden ist in seine Deklassiertentheorie so verliebt, daß er diese Zusammenhänge nicht klar genug sieht Hätte er sie besser erkannt, so würde er auch der Arbei­terbewegung mehr Gerechtig­keit widerfahren lassen, und er wäre nicht der üblen Literatengewohnheit ver­fallen, über alles, was mit der Arbeiter­bewegung zusammenhängt, oberflächlich und überheblich abzuurteüen. Man kann nicht so Geschichte schreiben, daß man die Kommunisten als angenehme Wirrköpfe, die Sozialdemokraten aber als greuliche Verräter behandelt. Das heißt die tragi­schen Konflikte verkennen, die die Arbei­terbewegung seit Jahrzehnten zerrissen und schließlich zur Hauptursache ihres Zusammenbruchs wurden. Es wirkt beispielsweise im Rahmen die­ses Buches geradezu grotesk, wenn Heiden noch oinmal die Kindergeschichte von Eberts geheimer Telefonleitung zu den Generalen erzählt, mit deren Hilfe er die

die große Mehrheit der alten Arbeiter­bewegung hinter sich; daß diese Mehrheit nicht aus sich selber die Kraft entwickelte, den Durchbruch der amorphen Massen ab­zuwehren, ist ihre tragische Schuld. Da ihr diese Kraft fehlte, war die Zuflucht zu den Resten der alten Armee unvermeidlich, wenn man die völlige Vernichtimg des ge­schlagenen Reiches und das Hungerster­ben von Millionen verhindern wollte. Sie verhindert zu haben, ist Eberts Verdienst. So sehr unsere meist ziemlich unpoli­tischen Emigranten-Literaten Hitler be­kämpfen, in einem Punkt bleiben sie doch seine Bundesgenossen; sie beten immer wieder seine Litanei von den 14 Jahren der Schmach nach. Sie fühlen sich unge­heuer großartig, wenn sie ihre geistige und moralische Ueberlegenneit über die Politiker der Republik auf dem geduldigen Papier spazieren führen können, und sie bedenken nicht, daß die Verunglimpfung, die sie jenen Männern zuteil werden las­sen, sich praktisch als eine Unterstützung der nationalsozialistischen Kotpropaganda auswirken muß. Diese Emigranten-Litera­ten erkennen nicht, was die alten Klassen­kämpfer der Arbeiterbewegung in Deutsch­ land selbst längst klar erkannt haben, daß die Republik von Weimar mit all ihren Mängeln für die kämpfende Arbei­terklasse immer doch den Höhepunkt ihrer bisherigen Erfolge dar­

stellt, und daß sich eben jetzt in der Größe ihres Verlustes die Größe der Nie­derlage spiegelt, die sie erlitten hat. Man kann zur deutschen Gegenwart nicht das richtige Verhältnis gewinnen, wenn man der jüngsten deutschen Vergan­genheit nicht gerecht zu werden versteht, und man soll nicht glauben, daß es noch besonderer Beschwörungsformeln bedarf, um ihre Wiederkehr zu verhindern. Die Vergangenheit kehrt obwohl jeder ver­ständige und vernünftige Deutsche glück- üch sein müßte, wenn er sie mit der Ge­genwart vertauschen könnte, nicht mehr zurück, aber irgendwie wird eine bes­sere Zukunft an sie anknüpfen müssen. So wie sich in der Hitlerdiktatur die asiati­sche Despotie, das Feudalsystem and die absolutistische Reaktion der Zeit nach 1848 rekapitulieren, so wird die Bewegung, die Hitler überwinden wird, die Linie wei­ter führen, die über die große französische Revolution und das Frankfurter Parlament des allgemeinen Wahlrechts zur Verfas­sung von Weimar geführt hat: die große Linie, auf der erst das Bürgertum, dann, sich von ihm lösend, die Arbeiter­klasse den Zielen einer freien Menschheit entgegenmarschiert ist Das ist für jeden, der ernstlich kämpfen will, die erste notwendige Er­kenntnis. Nur sie gibt den sicheren Stand­punkt, von dem aus die Welt Hitlers aus den Angeln gehoben werden kann. Friedrich Stampfer .

Verfemte Kunst Paula Modersohn-Becker im Verließ. In den letzten Oktobertagen ging diese Notiz durch die Zeltungen:»Der bekannte Bremer Großkaufmann und Besitzer der Hag-Kaffee-Werke, Generalkonsul R o s e- l i u s, hat eine Ausstellung von Werken der Malerin Paula Modersohn-Becker veranstaltet, und zwar von Gemälden aus seinem Privatbesitz. Die Bilder sind von nationalsozialistischer Seite in der Oeffent- llchkeit aber angriffen worden und Roselius hat sich daraufhin veranlaßt gesehen, jetzt nach Schluß der Ausstellung zur Kenntnis zu geben, daß diese Bilder auch in seinem Privathause niemand mehr gezeigt werden sollen.« Man darf sich nicht nur der Bilder dieser eigenartigen und eigenwilligen Künstlerin er­innern, man muß auch Ihre Briefe und Tage­buchblätter zur Hand nehmen, um zu ermes­sen, welchen barbarischen Händen im Dritten Reiche das Gut deutscher Kunst ausgeliefert ist. Denn gerade für Paula Modensohn-Becker sind die verächtlichen Prangerworte von »undeutscher Kunst«, von»Asphaltkunst« und wie die Zuchtmeister sonst noch»un­erwünschte« künstlerische Schöpfungen be­schimpfen mögen, durchaus nicht gültig. Paula Modersohn-Becker war in ihrem menschlichen Gepräge und in ihrer künst­lerischen Leistung so durch und durch deutsch wie nur denkbar. Als Tochter einer konser­vativen Beamtenfamilie in Dresden geboren, in Bremen aufgewachsen, gedieh sie nach ihrer Ausbildung in Berlin zur künstlerischen Reife im stillen Kreise der Worpsweder , der Mackensen, Vogeler, Vinnen, Overbeck und Modersohn. So eng verbunden war sie mit dieser Welt, daß sie als Fünfundzwanzig­jährige die Gattin Otto Modersohns wurde und an seiner Seite einige Jahre des Glücks in menschlicher und künstlerischer Gemein­schaft verlebt hat bis zu ihrem frühen Tode. Die herbe Landschaft der Heide hat sie gebebt mit allen Käsern ihres Herzens, mit tiefer Innerlichkeit, mit der starken Un­mittelbarkeit des Gefühls, die ihr eigen war, und mit ihrer empfänglichen Liebe zur Natur. So abgeschlossen und fest in sich beru­hend Paula Modersohn-Becker schon in frü­her Mädchenjugend als Mensch war, so schwer reifte sie als Künstlerin, weil sie von sich die höchste Leistung forderte. Und wenn es als deutsch gilt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, so war Paula Moder­ sohn-Becker gerade darin kerndeutsch. Im­mer wieder klingt das aus ihren Briefen: »Ich liebe die Kunst. Ich diene ihr auf den Knien und sie muß die meine werden.« Ihr ganzes Streben unterstellt sie dem selbstge­gebenen Gebot, sich mit dem ganzen Sein »der einen ureinzigen Sache zu widmen«. In ihrem ganzen Empfinden war sie so