für. 139 SONNTAG, 9. Februar 1936 (SosialdgmpfraKfcfos Verlag: Karlsbad . Haus„Graphia">— Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite Aus dem Inhalt: Außen politische Katastrophe Die Kolonialforderung Der Schrei nach Schuldknechtschaft Emigration in der Geschichte Wendung sesen Westen Die Krämpfe der deutschen Außenpolitik Am Anfang der Außenpolitik des Dritten Reiches war der— Stammtisch. Vom »Volk ohne Raum« hatte man gehört und dem mußte abgeholfen werden. »Gen Ostland müssen wir reiten«, reiches Land erbeuten, wo wir unsere Söhne siedeln lassen; es wird uns reichlich liefern, was wir brauchen. Und die ganze Welt, soweit sie' nicht verjudet oder vemegert ist, wird uns helfen. Denn wir werden sagen, es ist ein heiliger Kreuzzug gegen den Kommunismus. Freilich, stark müssen wir werden und einig. Das ganze Deutschland muß es sein. Oesterreich muß wieder heim und die Deutschen Böhmens . Das fordert das nationale Selbstbestimmungsrecht, das unsere Vettern, die Angelsachsen, stets anerkannt haben. Die Italiener, die sind Faschisten wie wir, mit denen verständigen wir uns schon. Auf Südtirol freilich müssen wir verzichten, fürs erste wenigstens. Schrittweise muß man vorgehen, gescheit, nicht so dämlich wie der Wilhelm. Der hat nicht verstanden, daß man die Eng- linder heraushalten muß; mit seiner Flottenprotzerei und Kolonialschwärmered hat «r sie gründlich verärgert; gar nicht hat er verstanden, daß die Entscheidung doch zu Lande fallen muß. Und so haben die Engländer Frankreich noch einmal gerettet und die Amerikaner die Engländer. Deshalb müssen wir die Engländer, die die Franzosen hassen, zu Bundesgenossen haben oder wenigstens neutral. Kein Wort also von den Kolonien und nichts von einer großen Flotte. Das war der größte Fehler des Kaiserreiches, daß Deutsch lands Zukunft auf dem Wasser sei. Ich Sag, Deutschlands Zukunft liegt auf dem Lande, und sie liegt im Osten. Freie Hand Im Osten! Und wenn der Erbfeind uns daran hindern will, dann muß er eben vernichtet werden. Und ohne England ist er geliefert Blut wird es kosten? Aber Kriege hat es immer gegeben! Wir müssen dieses Volk, das seine Ehre verloren hat, erwecken, erwecken. Eis muß lernen, heldisch zu sterben.— Wie hat der gute König gesagt: Hundsfötter, wollt Dir denn ewig leben? Aus dem Stammtischführer wurde der Reichsführer... Als HBtler zur Macht kam, stieß sein außenpolitisches Programm in dem Koalitionsministerium auf den Widerstand der Dcutschnationalen, die stets zu den Trägem der Rapallopolitik gehört hatten. In seiner Regierungserklärung vor dem Reichstag erklärte Hitler noch, daß der Vernichtungskampf gegen den Kommunismus eine innere deutsche Angelegenheit sei, der die Beziehungen zu Rußland nicht zu ändern brauche. In dem so oft und von Anhängern verschiedenster Anschauungen verkündeten Grundsatz, daß die innere Politik der Regierung eines Landes keine Rückwirkung auf die Beziehungen der auswärtigen Politik haben dürfe, begegnete sich Hitler übrigens mit einem Grundsatz auch der russischen Regierung. Hat doch sogar noch vor kurzem, im Januar, M o 1 o t o w, der Präsident des Rats der Volkskommissare, vor dem Zentralen Exekutivkomitee, nachdem er die neuen Wirtschafts- und Kreditverhandlungen mit Deutschland mit Befriedigung erwähnt hatte, erklärt: »Es entspricht der Politik der Sowjetunion , die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit allen Ländern au entwickeln, ganz unbeschadet der Regie rungsf onm, die In dem einen oder anderem Land zeitweilig herrscht.« Kurze Zeit nach Hitlers Rede wurde in der Tat der Rapallovertrag mit seinen nicht nur wirtschaftlichen und politischen, sondern auch mit seinen militärischen Vereinbarungen erneuert. Das Auswärtige Amt schien zunächst gesiegt zu haben. Diese erste Phase dauerte nicht lange. Sobald Hitler die Alleinmacht sich gesichert hatte, setzte er den Stammtisch wieder in seine Rechte. Die Eroberungsziele im Osten wurden offen proklamiert, der Putsch gegen Dollfuß inszeniert, der mit der Ermordung, aber auch mit dem Aufmarsch der italienischen Armee am Brenner und dem Zerwürfnis mit Musso lini abschloß. Der Austritt aus dem Völkerbund wurde vollzogen, die Abrüstungskonferenz gesprengt und die deutsche Aufrüstung in fieberhaften Gang gebracht, Die Pläne Englands und Frankreichs , in einem Ostpakt den Frieden zu sichern, wurden vereitelt, mit Polen eine Verständigimg gegen Rußland gesucht, die Beziehungen zu Japan , dem anderen Gegner Rußlands , enger gestaltet. Das Ziel der deutschen Außenpolitik erschien jetzt eindeutig" gegeben. Aggression im Osten gegen Rußland , Anschluß Oesterreichs im Süden. Deshalb sollte der Westen neutralisiert und jedenfalls gespalten werden. Friedensangebote an Frankreich , mit dem es nach der Saarrückgliederung ja keine»territorialen Differenzen« mehr gäbe; Verständigung so weitgehend als möglich mit England; deshalb Ablehnung der Kolonialpolitik und Flottenübereinkommen auf der für England annehmbaren Basis. Durch Hitler bekam auch die Anschlußfrage ein neues Gesicht Oesterreichs Anschluß an das kriegsstarke und kriegsbereite Deutschland bedeutet die Umklammerung Italiens , die Vorherrschaft Deutschlands in Mittel- und Südosteuropa . das Ende der Selbständigkeit der Tsche choslowakei , die Unterwerfung Rumäniens und Jugoslawiens unter deutschen Einfluß. Sie verewigt die Feindschaft mit Italien . Die Eroberung des Baltikums und der Ukraine entspricht gleichfalls keinem deut schen ökonomischen Interesse. Wenn die Nationalsozialisten siedeln wollen, fänden sie in Ostpreußen genug Boden beim Großgrundbesitz und für ihre»Erzeu- gungsschlachten« reicht die landwirtschaftliche Bevölkerung Deutschlands gerade aus. Und wie wollen sie eigentlich den freien Raum in den ja ausreichend besetzten Gebieten fies Ostens schaffen? Soll die jetzige Bevölkerung vernichtet oder irgendwohin vertrieben werden? Deutschland ist heute kriegsstark. Aber die Rüstung ist kein Selbstzweck, am wenigsten in einem Lande, dessen Beherrscher sich als Fordernde fühlen. Die Frage nach dem Ziele der deutschen Außenpolitik ist ernst geworden. Mit dem Dilettantismus der Stammtischideen geht es nicht weiter. Die Minette Elsaß- Lothringens , die Erzfelder Briefs und Longwys, die reichen Kolonien Englands, Frankreichs , Belgiens , vielleicht auch— nach dem Siege — der kleineren Staaten— die Ziele, die im letzten Kriege lockten, die sind denn doch verführerischer als des armen Oesterreichs oder ukrainische Weizenfelder... Neben Hitlers Außenpolitik liefen von Anfang an die alten Zielsetzungen der Alldeutschen und der weltpolitischen Eroberungspolitiker. Die verschiedenen Strömungen schienen sich zu vereinigen. Im Widerspruch mit Hitlers »Kampf« propagierte Schacht an der Peripherie der Bewegung und der General von Epp in deren Innern auf den Tagungen der Kolonial- gesellschaften und der Auslandsdeutschen immer nachdrücklicher die Kolonialforderungen. Die deutsche Außenpolitik wurde zu einer Addition aller überhaupt nur denkbaren Macht- und Wunschträume. Neben den Attacken gegen das bolschewistische Rußland, gegen Litauen , neben den Einmischungen in Estland , den immer erneuten Treibereien in Oesterreich geht die Macht und Maditträume Am 30. Januar hat die braune Propaganda eine Wiederholung dea»sinnlosen Taumels« vom 30. Januar 1933 veranstaltet— Fackelzug der SA, Maasenbegeisterung in der Wil- helmstraße, Hitler auf dem Balkon. Die SA - Leute sangen: »Denn Deutschland gehört uns heute, und morgen die ganze Welt!« Es ist unbestreitbar, daß dem braunen System Deutschland so gehört, wie ein erobertes Land, daß aber ausgerechnet die SA sich der Nutznießung dieses Besitzes rühmt, ist eine Ironie. Die Frage, wem mm eigentlich Deutschland gehört, ist keineswegs mit der Antwort abzutun: Hitler , Göring , Göb- bels und Compagnie; denn gerade jetzt wird sichtbar, daß die groß-bürgerliche Ideologie die persönlichen Träger des Systems und ihre Politik immer stärker in ihren Bann zieht. Um so stärker ist auch das Bestreben der Hitler und Compagnie, ihre Rolle ins Heroische zu steigern und sich mit einer neuen Legende zu umgeben. Hitler selbst hat c*'e Fabrikation der Liegende übernommen. Im Gegensatz zu Göbbels , der in allen seinen Schriften erkennen läßt, daß die Reichskanzlerschaft Hitlers ihnen am 30. Januar 1933 wie ein Gottesgeschenk in den Schoß gefallen ist, hat Hitler am 30. Januar 1936 erklärt, die Macht sei ihm nicht wie ein Geschenk des Himmels zugefallen, sondern schwer und blutig aus eigener Kraft erkämpft worden. Das paßt ausgezeichnet zu der gewünschten Auffassung, daß Hitler die Kraft sei, aus der alles fließt— aber weder zu den geschichtlichen Tatsachen noch zur gegenwärtigen Lage. Hitler hat weiter deklamiert: »Da traten wir nicht eine Macht an, um hinter dieser Macht das Volk zu erobern, sondern Im Besitz des deutschen Volkes sind wir damals bereits gewesen.« Es genügt gegenüber dieser Geschichts- Wochen Terror, nach Reichstagsbrand und Unterdrückung der Opposition die Hitlerpartei bei der Reichstagswabl am 6. März 1933 von 39 Millionen Stimmen nur 17 erhielt. Und beute? Ausgerechnet am 30. Januar 1936, erschienen im Reichsanzeiger Vorschriften über den Waffengebrauch des Reichsheeres im Falle Innerer Unruhen. Gleichzeitig sprach der Stabschef der SA, Lutze auf einem Empfangsabend des außenpolitischen Amtes der NSDAP : »Dafür aber, daß bewaffnete Macht schlechthin innerpolitisch, also völkisch gesehen, nur ein bedingt stabiler Faktor ist, bietet die jüngste preußische und deutsche Geschichte genügend Beispiele.« Während das Redchaheer die Verantwortimg für die innere Sicherheit dea Systems übernimmt, haben die Nationalsozialisten Zweifel, ob diese Garantie ihnen wirklich Sicherheit bietet! Beides sieht nicht danach aus, als ob sie an die tausendjährige Stabilität ihres Systems glaubten. Deutschland gehört ihnen heute jedenfalls so, daß ihre Gedanken dauernd um das Problem kreisen, welche bewaffneten Kräfte sie dem Volke entgegenzustellen haben. Kein Zweifel, daß diese Kräfte heute dem deutschen Volke gegenüber noch übermächtig sind. Was aber die Eroberung der Welt anbetrifft, die sie morgen erobern wollen, so verschiebt sich das Kräfteverhältnis radikal zu ihren Ungunsten. Die Tat von Davos Der Landesgruppenleiter der Gruppe Schweiz der NSDAP , Gustloff, ist in Da vos In sedner Wohnung von dem Studenten David Frankfurter erschossen worden. Gustloff war führender deutscher Natio- klitterung der Hinweis, daß nach sechs, nalsozialist. Er war die Befehlsstelle für die i Frontenbewegung in der Schweiz . Die Schweizer Linke hat seit langem die Unter- blndung der nationalsozialistischen Umtriebe in der Schweiz und die Ausweis upg dieses Mannes verlangt, um so mehr, da die Schweiz wiederholt der Schauplatz politischer Gewalttaten von Nationalsozialisten gewesen ist. Die nationalsozialistische Partei hat den politischen Mord zum System erhoben. Sie verherrlicht die Rathenaumörder. Sie schickt Agenten mit Mordaufträgen ins Ausland. Sie hat führende politische Gegner in Deutschland ermorden, ja in viehischer Weise zu Tode foltern lassen. Sie ist mit dem Blute der Erschossenen vom 30. Juni 1934 befleckt. Mit den Metho- 1 den des sadistischen Terrors treibt sie ganze Bevölkerungsgruppen zur Verzweiflung. Dies blutbefleckte System hat nicht das mindeste moralische Recht, sich über diese Verzweiflungstat zu entrüsten. Der Student Frankfurter hat sich seiner Verantwortung nicht entzogen. Er hat sich selbst der Polizei gestellt und erklärt, daß er aus politischen Gründen gehandelt habe. Seine Haltung unterscheidet sich von der nationalsozialistischer Mörder. Die Mörder, die Theo dor Lessing in Marienbad erschossen haben, sind nach Deutschland geflüchtet. Einer von ihnen lebt heute— unbehelligt von Behörden, aber unterstützt von der nationalsozialistischen Partei— in München . Die Mörder des Ingenieurs F o r m i s sind nach Deutschland entflohen. Nach allem, was man weiß, stehen sie nach wie vor in den Diensten der Gestapo . Der Täter von Davos wird sich vor Gericht verantworten. Seine Verantwortung wird— daran zweifeln wir nicht— die größere Verantwortung dee braunen Mordsystems klarstellen.
Ausgabe
4 (9.2.1936) 139
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