Nr. 152 BEILAGE du Neuer Vorwärts

Das Ghetto Europas

Börne.

Zum hundertfünfzigsten Geburtstage von Ludwig Börne  

10. Mai 1936

Freiheit sei die Seele meiner Feder, nichts vor dem Ludolf voraushabe, stammt| Gestalt der Welt geändert haben. Das sich möglichst wenig zeige; der später von bis sie stumpf geworden ist, oder meine von diesem auch die Entdeckung, daß die Schießpulver, die Buchdruckerei, die Re- Lassalle verspottete» Nachtwächterstaat<< Hand gelähmt. Juden nach der Weltherrschaft strebten; formation sind aus ihrem Schoß hervor- war eigentlich recht sein Ideal, und er

Da Ludwig Börne   in der politischen ja, sogar die>> rassische<< Gesetzgebung gegangen«. Aber eben deshalb brannte hatte den Mut, auszusprechen:>> Freiheit Totenstille des Vormärz   den Verdauungs  - des» Dritten Reiches  << ist ein Abklatsch ihn die Scham, daß dieses Volk politisch geht nur aus Anarchie hervor.<< Die neue schlummer der Gewalthaber aufs Emp- dieses Machwerks, das dartut, jüdisches» in schmachvollster Unmündigkeit« dahin- Organisation der Gesellschaft? Sie küm­findlichste störte, schrien die journalisti  - Blut bedürfe zu seiner Reinigung einer vegetierte. O, diese Deutschen  , die eine merte ihn wenig. Einer seiner Biographen schen Gassenbuben, die im Solde der Re- dreifachen Filtrierung,» und erst dem vielhundertjährige Zwingherrschaft zu nennt ihn zwar» einen der ersten Sprecher gierungen standen, hinter ihm her: Itzig! Enkel eines getauften Juden, und auch zahmen Haustieren gemacht hatte!» Wir der sozialen Fragen des Jahrhunderts<<, Schmul! Hepp hepp! Wenn ihn die» Stutt- nur in dem Falle, wenn er sich mit einer haben«, klagte er,» keine Geschichte, kein aber hinter diesen Titel gehört ein großes garter Hofzeitung einmal eine> erbärm- christlichen Familie vermählt, wären Klima, keine Volksgeselligkeit, keinen Fragezeichen. Je mehr Börne nach 1830 liche Judenseele« schimpfte, einen frivo- Staatsbürgerrechte einzuräumen<! Markt des Lebens, keinen Herd des Vater- erkannte, daß man vom Wort zur Tat len Juden, dem nichts heilig sei, war das Wenn einer, schaute Börne auf den landes, keinen Großhandel, keine Seefahrt, übergehen, daß man die Revolution vor­der Grundton vieler Schmähungen. Grund dieser Judenhetze und erkannte, und wir haben keine Freiheit, zu sagen, bereiten müsse, desto besser erkannte er daß sie ein Ablenkungsmanöver war, den was noch mehr wir nicht haben.<< Und wie auch die wichtige Rolle des Volksteils, Deutschen   nicht zum Bewußtsein der eige- unheilvoll offenbarte sich diese politische den die ewig Gestrigen naserümpfend den >> das heißt die en Knechtschaft kommen zu lassen; das Unmündigkeit der Deutschen   in deutsche   Volk wurde>> zum Gefängnis- europäischen Schicksal!» So ehrliche gute armen Leute, das heißt die einzigen, wel­wärter der Juden bestellt, weil die Ge- Häute als wir, hat die Welt nicht mehr. chen das verfluchte Geld nicht die ganze

In der Tat hieß Ludwig Börne  , ehe er 1818 zum Christentum übertrat, Löw Baruch, und da er am 6. Mai 1786 in der Frankfurter Judengasse   zur Welt gekom­

men war, reichte er noch ins tiefste Mittel­alter zurück. Denn gerade die freie Reichsstadt tat sich auf dem Felde der Judenentrechtung eine besondere Güte an. Noch galt die sogenannte» Stättigkeit<< aus dem Jahre 1617, die die Juden in ein Ghetto sperrte und in allem und jedem zum rechtlosen Vieh herabdrückte. Da die französische   Revolution in Gestalt der napoleonischen Herrschaft über Deutsch­ land   ausstrahlte, fielen mit anderen auch diese rostigen Ketten, und die Juden wur­den gleichen Rechts mit ihren übrigen Mitbürgern; zum lebenden Zeichen dessen saß der Dr. Börne, der in Berlin  , Halle und Heidelberg   erst Medizin, dann Kame­ralwissenschaften studiert hatte, von 1808 bis 1813 als Aktuarius auf dem groß­herzoglich frankfurtischen Polizeiamt sei­ner Vaterstadt. Aber als in den Befrei­ungskriegen, die alles, nur keine Frei­heitskriege waren, die Deutschen   das Joch fremder Tyrannei abgeworfen hatten, um sich das Joch der einheimischen Tyrannen desto fester auf den Nacken zu laden, wurde auch den Juden das alte würgende Halseisen wieder angelegt. Und nicht ge­nug, daß Gesetze und Verordnungen ihre Rechtsminderheit aussprachen, fand sich auch schreibfertiger Pöbel, um den alphabetischen Pöbel zu Judenverfolgun­gen anzustacheln.

an­

Was alles heute die Hakenkreuzler an Unrat aufklauben und gegen die Juden schleudern, stank schon in den Tagen Börnes zum Himmel. Es gab> Die Weisen von Zion<, nur daß ihr Titel anders lau­tete, nämlich:> Johann Andreä Eisen­mengers, Professor der Orientalischen Sprachen bei der Universität Heidelberg  , Entdecktes Judentum oder Gründlicher und wahrhafter Bericht, welchergestalt die verstockten Juden die Hochheilige Dreieinigkeit Gott  , Vater, Sohn und heil. Geist erschrecklicherweise lästern und ver­unehren, die heil. Mutter Christi schmähen, das Neue Testament, die Evangelisten und Aposteln, die christliche Religion spöttisch durchziehen und die ganze Christenheit auf das Aeußerste verachten und verfluchen usw. usw. Alles

ver­

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SPANIEN  

NORWEGEN  

SCHWEDEN  

DANEMARK  

SCHWEIZ  

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SOVJETUNION

ČECHOSLOVAKEI

Der totgesagte Marxismus  

ihrem Pöbel nannten; Pöbel

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Seele, allen Glauben abgehandelt, die ein­zigen, denen der Müßiggang   nicht alle Nerven ausgesogen und die einen Geist haben, die Freiheit zu wünschen, und einen Leib, für sie zu kämpfen«. Auch gewahrte er in dem Frankreich   des Julikönigtums mit steigendem Mißbehagen, daß eine > giftige Geldwirtschaft<< wie der Schirokko alle Adern austrocknete und daß sich eine neue, eine Geldaristokratie heraus­bildete, aber an den Saint- Simonisten, den Vorläufern des modernen Sozialismus, fand er, anders als Heinrich Heine  , nur ein mäßiges Wohlgefallen, und nur mit Schau­dern erwog er die Möglichkeit, daß das französische   Volk früher oder später den Besitz als Grundlage der neuen Geld­aristokratie zu erschüttern suchen werde, >> und dieses wird zur Güterverteilung, zur Plünderung und zu Greueln führen, gegen welche die der früheren Revolution nur Scherz und Spiel werden gewesen sein<.

Aber es war nun einmal die geschicht­liche Aufgabe Börnes, den deutschen  Menschen lediglich aus den staatlichen, ständischen und zünftlerischen Bindungen, in die er mumienhaft gewickelt war, her­auszuschälen und auf eigene Füße zu stellen. Dieser Aufgabe widmete sich der kleine, kränkliche Jude mit der ganzen Leidenschaft einer großen Seele.» Ach, sie glauben<<, bekannte er,> ich schreibe wie die anderen, mit Tinte und Worten, aber ich schreibe mit dem Blute meines Herzens und mit dem Safte meiner Ner­ven.< Obwohl die deutsche Sprache unter seinen Händen zu einem Instrument wurde, das mächtig tönte, obwohl er mit Ernst und Scherz, Pathos und Satire, Grimm und Witz ein großer Stilist war, wies er es weit von sich, ein Dichter, ein Künstler zu sein. Ein Kunstmensch war der> Stabilitätsnarr<, der> gereimte Knecht Goethe, den er mit einem alle Maße sprengenden Haß verfolgte seit ich fühle, habe ich Goethe gehaßt, seit ich denke, weiß ich, warum<-, Börne aber beschied sich mit der Rolle eines Tages­schriftstellers, der aus dem Tag für den Tag zu dem Tag das Seine sagt; der stete

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aus ihren eigenen, und zwar sehr vielen fangenen den Kerker nicht verlassen dür-| Das wissen auch die Gerber überall, und Tropfen wollte er sein, der den Stein mit großer Mühe und unverdrossenem fen«. Nicht minder ging ihm auf, daß seit Jahrhunderten haben wir Europa   mit höhlt. Gelegentlich träumte er wohl da­Fleiß durchlesenen Büchern mit Aus- häufig mit judenfeindlicher Rüpelei nur Pergament, Trommelfellen und Sohlleder ziehung der hebräischen Worte und deren ein Minderwertigkeitsgefühl betäubt wer- versorgt, und seit seit Jahrhunderten hat

von, eine Geschichte der französischen  Revolution zu schreiben, in Wirklichkeit

treuer Uebersetzung in die teutsche den sollte.» Der Verfolgungstriebe, so unsere Haut zu allen Verträgen und zu nahm er nie den Anlauf zu einem größe­Sprach kräftiglich erwiesen... Allen traf er den Nagel auf den Kopf,» liegt in allen Kriegen gedient.<< Wie alle freien Christen zur treuherzigen Nachricht ver- dem Hochmut aller Menschen, die, weil Geister seiner Zeit richtete Börne   nicht ren Werk. Was immer er zu geben hatte, fertigt und mit vollkommenen Registern sie keinen inneren Wert haben, nach den nur den Blick, sondern auch das Herz ist verkrümelt und verstreut in versehen. Mit Seiner königl. Majestät in Zeichen eines Wertes geizen. Wer nicht nach Frankreich  , dem Mutterland der Artikeln, Feuilletons, Kritiken und Brie­Preußen allergnädigsten Spezial- Privi- von Adel sein kann, um auf Bürger her- großen Revolution, und als im Juli 1830 fen und bildet doch, belebt von ein und legio. Gedruckt zu Königsberg   in Preu- abzusehen, will wenigstens ein Christ sein, der Vulkan wieder zu speien begann und demselben Hauch, eine unzerstörbare Ein­Ben, im Jahr nach Christi Geburt   1711.< um die Juden unter sich zu haben.<< den Thron Karls X. unter feuerflüssiger heit.

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nur

aus­

tausend

seelenlos träge, unbewegliche Masse deutschen   Philister, diesen furchtbaren

Und was sich der Verfertiger von Aber nicht im Traum kam es ihm bei, Lava begrub, riß es ihn aus dem deut- Wie kein Zweiter kannte Börne die schen Philisterland   gebieterisch nach > Mein Kampf allen Ariern> zur treu- die Judenfrage als A und O seines öffent­herzigen Nachricht in mühsamen Satz- lichen Wirkens zu betrachten. Die Unter- Paris, wo er die letzten sieben Lebens­ein jahre als Emigrant unter Emigranten bandwürmern abgetrieben hat, steht alles drückung der Juden war ihm schon in einem dicken Schmöker von 1821, Sinnbild für die allgemeine Unterdrük- verbrachte. Aber wenn seine Neigung dem Hemmschuh jeden Fortschritts, aber der den Börne an den Pranger nagelte:> Ju- kung der Deutschen  >> Ist nicht Deutsch  - Frankreich   galt, von dem die elektrischen göttliche Odem in ihm war so stark, daß Erdball er sich nicht entmutigen ließ. Er hatte dentum in allen dessen Teilen, aus einem land das Ghetto Europas  ? Tragen nicht Schläge über den ganzen gingen, so stellte schon ein französischer den Glauben. Er glaubte an die Idee, an staatswissenschaftlichen Standpunkt be- alle Deutschen   einen gelben Lappen am trachtet. Von Dr. Ludolf Holst.» Daß die Hute?< und um die Befreiung der Zeitgenosse fest: Börne   liebte Frankreich   die Entwicklung, er glaubte an Deutsch­ land  . Sogar in der Judenfrage war er Juden in Kunst und Wissenschaft nicht Deutschen   ging es ihm. Dieser Sproß der um Deutschlands   willen! einen großen Mann hervorgebracht hät- Frankfurter Judengasse   war ein größerer, Suchte Börne die Deutschen   aus ihrem unverzagt, da er es noch zu erleben hoffte, ten, daß Haß, Neid, Geiz, Habsucht, Bos- ein glühenderer deutscher   Patriot als alle zähen politischen Schlaf wachzurütteln, heit, Betrug, Rohheit und alle übrigen Jahnschen Bärenhäuter   zusammengenom- so hieß das erste wie das letzte Wort, das nes Buch gegen die Juden wird schreiben Laster jüdische Eigenschaften seien, daß men. Nicht leicht konnte man eine höhere er ihnen in die Ohren schrie: Frei- dürfen, ohne ins Zuchthaus oder ins Toll­> der gesamte in den Händen der Juden Meinung von den Deutschen   haben, da er heit! Mehr Liberaler als Demokrat, ging haus zu kommen«. Hundert Jahre später befindliche Handel< als Wucher betrach- sie für>> das gebildetste, geistreichste, er von dem Gedanken aus, daß, ganz erschien» Mein Kampf  «. War nun Börne  tet werden könne, das alles und noch viel tüchtigste und tugendhafteste Volk der gleich, unter welcher Regierungsform, zu- ein heilloser, ein verblendeter Optimist, mehr von den Enthüllungen der Nazis Welt« hielt; er sah in Deutschland  » die viel regiert werde. Im Namen des freien oder haben wir allen Grund, vor Scham zu steht schon bei Holst. Damit der Adolf Mutter jener Entdeckungen, welche die Einzelmenschen forderte er, daß der Staat erröten? Pierre Ponce  .

daß man kein» aufrührerisches oder alber­