Np. 128 SONNTAG, 24. Nov. 1935
6osia(demDfraliftfo0 Verlag: Karlsbad , Haus„Graphia"— Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite
Aus dem Inhalt; Deutsche Sanktionen? Sittliche Erneuerer Die Verschuldung Deutschlands Der Wahlskandal von Danzig
Das System furchtet de SazIoNenoMe
Ans Westdeutschland erhalten wir Berichte über außerordentlich strenge Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie: »Von verschiedenen Stellen wird mitgeteilt, daß die Gestapo mit geradezu wütendem Eifer gegen Sozialdemokraten vorgeht. Seit etwa sechs bis acht Wochen ist der Druck, das Spitzelunwesen und sind die Drohungen gegenüber unseren Genossen so stark geworden, wie noch niemals zuvor. Dabei ist ohne Unterschied festzustellen, daß die Maßnahmen der Gestapo nur gegenüber der SPD auf der ganzen Linie eingesetzt haben. Aus Kreisen der Polizei erfahren wir, daß die aus dem Ausland kommende Propaganda der SPD die Wut der Hit- lerregierung so erregt habe, daß Anweisungen ergangen sind, alle Kraft der Ge stapo auf unsere Genossen zu konzentrieren. Es ist angeordnet, jetzt die Reste der KPD , die Kirchenopposition und die konservative Fronde außer acht zu lassen. Die ganze Kraft der Gestapo soll gegen die Sozialdemokratie eingesetzt werden. Ganz besonders hat das straffe
und wirkungsvolle Berichtswesen der SPD die Regierung erregt. In den verschiedenen Orten sind eingehende Vernehmungen früherer Sozialdemokraten sehr zahlreich. Selbst jeder rein private Kontakt mit früheren Gesinnungsfreunden wird genau überwacht. Wenn sich zufällig frühere Sozialdemokraten treffen, werden sie illegaler Tätigkeit verdächtigt und zur Vernehmung geholt. Militärpflichtige Personen erhalten keinen Paß und keine Erlaubnis, ins Ausland zu fahren, auch vyenn es sich um einwand- freieste familiäre Angelegenheiten handelt. Die Verschärfung der Lage in Westdeutschland hängt natürlich mit der Zuspitzung der Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie im ganzen Reiche zusammen. Die Hitleristen machen sich wegen der täglich fortschreitenden Verelendung des Volkes sehr große Sorgen um die Erhaltung des Systems. Nur ein Bild: Le- bensmittelmangel überall(pro Woche und pro Familie gibt es ein Viertelpfund Butter und ein Viertelpfund Fett, das ist die nackte Not!) Aerger, Enttäuschung, Wut in allen Graden, Unzufriedenheit eigentlich
aller, feste Gesamtstimmung unserer Genossen, keine Hinneigung zum Kommunismus. Der Regierung ist natürlich nicht unbekannt, daß große Volksschichten in ständig zunehmendem Maße die Erkenntnis bekommen, sie auch sehr häufig äußern, daß die Demokratie nicht nur leichtsinnig verspielt wurde, sondern auch Grundlage für den Staat der Zukunft sein muß. Weit über die Sozialdemokraten hinaus besteht eine große Sehnsuchtnach der verratenen Demokratie, auch bei vielen ihrer ehemaligen Verächter. Dem System ist es sehr unangenehm, daß in der Opposition keine Stimmung für den Kommunismus besteht; auch bei vielen früheren Kommunisten nicht. Gegen die ganze Verrottung des heutigen Systems hebt sich immer mehr das Bild der modernen Arbeiterbewegung ab. Wir bleiben fest, auch wenn jetzt eine neue unbarmherzige Offensive der Diktatur gegen die Sozialdemokratie harte Opfer fordert.«
Moralische Niederlage der Nazis in Danzig Das Obergericht bestätigt den Wahlterror Die Danziger Nationalsozialisten haben eine moralische Niederlage ersten Ranges erlitten. Das Danziger Obergericht hat die Wahlanfechtungsklagen der Opposition zum erheblichen Teil für berechtigt anerkannt. Es hat nicht die gesamte Wahl für ungültig erklärt, aber es hat den Nationalsozialisten rund 1 1.0 00 Stimmen aberkannt Demzufolge erhalten die Nazis ein Mandat wieniger, das an die Sozialdemokraten fällt Die Bemessung der abzuziehenden Stimmenzahlen ist nach reiner Opportunität erfolgt— sie sollte den Nazis nicht die Mehrheit nehmen. Die Begründung des Urteils aber entrollt ein Bild davon, was»freie Wahl« unter nationalsozialistischer Herrschaft bedeutet Es heißt darin: »Eine erheblichere Einwirkung auf die Wahl ist aber insoweit festgestellt, als die Regierung öffentliche Einrichtungen im Interesse der NSDAP zur Verfügung gestellt hat was nach der Rechtslage in Danzig unzulässig ist Der Staatliche Hilfsdienst, die Feuerwehr, die Arbeiter des Telegraphenamtes hätten nicht verwendet werden dürfen, um nationalsozialistischen Straßen- und Häuserschmuck anzubringen. Desgleichen hätten die Dienstgebäude nicht einseitig mit den Symbolen der NSDAP geschmückt werden dürfen. Auch hätten die Räume in staatlichen Gebäuden nicht einseitig der NSDAP zur Verfügung gestellt und Wahlversammlungen der Beamten und Angestellten in den Dienststunden abgehalten werden dürfen. Desgleichen hätte der Rundfunk und die Post nicht einseitig für die NSDAP verwandt werden dürfen. Eine amtliche Wahlbeeinflussung hat das Wahlprüfungsgericht auch darin erblicken müssen, daß der Gauleiter Forster in einer Versammlung der Beamten und Angestellten erklärt hat, daß jeder Beamte und Angestellte, der nicht nationalsozialistisch
11 ii ii——— wähle, aus dem Dienst des Staates und der Kommune unverzüglich entlassen werden würde. Es ist allerdings dargetan, warum auch dieser Verstoß keine erhebliche Wirkung gehabt haben dürfte. Schwerer ins Gewicht fallende Verstöße liegen aber darin, daß besonders auf dem Lande vielfach der Versuch gemacht ist, durch wirtschaftliche Maßnahmen, namentlich Entlassungen aus dem Arbeitsverhältnis, von behördlicher Seite die Wähler der anderen Parteien zur Abgabe ihrer Stimme für die NSDAP zu veranlassen. Insbesondere hat das Wahlprüfungsgericht in drei Fällen (Stutthof , Neulanghorst, Praust) festgestellt, daß die Betriebsappelle dazu mißbraucht worden sind, einen unzulässigen Druck auf die Wähler der anderen Parteien auszuüben. Besonders zu rügen ist hierbei, daß in einzelnen Fällen sogar versucht worden ist, durch derartige Maßnahmen einen Druck auf die Kandidaten der anderen Parteien auszuüben, damit diese ihre Kandidatur aufgaben. Was das Versagen der örtlichen Polizei anlangt, so wird dieser vorgeworfen nicht nur, daß sie zu Unrecht gegen Agitationshandlungen der nichtnationalsozialistischen Parteien eingeschritten sei, sondern auch, daß sie es unterlassen habe, gegen Uebergriffe einzuschreiten, die sich Anhänger der NSDAP gegen Angehörige gegnerischer Parteien aus politischen Gründen erlaubten. Ein derartiges Verhalten der Polizei kommt, wenn es erwiesen wird, der positiven Wahlbeeinflussung gleich und muß gleich dieser gewertet werden, denn es enthält wie dieses eine Vernachlässigung der Beamtenpflicht zum gesetzmäßigen Einschreiten und hat dieselbe Wirkimg, nämlich die Benachteiligung einer oder mehrerer Parteien. In der überwiegenden Zahl der von den Einsprucherhebem angeführten Fälle hat sich nun ein Versagen der Polizei nicht ergeben. Dies gilt auch von dem behaupteten mangelnden Schutz der Wahlplakate. ' Immerhin bleiben mehrere Fälle
übrig, die sehr wohl geeignet waren, bei den Wählern der anderen Parteien das Gefühl der Schutzlosigkeit aufkommen zu lassen und die deshalb als amtliche Wahlbeeinflussung s c h w e re r A r t gewertet werden müssen. Hervorzuheben sind namentlich die Vorfälle in Zoppot (Viktoriagarten), in Neuteich und in Rosenberg; die erheblichen Ausschreitungen, zu denen es dort gekommen ist, hätten bei tatkräftigem Einschreiten der Polizei verhindert werden müssen.« Die vor dem Obergericht zur Sprache gekommenen Verstöße bilden nur einen kleinen Ausschnitt aus dem gewaltigen Terror, den die nationalsozialistische Partei bei der Aprilwahl entfesselt hat. Daß das Obergericht die Wirkung dieses Terrors gerade auf 11.000 Stimmen einschätzt, daß es überhaupt der Meinung ist, daß man seine Wirkimg genau auf drei Prozent der nationalsozialistischen Stimmenziffer bemessen könne, fällt ins Gebiet politischer Opportunitäts- entscheidungen. Die einzig mögliche und richtige Schlußfolgerung, die sich aus dieser Enthüllung des Wahlterrors ergibt, lautet: eine Partei, die so alle Mittel des Parteiterrors und des staatlichen Terrors einsetzt und dann doch nur knapp über 50 Prozent der Stimmen erhält, hat keine Mehrheit im Volke. Dies Urteil des Obergerichtes brandmarkt deshalb die nationalsozialistische Herrschaft in Danzig als verfassungswidrige Diktatur der Minderheit!
Wieder ein Sdiand* urteil in Hamburg Und dennoch: sie zwingen uns nicht! Am 5. November 1935 fand vor dem Hamburger Oberlandesgericht ein weiterer Prozeß gegen frübere Sozialdemokraten statt. Es handelt sich hierbei um 12 Jugendliche, z. T. Lehrlinge, die wegen Hochverrat angeklagt: waren. Die Angeklagten waren früher Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterjugend und wurden beschuldigt, die So zialdemokratische Partei welter aufrecht erhalten und durch Verbreitung von Material, das zum Teil vom Ausland stammen
sollte, hochverräterische Handlungen begangen zu haben. In dem uns aus Hamburg zugegangenen Bericht heißt es wörtlich: »Die gefällten Urteile übertreffen alle bisher in Hamburg verhängten; Julius Willemsen 5 Jahre Zuchthaus, 5 Jahre Ehrverlust; Philipp Borth(Lehrling) 3 Jahre Zuchthaus ; Walter Böhls 2 Jahre Zuchthaus; sieben Angeklagte, unter denen sich die Genossen Strader, Otto Dehn- k e, A. Henke und Lorenz befanden, erhielten 2</2 Jahre Gefängnis(alle sieben Jugendliche). Willi Tledt 1 Jahr 3 Monate Gefängnis. Freigesprochen wurde keiner.« Trotz der Ungeheuerlichkeit dieses Urteils nahmen alle Angeklagten die Verkündung desselben unerschüttert und gefaßt entgegen. Fest und mit hocherhobenem Haupt marschierten unsere jugendlichen Genossen dreimal zum Oberlandesgericht und zurück. Immer aufrecht, im Gleichschritt, obgleich sie alle an den Händen gefesselt waren, an der Seite die Bewachung, behandelt wie Schwerverbrecher. Von den Richtern wurde zugegeben, daß es sich um bisher unbestrafte, intelligente, aufgeweckte junge Menschen handle, die aus diesen Gründen für ihre Tat voll verantwortlich seien und daher schwere Strafen verdienten. Wie erbärmlich müssen sich die Richter vorkommen, die solche Urteile fällen!
Die Wahlen In England Die Wahlen in England haben eine europäische Bedeutung. Sie standen im Zeichen der unbedingten Völkerbundspolitik der Regierung Baldwin. Sie sind ein Glied in der Kette der Ereignisse, die das Wiedererwachen und das Aktivwerden der europäischen Demokratie bezeichnen. Die Regierung Baldwin hat ihren Wahlsieg errungen, weil sie sich zum Frieden, zum Völkerbund, zur Demokratie in Wort und Tat bekannte, und das Votum der Wähler fesselt sie an dies Bekenntnis. Das Eigenleben und der Eigenwille der Arbeiterbewegung hat neben dieser Hauptentscheidung einen schönen Erfolg für die Arbeiterpartei herbeigeführt. Sie hat sich aus der Niederlage von 1931 wieder erhoben, stark und gefestigt steht sie wieder da, und ihre Kraft steht dem englischen Volk zur Verfügung. Die Regierung Baldwin hat ein Mandat vom Volke auf fünf Jahre, sie hat eine Mehrheit von 250 Stimmen im Unterhaus. L a b o u r hat wieder über 150 Mandate und 8,3 Millionen Stimmen gegen 380 Mandate und 10,3 Millionen Stimmen der Konservativen. Die Demokratie ist eine Selbstverständlichkeit in einem Lande, in dem nach der Wahl die Regierungspartei sich beglückwünscht, daß sie wieder eine starke und handlungsfähige Opposition im Parlament hat, und die Opposition erklärt, daß sie nun der Regierung mit ganz anderem Vertrauen gegenüberstehe, da die Wahlen gezeigt hätten, daß die Regierung vom Willen der Volksmehrheit getragen sei. Dennoch stellen die Wahlen für die Arbeiterpartei eine gewisse Enttäuschung dar. Die Scharte von 1931 ist nur zur Hälfte ausgewetzt. Sie hatte zweifellos wesentlich mehr von dieser Neuwahl für sich erhofft, vor allem seit der letzten Woche des Kampfes, die stimmungsmäßig auf ein besonders gutes Ergebnis schließen lassen konnte. An die Möglichkeit der Erringung einer