ueflmrniM Nr. 140 SOIVIVTAG, 16. Febr. 1936 Aus dem Inhalt; Mord und System Der Jude ist tot Wachsende Wirtschaftssorgen Kant gleichgeschaltet SDocfoiMa# Verlag; Karlsbad . Haus„Graphia"— Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite Der Auswes: Freiheit! Ablenkungsversuche und wachsende Opposition im Dritten Reich Wenn die Schwierigkelten der Diktatur sichtbar werden, denkt das System an Ablenkung, die Leidtragenden aber denken an»Normalisierung«. Damit ist genau die gegenwärtige Lage des Systems bezeichnet Seine Träger wollen durch die Flucht in die alldeutsche Ideologie und die Kolonialpropaganda einen neuen nationalistischen Rausch entfesseln— aus Bürokratie und Wirtschaft aber erheben sich mahnende Stimmen, die auf wunde Punkte hinweisen, und deren Hinweise sich schon zu Forderungen verdichten, die aus Spezialforderungen zu allgemeinen politischen Forderungen werden. Man hat die»Normalisierer« und die»Normalisierung« totgesagt. Man hat geglaubt, daß neben der Allmacht des Systems jede andere Kraft verschwunden sei, daß es neben dem Willen der Spitze, oder hinter oder außer diesem Wil -' len nichts gebe, daß mit einem Wort in der Totalität des Diktatursystema alle politische Bewegung erloschen sei Man hat die Frage aufgeworfen, was»Normalisierung« eigentlich sei Die Antwort auf diese Frage gibt das System selbst. Ka bemünt sich, um oer Olympiade willen seine wilde Grausamkeit, sein zivilisationsfeindliches Wesen möglichst wenig nach außen treten zu lassen. Es braucht die Olympiade nicht nur des Devisengewinnes wegen, sondern wegen des Gewinnes an Ansehen, an Verbindung, an Vertrauen, den es davon erhofft Es braucht diesen Gewinn aus politischen und wirtschaftlichen Gründen. Normalisierung heißt Anpassung an die Kulturwelt, an die freien Völker, an die Norm, die bei ihnen gilt Das System heuchelt die Anpassung. Jeder Tag bringt blutige Beweise dafür, daß es sich nur um Heuchelei handelt Aber in der Heuchelei liegt das Geständnis, daß die Umwelt Deutschlands eine überlegene Norm besitzt und daß Hitlerdeutschland die Normen der Kulturwelt preisgegeben hat Soviel zunächst über den Begriff. Und nun zu den»Normalisierern«. Wir lesen in der»Frankfurter Zeitung « vom 6. Februar in einem Aufsatz zur Eröffnung der Olympiade: »Verbessern wir etwas, räumen wir dieses oder Jenes beiseite, so mag der Besuch zwar Anlaß zur Verbesserung sein, diese selbst ist ein Geschenk, das wir Deutsche uns selbst machen, nicht eine Konzession an die Besucher. Alles, was nur einer solchen Konzession gleichkäme, wäre ohnedies zwecklos oder könnte leicht die gegenteilige Wirkung hervorbringen. Gibt es überflüssige, gar anstößige Dinge, dann sind sie immer überflüssig, immer anstößig.« Die Tafeln»Juden ist der Zutritt verboten!«, die Kästen mit Streichers»Stürmer« wären also immer anstößig, immer ein Verstoß gegen die Norm? Wir wollen uns komplizierte Betrachtungen darüber schenken, ob diese Sätze eine höhere Form der heuchelnden Propaganda auf Befehl darstellen können. Wir wollen sie nehmen wie sie sind. Sie erscheinen in Deutsch land , und ihre unbestreitbare Richtigkeit wird allen einleuchten, die nicht fanatische Nationalsozialisten und Göbbelsschüler sind. Und diese Richtigkeit wird als geistiges Faktum bleiben, wenn die Heuchelei des Systems selbst zu Ende sein wird. Aber die Streicherei ist nur die eine Erscheinungsform. Wesentlicher ist, daß die politische und wirtschaftliche Notlage innere Unruhe und Sorge bei jenen hervorruft, die bei einer Katastrophe zu verlieren haben. Sie rufen deshalb nach weiter und tiefer gehender Normalisierung. Diese Stimmen sind in den letzten Tagen auf zwei Gebieten laut geworden, die einigermaßen zusammengehören, auf dem Gebiete der Gemeindepolitik und der Wirtschaftspolitik, und ihr Sprachrohr war wieder die»Frankfurter Zeitung «. Am 6. Februar schrieb sie unter der Ueberschrift:»Wer spricht zur Bürgerschaft?« das folgende: »Es Ist darum ein berechtigter Wunsch des Gemeindebürgers, zu wissen, was Im Rathause vor sich geht Ueber dieses Prinzip sind sich im Grunde alle einig; denn wenn der Gedanke der Selbstverwaltung verwirklicht werden soll, der Ja als Grundpfeiler der neuen Gemeindeordnung anerkannt ist, wird man der Bürgerschaft auch die Rolle aktiver Mitarbeit, sei es auch nur im Sinne einer fruchtbaren Diskussion außerhalb der Amtaräum� zuerkennen müssen.« »Zeigen aber nicht die zitierten Stimmen, daß der eine oder der andere anfängt, ungeduldig zu werden?« »Die Erfahrungen der verflossenen Monate legen die Frage nahe, ob die Tätigkeit der Gemeinderäte, die Ja doch die berufenen Vertreter der Bürgerschaft sind, bereits ihr endgültiges Gesicht gefunden hat. Wir denken dabei weniger an den Ablauf der Beratungen im Rathause, die Ja von dem Gemeindeleiter Jeweils auch für öffentlich erklärt werden können, als an die gewichtige Verpflichtung der Gemeinderäte der Bürgerschaft gegenüber. Diese Verpflichtung besteht, aucn wenn sie bisher allzusehr hinter der Bindung an die Verwaltung, also der Pflicht zur Beratung, zurückgetreten ist.« Wie soll eine»fruchtbare Diskussion« geführt werden, wenn es keine Versammlungsfreiheit, keine D i s- kussionsfreiheit gibt? Wie sollen die vom System ernannten»Gemeinderäte« der Verpflichtung nachkommen, die Verbindung mit der Bürgerschaft herzustellen, wenn sie nicht das Recht zur Einberufung öffentlicher Bürgerversammlungen besitzen? Und wenn sie selbst das Recht erhielten, in erlaubten Versammlungen zu berichten— was hätten diese Versammlungen für Wert, wenn nicht die Bürgerschaft das Recht erhielte, Kritik zu üben und Forderungen vorzutragen? Hier wird die Unvereinbarkeit des Systems mit den schüchternsten Ansätzen zur Selbstverwaltung ohne weiteres sichtbar. Sichtbar wird aber auch, daß Jeder Versuch der Propaganda für die primitivsten Elemente der Selbstverwaltung mit Notwendigkeit zu»Normalisierunga- forderungen« führt, die zu politischen hinrühren. Aber diese Normalisierungsforderungen entspringen notwendig der Mißwirtschaft des Systems und der Not, die sie geschaffen hat. Am 8. Februar lobt die»Frank- Dep Jude Ist tot Der»Slurmer« und seine Gewährsmänner »Bürgerliche « Zeitungen am Niederrhein berichten über eine Verhandlung des Schöffengerichts in II. Gladbach. »Angeklagt war der 36 Jahre alte Wilhelm H. aus Odenkirchen , der eine Zeitlang in Jüchen wohnte. Er hatte dort im Dezember v. J. ein Mädchen geheiratet, das bis vor der Machtübernahme r a s s e n- schänderischen Verkehr unterhalten, seine Beziehungen zu dem Juden aber aufgegeben hatte, nachdem durch die naüonaLsozialistische Regierung die Judenfrage automatisch gelöst war. Ueber das Vorleben seiner Ehefrau war H. zweifellos unterrichtet. Wenn man nun die reichlich unrühmliche und nicht minder dunkle Vergangenheit des H.— er ging 1924 als verkommener Mensch nach Amerika und kam von dort als noch verkommeneres Indlvldium im Jahre 1932 zurück— berücksichtigt und ferner in Betracht zieht, daß er unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland wegen Betruges zum Nachteil eines auch aus Amerika zurückgekommenen Mädchens zu zwei Jahren Gefängnis und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt wurde, dann geht man wohl in der Annahme nicht fehl, daß man es bei H. mit einem Menschen zu tun bat, der mit seiner Verehelichung unsaubere Pläne im Sinne hatte. Und so erwies es sich schon nach kurzer Zeit. Während seine Frau— wie einwandfrei feststeht— Jegliches Zusammentreffen mit dem Juden vermied, suchte H. möglichst häufig und zwar in Gegenwart seiner Frau mit ihm zusammen zu kommen. Schließlich ging der elende Lump sogar so weit und versuchte seine Frau regelrecht an den Juden zu verkuppeln und diesen zu veranlassen, doch ständig als »Hausfreund« bei Ihm Im Hause zu verkehren. Dann Ist H. an den Juden wegen zunächst kleinerer Beträge herangetreten. Später wurde er Immer dreister und als er einsah, daß der Jude nichts mehr geben wollte, setzte er Daumenschrauben an. E r wandte sich an die Oeffentllch- kelt und auch an Behörden. In eindeutiger Welse bezichtigte er seine Ehefrau und den Juden des rasseschände- rischen und ehebrecherischen Verkehrs. Er war aber nicht In der Lage, auch nur den Schatten eines Beweises für seine schwerwiegenden Behauptungen zu erbringen und In der Verhandlung vor dem Schöffengericht wurde genau das Gegenteil der H.-'schen Bekundungen als erwiesen festgestellt. Das Gericht gab dem Vagabund, der zum Abschaum der Menschheit gehört, die treffende Antwort. Es verurteüte ihn zu 18 Monaten Gefängnis und zu fünf Jahren Ehrverlust. Mit dieser Strafe hat H. die Reife für die Sicherungsverwahrung erlangt.« Der Bericht ist leider nicht vollständig. Ergänzen wir ihn: Der»elende Lump und Vagabund und Abschaum der Menschheit« war geschätzter Mitarbeiter des vom Duzfreund des Führers herausgegebenen»Stürmer«. Streicher nahm die Denunziationen des»verkommenen Menschen« mit Wohlbehagen auf. Der»Stürmer« wurde in Jüchen angeschlagen und von Haus zu Haus verbreiteL Die SA sammelte sich brüllend vor dem Hause des zu Unrecht beschuldigten Juden. Die Kriminalpolizei nahm nicht etwa den»Lumpen« fest, sondern den Juden. Er wurde in»Schutzhaft« nach M. Gladbach gebracht. Einige Tage später kam die Meldung, er habe»Selbstmord« begangen. Niemand von seinen Freunden glaubt an diesen »Selbstmord«, denn wie die Gerichtsverhandlung gegen den Denunzianten zeigt, hatte der Jude das beste Gewissen. Uebri- gens war er Kriegsteilnehmer und Inhaber mehrerer Tapferkeitsorden. Die Zeitungen bringen den Bericht unter der Ueberschrift»Der größte Lump im ganzen Land...« Es ist nicht ganz klar, ob sie damit den Denunzianten meinen oder den Streicher-Freund des Führers, der die Donua- zlationen ungeprüft im»Stürmer« erscheinen ließ und so den Tod eines ehrenhaften Menschen verursachte. Opfer der Par1ei|ustiz Selbstmord des Rechtsanwalts Fließ . Unserer Meldung In Nr. 139 des»Neuen Vorwärts«, wonach der Jüdische Rechtsanwalt Fließ in Magdeburg wegen angeblicher falscher Anschuldigung und Beleidigung des Nazianwalts K u h I m e y zu neun Monaten Gefängnis verurteilt wurde, verlangt einen Nachtrag. Dr. Fließ hat sich am 29. Januar Im Korridor des Magdeburger Gerichtsgebäudes eine Kugel In die Schläfe gejagt und ist kurz danach gestorben. Eine Traueranzeige seiner Frau In den jüdischen Zeitungen teilt mit, daß Rechtsanwalt Ernst Fließ In Magdeburg »am 29. Januar nach einem Lieben der Arbeit, Liebe und Güte« verschied. Dr. Fließ, ein Mann von etwa 60 Jahren, hatte aus der in den Magdeburger Gerichtskreisen herrschenden Pogromsllmmung die Konsequenz gezogen, Indem er nach dem ungeheuerlichen Urteil der Großen Strafkammer freiwillig aus dem Leben schied. Der eigentliche Schuldige an diesem Tode Ist Dr. K u h 1 m e y, einer der bösen Geister Magdeburgs, dem es u. a, auch zuzuschreiben ist, daß der Reichsbannermann Karl J ä n 1 k- k e In dem bekannten Schönebecker Landfriedensbruch-Prozeß im Oktober 1934 zum Tode verurteilt wurde. Aus Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis hatte Dr. Kuhlmey als Vertreter der nationalsozialistischen Nebenkläger das auf 15 Jahre Zuchthaus lautende Urteil der ersten Instanz angefochten und es durchgesetzt, daß das Sondergericht Halle gegen Jänicke ein Todesurteil fällte, und dies, obwohl Jänicke nach der Ueberzeugung weitester Kreise völlig unschuldig war. Jetzt hat Dr. Kuhlmey die Genugtuung, auch Dr. Fließ in den Tod getrieben zu haben, einen Mann, der wegen seiner Lauterkeit, U neigeanützig- kelt und Hilfsbereitschaft sich größter Sympathien in Magdeburg erfreute. Die Namen Fließ und Kuhlmey sind symbolisch für den beutigen Stand der deutschen Justiz: Der eine, der Anwalt des Rechts, wird in den Tod gehetzt; der andere, der triumphierende Wortführer des Unrechts und der Gewalt, degradiert die Justiz zu einer Dirne der Diktatur. Im Zeldien der Olympiade Antisemitismus wird mit Gefängnisstrafe erzwungen. Das Sondergericht In Braunschweig verurteilte den protestantischen Pastor Georg Althana zu sechs Monaten Gefäng- n 1 s, well er seine Schüler im Religionsunterricht aufgefordert hatte,»sich nicht an den antisemitischen Schreiereien zu beteiligen« und weil er zu Gott gebetet habe:»Das arme gehetzte Jüdische Volk zu schützen.« In der Urteilsbegründung behauptete das Gericht,»der Schöpfer selbst hat dieses Volk für seine Untugenden heimatlos gemacht.« Die nichtantisemitische Gesinnung wird im Dritten Reich als»Heimtücke « gegen den Staat mit Gefängnis bestraft.
Ausgabe
4 (16.2.1936) 140
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten