Nr. 180 BEILAGE Itettocmarfs 22. November 1936 »Volk ohne Geist« Erster Start einer philosophlsdien Opposition Wer heute die Berichte über wissenschaftliche Kongresse in Deutschland liest und durch den Lautsprecher die Offenbarungen der neuen deutschen Geistigkeit vernimmt, denkt an Hamlets düstere Frage an Yoricks Grab, ob das Schicksal menschlichen Geistes und der menschlichen Seele darin beschlossen liege, daß»zuletzt ein grober Flegel den Menschen mit einer schmutzigen Schaufel um den Hirnkasten schlägt.« Es hat seit Jahrhunderten keinen Zeitabschnitt gegeben, wo die Humanität diese Schaufel so spüren mußte wie heute. Aber das Bekenntnis zur Menschlichkeit hat mit ihrem Trabanten, der Freiheit und der Vernunft, die Eigenschaft, zuletzt jeder Unterdrückung zu trotzen. Heute, wo die Methoden der Despotie mit rationalisiertem Raffinement ausgerichtet s:nd, muß die geistige Opposition nach den letzten noch möglichen Verstecken suchen, um den Verfolgern zu entgehen. In Deutschland geht ihr Weg nach alter Traditionsgebundenheit zunächst durch die Philosophie, wo das Wagnis des Wider- spruchs mit Hilfe überlieferter Formeln noch am leichtesten zu verbergen ist Vor kurzem tagte die Deutsche Philosophische Gesellschaft in Berlin . Sie war dem Thema:»Seele und Geist« gewidmet, also einem alten philosophischen Diskussionsobjekt Seit dem Dritten Reich und dem Kunterbunt von Pseudo-Mythos und stählerner Machtanbetung, Rassenvergottung und Angstkomplexen hat diese Kontrastierung jedoch einen neuen Sinn erhalten.»Seele«— das ist die Ausdrucksform für irrationale »Triebe«, und diese wiederum werden vom »Blute« diktiert»Geist« auf der andern Seite— er steht in verdächtiger Beziehung zu den Entscheidungen der Vernunft Das Thema der Deutschen Philosophischen Gesellschaft , die einen stattlichen Kreis von deutschen und ausländischen Geleimten um sich versammelt hatte, gab also die Möglichkeit, sich hinter rein geistigen Orientierungen mit der»Weltanschauung« des Dritten Reiches in der biegsamen Sprache der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Der erste Redner war der bedeutende Pädagoge und Philosoph Professor Eduard Spranger , der weit über die Fachkreise hinaus geistige Autorität besitzt. Er war dem braunen Regime gleich nach der Machtübernahme nicht bequem und schied grollend aus dem Amte. Erst n�ieh längeren Verhandlungen, in deren Verlauf sich Spranger den vorgeschriebenen Zeremonien beugte, trat er wieder in den Lehrkörper der Berliner Universität ein. Sein Vortrag über»Seele und Geist«, der die gesamte Tagung beherrschte, gipfelte in folgenden Sätzen: Allein der Geist ist das Medium derVorstellbarkeit Es gibt ohne ihn überhaupt keine höhere Beziehung unter den Menschen. Ohne seine Vermittlung bleibt das bloß Seelische für uns unzugänglich, denn an die seelische Seite im menschlichen Bewußtsein gelangen wir nur über geistige Vorgänge, wie es auch eine direkte Wahrnehmung der seelischen Bewegung eines anderen überhaupt nicht gibt. Spranger kam auf Grund seiner scharf abgegrenzten Thesen zu dem Ergebnis, daß der Geist allein Medium und Kulturschöpfer sei:»Nur im Reiche des Geistes kann ein Volk seiner sittlichen Vollendung ent- gegenreife n.« Sprangers Referat wirkte wie eine »Bombe«. Die übergroße Mehrheit der philosophischen Corona zeichnete den Redner durch begeisterten Beifall aus— eine Manifestation bedrückter Seelen, die sich am Mute anderer zu entzünden pflegen. Freilich, äußerlich waren Sprangers Vorstöße gegen den Modephilosophen Ludwig K 1 a g e s gerichtet, einen Besitzer der höheren braunen Weihen. Klages, der von der Graphologie zur Philosophie kam, gab vor einer Reihe von Jahren ein Buch her- •»Der Geist als Widersacher der lÜw worin der Geist und alles, was sich K««' � d!!1.IiUltUr" ,. Gegenwart verantwortheh gemacht wird. Klages will die Menschheit, »retten«, indem er sie zur»Ganzheit« und zum»Unbewußten« zurückführen will. Der sündige Geist hat aber noch ein viel schlimmeres Verbrechen auf sich geladen: er ist der Schöpfer der forschenden und wägenden Wissenschaft, die alles Geschehen der»Lebendigkeit« entkleidet. Man begreift, daß Klages mit solchen Bekenntnissen von der Geistfeindlichkeit der nationalsozialistischen Geburtshelfer mit offenen Armen aufgenommen wurde. Er prägte Sätze, an denen sich inhaltlich wie stilistisch Rosenberg und Hitler und alle kleineren Trabanten der völkischen Mythoslehre fruchtbar zu nähren vermochten.»Seele ist Schauung, UrbUder sind Vergangenheitsseher, die zu ihrem Erscheinen der Verbindung mit dem Blute leibhaftig Lebendiger bedürfen,— auf dem Wege einer mythischen Hochzeit.« Es waren die metaphysischen Umtriebe eines Wochenend-Philosophen, wo es nach Blut und Erde roch, in dessen Bereich verschwärmte Räuschlinge, rassische Instinktriecher und bluterstarkte Kulturabträger wie die Motten ins Licht flogen. Wenn man bei Klages liest, daß der einzige Quellpunkt echter Erleuchtung die»wollüstig-selige Ekstasis« sei, daß die Welt der Tatsachen durch die»W elt der Bilder« abgelöst werden muß, so darf man in ihm mit Fug und Recht als einen der Nährväter der neuen»Erlebnisseele« mit Militärmusikbe- gledtung erblicken. Sprangers Angriff auf diese Klages- Gesänge ging aber weit über sie hinaus. Er traf die Wissenschaft des Dritten Reiches — was seinen Hörern zu merken nicht schwer fiel— mitten ins Herz. In Heidelberg hat Sprangers Antipode K r i e c k feierlich im Namen seines Führers erklärt, daß die vom Geist bewegte Humanitätsidee für die deutsche Wissenschaft nicht mehr»verpflichtend« sei. An ihre Stelle hat befehlsgemäß die »völkische Lebensordnung«, die Erhaltung der»arteigenen Kraft« zu treten, mit dem Leitprinzip der Stimme des Blutes. Sprangers Bekenntnis zum Geiste war die Antithese dazu. Der für ihn allein kulturschöpferische Geist erkennt»totale« Po- stulate nicht an. Er existiert gerade davon, was die neue nationalsozialistische »Wissenschaftslehre« grundsätzlich nicht anerkennt: nämlich von jener Objektivität, die die Werte nicht fixiert, sondern immanent sucht. Und was sich von selbst ver- ' steht: der»Geist« kann sich nicht mit j einem Führer abfinden, der nicht nur politische Befehlsgewalt, sondern auch in der Kulturgestaltung die Unfehlbarkeit der Gesinnungs- und Meinungsbildung beansprucht. Indessen hat man keinen Grund, Spranger und denen, die ihm zustimmten, besonderen Respekt zu bezeugen. Sie machen alle offiziell den braunen Betrieb mit, heben die Arme zum huldigenden Gruß und danken dem Führer telegraphisch mit der Beteuerung mit ihm für Deutschlands Ehre»auch in der Wissenschaft« wirken zu wollen. Die»Seele« der Unterwürfigkeit, erfüllt von der Furcht, Amt und Würden in Gefahr zu wissen, ist stärker als der»Geist« wissenschaftlicher und weltanschaulicher Ueberzeugung. Es ist Geist ohne seinen schöpferischen Widerpart, dem Willen zum Opfer, wodurch es ihm an Selbstachtung gebricht. Sie kleiden ihren Widerspruch gegen individuelle und gesellschaftliche Knechtung in Sätze, die sublim und vieldeutig gefeilt sind und gegebenenfalls die Rückzugslinie nicht versperren. Für Eduard Spranger , den weltbekannten Gelehrten, ist das Wagnis noch kleiner als für andere. Er ist auf der Fahrt nach Tokio , wo er für längere Zeit die Leitung eines wissenschaftlichen Instituts übernimmt Ihm steht die Welt offen, aber die Hürde des braunen Reiches wül er nicht überspringen. Er will nichts»verlieren«, weder Lehrstuhl, noch Bibliothek, noch Reputation unter der herrschenden Schicht Wenn er, wie er es in seinem Vortrag tat, den Geist als»Funke aus Gott im Menschen« bezeichnet, so hält er für seine Person von diesem Funken honorige Distanz; er ist für ihn privat unverbindlich. So kommt man zuguterletzt doch noch zu einer Ehrenrettung der»Seele«. Ihr entströmt das unwägbare und angeborene Be- kenntis zur Freiheit im Bunde mit der persönlichen Einsatzbereitschaft Professorenreden in Ehren. Aber die Hunderttausende von Kämpfern, die im Widerstand verharren und keine so leichten Fluchtweg wie die Männer von Geist, Wissenschaft und einigem Vermögen besitzen, sind der fruchtbarere Humus für die sittliche Vollendung des deutschen Geistes und der Wende der deutschen Geschichte. Andreas Howald. ein freier Mann. Sein Buch aber, in dem er seine Befreiung von Vorurteil und Standesdünkel schildert, weist nicht nur in die Vergangenheit zurück, es grüßt auch in die Zukunft hinein. Sein Weg von rechts nach links, den er gegangen, wird sich eines Tages zur Heerstraße weiten, auf der ein befreites Volk j marschieren wird. Für ihn konnte es nur ein Dornenweg sein. Schicksal und Ruhm des Pioniers! F. St. Einer9 der aufrecht starb Gerladis Lebenserinnerungen Im Sommer 1935 ist Hellmut von Ger lach gestorben. Nun, da sein nachgelassenes, von Emil Ludwig herausgegebenes Erinnerungsbuch»Von rechts nach links« im Züricher Europaverlag erschienen ist, ist es uns, als sei er noch einmal lebendig unter uns getreten. So immittelbar wirkt dieses Buch.»Ce qul n'est pas clair, n'est pas frangals«, zitiert er an irgendeiner Stelle:»Was nicht klar ist, das ist nicht französisch.« Man könnte ebenso gut sagen: »Was nicht klar ist, kann nicht von Gerlach sein.« Hier ist jede Zeile ein klarer Gerlach: nicht»geistreich«, aber gescheit, nicht witzig, aber humorvoll, nicht sentimental, aber menschlich. Gerlach stammte aus einer schlesischen, im Jahre 1840 geadelten Landwirtsfamilie. Aus einer agrarisch-junkerlichen Umgebung wuchs er über den Regierungsassessor in die konservative Journalistik hinein. Ueber Stöcker und Naumann geht sein Weg von rechts nach links: vom Antisemiten zum Liberalen, vom Schwärmer für Heer und Flotte zum entschiedenen Pazifisten. Seine soziale Gesinnung bringt ihn in die Nähe der Sozialdemokratie. Es ist ein langer, schicksalsreicher Weg, der hier in einem prachtvoll ehrlichem, ungekünsteltem Stil mit plastischer Eindringlichkeit geschildert wird. Wer dieses lebendige Buch liest, lernt Deutschland besser kennen. Manche alte Geschichte wird erzählt, die an die Gegenwart rührt. Man erlebt die Dramatik des Tivoli-Parteitages— des reak- tionärsten Parteitages der Konservativen im Jahre 1892—, der doch nicht mehr dazu kam, ein neues Sozialistengesetz zu fordern, weil eine junge Opposition unter Gerlachs Führung dagegen Protest erhob. Zwei Jahre später scheitert ein Staatsstreichplan, der das allgemeine Reichstags wähl recht beseitigen soll, an dem gleichen Widerstand. Auch die alten preußischen Konservativen waren, dem Geist der Zeit entsprechend,»liberali- stisch« angehaucht und nicht ganz frei von der Neigung, im politisch Andersdenkenden immer noch einen Menschen zu sehen. Auch für das schlimmste Scharf machertum gab es auf dem Wege zur totalen Bestialität humanitäre Hemmungen. Gerlach erklärte die Entwicklung, die er genommen hat, ausschließlich aus seinem Verstände. Er betrachtete sich selbst als einen kritischen Geist, der das Vernünftige sucht und es festhält, sobald er es gefunden hat Eine ihn ehrende Schamhaftigkelt hinderte ihn, an sich selber zu erkennen, daß Politik eine Angelegenheit nicht nur des Verstandes, sondern auch des Charakters ist. Gerlach war nicht nur ein fanatischer Rationalist er war auch eine eminent moralische Persönlichkeit, und sein politisches Ziel hatte er sich gestellt wie es seiner gerechten und menschlichen Gesinnung entsprach. Es ist die Tragik seines Lebens, daß schließlich die Ungeister der Stöckerzeit die er in seinem Innern besiegt hatte; über ihn herfielen, ihn aus dem Lande jagten, und ihn mit ihrem stumpfsinnigen Haß und ihren schmutzigen Verleumdungen bis in das Exil verfolgten. Er trug dies alles tapfer und starb aufrecht, Brauner Kohl »Die Hausfrauen werden nochmals darauf aufmerksam gemacht, in diesen Wochen, solange der Herbstkohl noch auf dem Markt ist, möglichst viele Kohlgerichte zu kochen, damit die reichen Mengen dieses gesunden Nahrungsmittels nicht verderben, sondern für die Ernährung nutzbar gemacht werden.« (»Kölnische Volkszeitung«, 6. 11. 1936.) ... Gar manche Mahlzeit in vier Wochen Zu unserm eignen besten Wohl, So herrlich schmackhaft uns zu kochen Von unserm guten deutschen Kohl! Ich denk, wir machen's wie die Hasen Und essen fortan Kohl zu Häuf, Weil wir es in der Zeitung lasen: »Nutzt jetzt den bill'gen K o h 1 v e r- kauf!« (»Preußische Zeitung «, 6. 11. 1936.) »Eine große Verantwortung liegt auf euren Schultern.« Mit diesen Worten leitete Ministerpräsident Generaloberst Gering während seiner großen Rede im Sportpalast seinen Appell an die Hausfrauen ein, mitzuhelfen im gemeinsamen Kampf gegen hier und da auftretende Knappheit einzelner Lebensmittel. Die deutsche Hausfrau ist sich dieser Verantwortung voll bewußt. Sie weiß, daß in erster Linie die Speisen auf den Tisch gehören, die jahreszeitlich bedingt sind. Deswegen bringt sie in diesen Wochen mit ihrem überreichen Segen an deutschem Herbst- k o h I lieber ein Kohlgericht zuviel als zu wenig. (»Deutsche Allgemeine Zeitung«, 8. 11. 1936.) »An der Ecke der Knobeisdorff- und Schloßstraße steht der Mann, der Alt-Char- lottenburg wiegt. Man klettert auf seine Waage, trauert einigen Pfunden nach, die auf unerklärliche Weise verlorengegangen sind, und bezahlt für die Kunde seinen Sechser. »Det Is man nlch so schlimm, junger Mann«, tröstet der Wiegemeister,»det Hecht in die Jahreszeit, det Abnehme n.< (»Der Westen«, Berlin , 6. 11. 1936.) »In manchen Gemüsesorten waren die Anfuhren so stark, daß der Absatz nicht glatt vonstatten ging. So bleibt noch immer der Weißkohl zu wenig beachtet, obgleich die Ernte sehr reichlich ist; namentlich sollte die Hausfrau auf den weniger haltbaren Herbstkohl in Zukunft stärker zurück- grelfen, um zu vermeiden, daß hier größere Mengen verlorengehen... Die Zufuhr von Rosenkohl ist in diesen Tagen vielfach äußerst umfangreich, so daß an einigen Stellen Schwierigkeiten In der Unterbringung eintraten. Bei den zahlreich vorhandenen Koblsorten hat sich das Interesse für Grünkohl noch nicht verstärkt, so daß der Absatz auch hier nicht immer glatt verläuft.« (Berliner Marktbericht vom 6. 11. 1936.) Das zusätzliche Schaf Auf einer Kundgebung der Deutschen Ar beitsfront in Königsberg verkündete der Leiter der Sozialabteilung des Gebietes I der HJ , Oberbannführer Hering, man werde künftig jedem BdM -Mädchen auf dem Lande auferlegen. daß es»zusätzlich ein Schaf aufziehe und 25 qm Flachs anbaue«.— Das ist zwar eine ganz sinnige Schäferidylle, aber die deutschen Fleischer würden es wohl mehr begrüßen, wenn beispielsweise jedes Reichstagsmitglied oder jeder Gau -, Untergau-, Bann-, Unterbann-, Oberschar-, Schar- und Unterscharführer ein zusätzliches Rindvieh neben sich aufwachsen ließe.
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4 (22.11.1936) 180
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