Nr. 182 BEILAGE HcütfUacmSrfö 6. Dezember 1936 Die Politik der Sowjetunion Kommunistische Ideologie und macfatpolitisdie Realität Wir haben an dieser Stelle Ausführun­gen der wirtschaftlichen Unterlagen aufzu­zeigen versucht, die die aggressive Expan­sionspolitik der Diktaturen bestimmen. Wir haben gesehen, wie dadurch machtpolitische Probleme erster Ordnung, die die Existenz der Staaten selbst unmittelbar berühren, aufgeworfen werden und sich in der deutsch -italienischen Kooperation eine Kriegskonstellation vorbereitet, die England und Frankreich bedroht. Sind aber diese objektiven Feststellungen nicht im völligen Widerspruch mit der herrschenden Ideo­logie, wonach es sich in der auswärtigen Politik heute um den großen Gegensatz zwischen Diktatur und Demokratie, ja zwi­schen Faschismus und Bolschewismus, zwi­schen Bourgeoisie und Proletariat handle? Hat nicht der spanische Außenminister del Vajo kürzlich die These aufgestellt, die Zeit der nationalen Kriege sei vorüber, wir stünden wie zur Zeit der Religionskriege jetzt wieder vor einer neuen Aera der Weltanschauungskriege, die in Spanien be­reits ihren Anfang nähme? Und lassen Hitler und seine Kumpane einen Tag ver­gehen, an dem sie nicht den heiligen Kreuz­zug gegen den Bolschewismus predigen und finden sie damit nicht die Zustimmung Ita­ liens und Japans ? Die Macht dieser Ideo­logie ist um so stärker, da sie eine große Aufnahmebereitschaft auch in sozialisti­ schen Kre sen findet Zeigt sich denn nicht in dieser Entwicklung, daß der Klassen­kampf aus dem einzelstaatlichen Rahmen auf das internationale Gebiet übertragen werden muß? Daß die Arbeiterklasse über­all den Kampf gegen den Faschismus zum Inhalt ihrer Außenpolitik machen muß selbst auf die Gefahr des Krieges hin? Und bleibt ihr denn eine Wahl, wird ihr denn nicht die Entscheidung von dem faschisti­schen Angreifer aufgezwungen? Die Idee ist so verführerisch, weil sie so einfach ist. Aber Weltanschauung und- auswärtige Politik, Ideologie und Realität ist eine sehr komplizierte Angelegenheit. Franz I. , allerchristlicher König von Frank­ reich , der Gegenspieler Karls V., schloß ein Bündnis mit den Ungläubigen, den Türken. Das wurde damals von den Gegnern genau so als Verrat am christlichen Abendland gebrandmarkt, wie heute das französisch- sowjetrussischc Abkommen als Verrat an der europäischen Kultur. Aber Franz I. brauchte Unterstützung gegen Habsburg in der machtpolitischen Auseinandersetzung um den Besitz Oberitaliens. Und im drei­ßigjährigen Krieg stand auf Seiten der deutschen Protestanten und Gustav Adolfs der Kardinal Richelieu trotz der blutigen Unterdrückung des französischen Prote­stantismus, wie heute Atta Türk trotz der Niederhaltung des Kommunismus der Ver­bündete Stalins ist. Richelieu ging es trotz seines militanten Katholizismus eben um das französische Machtinteresse, um die Rheingrenze, um die Schwächimg der habs- burgischen Kaisermacht. Der ideologische Verrat war die Grundlage der französischen Hegemonie. Es ist eine allerdings psychologisch ver­ständliche Eigenschaft vieler, die sich Mar­xisten nennen, daß sie von der kritischen Analyse ihrer eigenen sozialistischen Ideo­logie, die vielleicht noch vor kurzem echte realistische Erkenntnis war, zurückschrek- ken und damit zum Gegenteil von Marxi­sten, zu Dogmatikern wurden. Das ist be­sonders häufig auf dem Gebiet der auswär­tigen Politik und nirgends gefährlicher. Denn die verhältnismäßig einfachen, weil zumeist klar klassenmäßig bestimmten Pro­bleme der inneren Politik der Arbeiterbewe­gung werden dann in den Hintergrund ge­drängt durch die ungeheuer mannigfaltigen Existenzfragen der Staaten. Die Staats­organisation muß aber in den kritischen Zeiten ihrer Lebensbedrohung alle Kräfte der Gesellschaft und ihrer dirigierenden Klassen und Schichten ihrer Macht unter­ordnen. Zeiten, in denen die Außenpolitik dominiert, die Kriegsdrohung akut wird, sind deshalb für die moderne Arbeiterbe­wegung nur zu leicht Zeiten schwerer Tra­gik. Ihr eigentlicher Kampf wird gehemmt durch die Gefahr der auswärtigen Kampf- entscheidung, der ihr Kampfterrain mit unmittelbarer Vernichtung bedroht. Man braucht sich nur ein Beispiel vorzustellen. Gesetzt den Fall, die augenblicklichen sozia­len Spannungen in Frankreich führten zu direkt revolutionären, bürgerkriegsähn­lichen Ereignissen, bestände dann nicht die große Gefahr, daß das eine Revolution für Hitler und Mussolini würde, eine Gelegen­heit der Diktaturen für die Ausführung ihrer Machtpläne? Freilich ist die Hemmung der soziali­ stischen Selbstkritik begreiflich genug, da sie allzu leicht eine Schwächung der eige­nen Position herbeizuführen scheint. Aber aussprechen, was ist, ist die Vorbedingung für die Erkenntnis, was werden wird, und für die Richtigkeit der Entscheidung, wie man handeln soll. Und die Kreuzung zwi­schen den wirklichen Machtmotiven, die in letzter Instanz die auswärtige Politik do­minieren, und den ideologischen Motiven, die sie zu bestimmen scheinen, ist gerade heute wieder so mannigfach und verwir­rend, daß eine nüchterne Analyse nur um so notwendiger ist, selbst auf die Gefahr hin, Empfindungen und Anschauungen zu verletzen, die an sich durchaus achtens­wert sind. Beginnen wir mit einer Kritik der russischen auswärtigen Poli­tik, wobei wir vorausschicken, daß auch uns Sowjetrußland heute als wichtiger Fak­tor der europäischen Friedenspolitik er­scheint. Wir übergehen die Kriegspolitik des Bolschewismus, den Friedensschluß von Brest-Litowsk , der eine ungeheure Stärkung des damals noch siegreichen deut­ schen Imperialismus war, den Lenin gegen den Rat Trotzki vollzog. 1918 war dann die russische Regierung gegen den Frie­densschluß. Radek, heute das nächste Opfer der Stalinschen Mordjustiz, wirkte damals in Berlin für Ablehnung des Frie­densvertrages und»Fortsetzung des Krie­ges hinter der Elbe «. Es war das Inter­esse der Machterhaltung des Bolschewis­mus, der mit Recht den Angriff der En­tentemächte fürchtete, dem die deutsche Arbeiterschaft ebenso wie die englische und französische dienen sollte. Nur daß damals auch subjektiv die Fortsetzung des Krieges auch als Weitertreiben der Welt­revolution erscheinen konnte. Nach dem Friedensschluß begann die Annäherung der russischen Regierungspolitik an die der Deutschnationalen . Der Kapp-Putsch wurde in Moskau sehr sympathisch aufgenommen und die»Iswestija« schrieb damals, mit einer ehrlichen nationalen Regierung werde eine Verständigung leichter sein als mit den sozialdemokratischen Verrätern. Der Rapallo-Vertrag wurde vollends zu einem engen Militärbündnis zwischen der Reichs­ wehr und der Sowjetregierung. Während der Rheinlandbesetzung wirkten die deut­ schen Kommunisten unter russischem Ein­fluß für die Verschärfung des Konflikts, der deutsche Nationalbolschewismus trieb seine Blüten. Die russische Machtpolitik betrachtete die Westmächte und besonders England als ihre Hauptfeinde und Deutsch­ land als ihr Bollwerk; deshalb suchte sie den Eintritt Deutschlands in den Völker­bund, diese Gesellschaft imperialistischer Räuber zu verhindern. Deshalb mußten die deutschen Kommunisten noch bei den letzten Wahlen das ganze außenpolitische Programm der nationalen Sozialisten gegen den Schandvertrag, die Reparat'onen, ge­gen Frankreich , übernehmen, mußte Thäl- mann in einer elsässischen Versammlung für eine neue Volksabstimmung und die Saarkommunisten noch unter Hitler für die Wiederangliederung an das Reich eintre­ten; deshalb mußte die deutsche Sozialde­mokratie als konsequente Vertreterin der Friedens- und Verständigungspolitik bis aufs Messer der Ausdruck ist ja leider nicht nur bildlich zu verstehen bekämpft werden. Immer mehr diente die kommuni­stische Ideologie der russischen Machtpoli­tik, nicht die russische Macht der kommu­ nistischen Idee. Vor die Wahl zwischen Machtinteresse und Idee gestellt, entschied das Machtinteresse. Weder die Zermal­mung der ungarischen Räterepublik, noch die blutige Unterdrückung der Arbeiter­bewegung in Bulgarien und den übrigen Balkanstaaten, für die Sinowjeff überall den Sieg der proletarischen Diktatur ver­kündet hatte, veranlaßte die Sowjetregie­rung zur Intervention. Das verbot das Interesse der Selbsterhaltung und so über­ließ die Sowjetregierung die Armen ihrer Pein, nachdem die Komintern sie in die aussichtslosen Putsche getrieben hatte. Die Aenderung der russischen Stellung zu Deutschland , die auch unter Papen und Schleicher sehr intim geblieben war, wurde erst von Hitler provoziert. Nicht gleich. Noch in seiner ersten Reichstagsrede hatte Hitler den Kampf gegen den deutschen Kommunismus als reine innere Angelegen­heit bezeichnet internationale Verträge gegen die Komintern waren damals noch nicht erfunden. Die guten Beziehungen zur russischen Regierung wurden aufrecht­erhalten. In der Tat wurde kurz darauf der Rapallovertrag erneuert; die russische Regierung erhob gegen die blutige Ab- schlachtung der"deutschen Kommunisten keinen Protest Erst als auf dem Londoner Weltkongreß die von Hugenberg und Schacht als den deutschen Delegationsfüh­rern verfaßte Denkschrift vorgelegt wurde, die die Expansion nach dem Osten als Er- forderung der deutschen Politik bezeich­nete, trat die völlige Aenderung der rus­sischen Außenpolitik ein, der Eintritt in den Völkerbund, die Wendung zu den West­mächten, der Abschluß der Abkommen mit Frankreich und der Tschechoslowakei . Als Instrument der Außenpolitik mußten die kommunistischen Parteien sich selbst um­stülpen, als Verteidiger der Demokratie, als von jetzt an wirklich aufrichtige Vor­kämpfer der Einheitsfront und Volksfront antreten. Es waren Gründe der Macht- Politik, Gründe der Selbstbehauptung, nicht Gründe der sozialistischen Ideologie, oder kommunistischer Selbsterkenntnis, die die­sen völligen Umsturz der russischen Poli­tik bewirkten. Andererseits: der antibolschewistische Furor Hitlers betätigt sich auf dem Gebiet der auswärtigen Politik mit besonderer Kraft erst seit dem Abschluß der franzö­ sischen und tschechischen Verträge. Er ist ein ausgezeichnetes Mittel, die Gegner zu atomisieren, in der Außenpolitik das Spiel der Innenpolitik zu wiederholen. Es ist ein ausgezeichnetes Mittel, die machtpolitischen Ziele gegen Westen zu tarnen, die Aufmerk­samkeit der Westmächte auf den Osten abzulenken. Es war ein ausgezeichnetes Mittel, solange die Gefahrenzone nicht durchschritten war, die deutsche Aufrü­stung als ein unentbehrliches Verteidigungs­mittel gegen die drohende»bolschewi­stische« Militärmacht auszugeben, und es hat namentlich in England vorzügliche Dienste getan. Und es leistet ausgezeich­nete Dienste, indem es in alle bedrohten Länder Zwiespalt über die außenpolitische Politik trägt, Bundesgenossen bei der Re­aktion zur Verteidigung gegen die bolsche­wistische Gefahr und damit für den eige­nen Angriff wirbt. Und dabei wird Hitler noch von all denen unfreiwillig unterstützt, die ihm nicht auf die zur Machtentschei­dung bewaffneten Fäuste, sondern nur aufs Maul sehen, und statt die Realität zu erkennen, nun ihrerseits in den Ruf ein­stimmen: Hie Faschismus, hie Bolschewis­mus und Sowjetunion und blind bleiben gegenüber der Aggression gegen die West­mächte./ Noch frappanter ist die Entwicklung der italienisch-russischen Beziehungen. Mussolinis Italien war einer.der ersten Staaten, das die Anerkennung der Sowjet­regierung vollzog wenige Tage nach der Ermordung Matteottis erschien Mussolini bei dem Diner des russischen Botschafters in Rom . Seitdem haben Italien und Ruß­ land ununterbrochen gute Beziehungen un­tereinander gepflegt und ihre wirtschaft­lichen Austauschinteressen auszugestalten gesucht Noch vor gar nicht langer Zeit beschäftigte sich die Weltpresse mit dem Thema einer weiteren Annäherung zwi­schen den beiden Mächten. Eine Aenderung ist erst neuerdings eingetreten. Das Ab­kommen Rußlands mit der Tschechoslowa­ kei erschwert die Absicht der Atomisie- rung der Kleinen Entente , die Italien in Kooperation mit Deutschland verfolgt. Noch unmittelbarer vielleicht wirkt der Ab­schluß des Vertrages von Montreux über die Wiederbefestigung der Dardanellen. Er macht nicht nur die Türkei , den Bundes­genossen Rußlands , der sich zugleich Eng­land sehr genähert hat, zum Herren der für die Macht im Mittelmeer wichtigen Meerengen; er hat und das erklärt das anfängliche Zögern Englands, auch das Recht Rußlands festgestellt, den Bestim­mungen des Völkerbunds gemäß den ange­griffenen Mächten mit seiner Schwarzen- Meer-Flotte gegen den Angreifer zur Hilfe zu kommen. Das heißt, die russische Flotte i verfügt in diesem Fall über den Ausgang ins Mittelmeer , keine angenehme Aussicht für Italien in der gegenwärtigen Situation. Mussolinis Wendung in der auswärtigen Politik gegen den Bolschewismus, die neuesten Datums ist, entspringt also kei­neswegs der Ueberredungskraft Hitlers und Ribbentrops, entspringt keiner An- 1 feuerung einer für den Gebrauch in der Außenpolitik längst abgetragenen Ideolo­gie, sondern sehr reellen Machterwägun­gen. Rußland erscheint jetzt als macht­politischer Faktor im Mittelmeer , und das kann um so bedenklicher werden, als da­durch das Verhalten der Kleinen Mittel­meermächte, die England ohnedies an sich heranzuziehen sucht, mitbestimmt wird, diese dem italienischen Einfluß unzugäng­licher werden. Besagt aber der Nachweis, daß die Po­litik der Sowjetregierung nicht im Dienst einer proletarischen sozialistischen oder kommunistischen Ideologie steht, etwas gegen die Uebereinstimmung ihrer Politik mit denen der sozialistischen Parteien? Ist nicht umgekehrt die Ableitung der Frie­denspolitik der Sowjetunion aus ihren machtpolitischen Interessen das stärkste 1 Argument für die Aufrichtigkeit dieser Politik und ist damit nicht eine Solidari­tät, ja Identität dieser Politik mit der der sozialistischen Parteien gegeben? Darauf ist zunächst zu antworten, daß die aus­wärtige Politik der sozialistischen Parteien gegenüber jeder staatlichen Machtpolitik ihre volle Selbständigkeit bewahren, sie nicht ideologisch als ihre eigene akzeptie­ren kann, auch wenn sie streckenweise mit der ihren zusammenfällt. Denn die russische Machtpolitik entspringt eben an­deren Motiven als den Interessen der Ar­beiterbewegung und hat deshalb andere eigene Gesetze. Dr. Richard Kern. Der Unterschied Auf dem Rei ebsbau ern tag in Goslar , wo von den offiziellen Rednern des Reichsnähr­standes die Forderung der Verlänge­rung der Arbeitszeit für die In­dustriearbeiterschaft als ein Mit­tel zur Bekämpfung der Landflucht erhoben wurde, hat der Hauptabteilungsleiter des Reichsnährstandes, Haidn, sich sehr nach­drücklich für niedrige Löhne der Landarbei­terschaft eingesetzt.»Der redne Bargeldlohn«, so sagte er nach dem Bericht,»sei die mehr jüdisch-marxistische, also kapitalistische Lohnform.« Da die Nationalsozialisten gegen alles »jüdisch-marxistische« sind, deshalb haben sie die Löhne der deutschen Arbeiter und An­gestellten so tief herabgedrückt. Deshalb be­legen sie selbst diesen traurig-tiefen Lohn noch mit den verschiedensten Pflichtbeiträ­gen und kürzen ihn weiter durch»freiwillige« Zwangsspenden. So gelingt es ihnen tatsäch­lich, den Lohn auf ein kaum für möglich ge­haltenes Minimum zusammenschwinden zu lassen. Dagegen haben sie gegen den »Barprofit« der Kapitalisten kein Wort einzuwenden. Ihn finden sie also offenbar weder»jüdisch-marxistisch« noch kapitalistisch. Aber die Nationalsozialisten haben den Arbeitern und Angestellten ja nicht nur den Barlohn erheblich gekürzt. Auch den größten Teil der Leistungen, die vor Hitlers Macht­ergreifung auf sozialem und kulturellem Ge­biet der Staat für sie vollbrachte, haben sie ihnen geraubt Keine»Kraft durch Freude « und keine Winterhilfe kann ihnen diese ent­zogenen Werte ersetzen.