Nr. 195 BEILAGE
Ücuucttaörfs
7. März 1937
Moskauer   ProzeßgehemmSsse Enthüllungen eines führenden Bolsdiewtsten über die politlsdien und psycfaologisdien Hintergründe der Moskauer   Prozesse und die Ausrottung der alten Bolsdbewisten IL Die Hintergründe des Attentats auf Kirow
Ueber den Fall Kirow könnte man vieles erzählen, er verdient zweifellos, aus­führlich in der Presse beleuchtet zu wer­den, denn sedt dieser unglückseligen Mord­tat beginnt eine neue Periode in der Geschichte der Sowjetunion  . Aber ein solcher Bericht würde mich zu weit führen, und mein Brief ist schon ohnedies sehr lang geraten. Deshalb will ich nur auf jene Momente hinweisen, die für die Erkenntnis der Entwicklung der innerparteilichen Beziehungen von Bedeu­tung sind. Schon die ersten Telefonogramme, die die Meldung von der Ermordung nach Moskau   brachten, ließen keinen Zweifel darüber bestehen, daß der Mord einen politischen Charakter trug; bei Niko- lajew(dem Attentäter) wurde eine vor­bereitete Deklaration gefunden, in der die Motive dargelegt wurden, die ihn zur Mordtat veranlaßten. Aber bei den Stim­mungen der innerparteilichen Versöhnung, die in den vorhergegangenen Monaten entstanden waren, erschien es vielen psy­chologisch unmöglich, den Schuß vom 1. Dezember als einen Terrorakt zu wer­ten, der auf dem Boden des inneren Par­teikampfes verübt worden war. Man wollte nicht daran glauben, daß der Mann, der der Hauptvertreter der Versöhnungspoli­tik war, von der Kugel eines Oppositio­nellen getötet worden war, und zwar in einem Augenblick, wo sein Sieg fast ge­sichert schien. Diese Stimmungen wurden auch durch die Furcht vor den Folgen dieses Terroraktes für die Entwicklung der inneren Partedverhältnisse beeinflußt. Daher jene Stimmung der ersten Dezem­bertage 1934, wo viele bestrebt waren, die Mordtat durch die»Intrigen einer auslän­dischen Macht«(deren Namen nicht ge­nannt zu werden brauchte) zu erklären, deren blindes Werkzeug Nikolajew   war. Es wurde daraus die Schlußfolgerung ge­zogen, daß diese Mordtat für die inne­ren politischen Beziehungen in der Sow­ jetunion   keine Bedeutung habe und daß jene Linie, die nach de® Referaten Kirows in der Plenarsitzung des Zentralkomitees soeben festgelegt worden war, voll und ganz als Leitlinie der Parteipolitik beibe­halten werden müsse. Diese Version wur­de besonders von jenen aufgegriffen, die irgendwann irgendeine Beziehung zur Op­position gehabt hatten und die jetzt nicht ohne Grund für ihr persönliches Schick­sal fürchteten. Das Hauptsprachrohr der Stimmungen in der Presse wurde Radek wenn er doch nur geahnt hätte, daß diese Version über die»Hand der Gestapo  « sich gegen alle früheren Oppositionellen, dar­unter auch gegen ihn selbst, wenden würde! Zu dieser Einschätzung des Attentats Nikolajews neigten nicht allein die Oppo­sitionellen, Sie war im allgemeinen ziem­lich weit verbreitet, auch die Leiter des Innenkommissariats schienen bereit, sie zu akzeptieren. Denkt an die Listen der er­sten Gruppen der Erschossenen nach dem Attentat Nikolajews: in diese Listen ge­rieten hauptsächlich Personen, die der Be­ziehungen mit ausländischen Spionageab- teUungen verdächtigt wurden(inwieweit dieser Verdacht begründet war, ist natür­lich eine andere Frage) auch die sepa­ratistische Propaganda in der Ukraine  wurde schon damals von uns als eine Zer­setzungsarbeit der Deutschen   betrachtet. Denkt auch daran, daß der Befehl zu die­sen Erschießungen unter dem ersten Ein­druck der Telefonogramme aus Leningrad  von Moskau   aus gegeben wurde. Diese Version wurde jedoch nicht zur offiziellen erklärt. Stalin   gab in den er­sten Tagen keinerlei leitende Direktiven. Indem er es den anderen überließ, eine Er­klärung für den Vorfall zu finden, kon­zentrierte er seine eigene Aufmerksamkeit auf die Organisation einer energischen Un­tersuchung. Im Verein mit Woroschi- low und Orshonikidse, deren Un-
| tersuchung ihn im Politbüro besonders 1 wichtig war, begab er sich sofort nach Le- i ningrad und bestimmte hier Ton, Rich- ' tung und Umfang der Untersuchung: er nahm persönüch an einigen besonders wichtigen Verhören teil im besonde­ren verhörte er persönlich Nikolajew   und leitete auch gleichzeitig die Maßnah­men zur Auflösung der Leningrader Ab­teilung des Innenkommissariats. Mit der unmittelbaren Führung der Untersuchung wurde A g r a n o w betraut, der in den letzten Jahren das besondere Vertrauen Stalins genießt: der letztere ist überzeugt, Idaß»Jascha«(so nennt Stalin   nicht selten Agranow selbst in offiziellen Sitzungen) niemals die Rolle eines eifrigen und gehor- samen Vollstreckers seiner Befehle auf- ! geben, niemals Einflüssen von anderer Seite unterliegen würde hinsichtlich 1 anderer führender Persönlichkeiten des ! Innenkommissariats hatte Stalin diese | Ueber zeugung nicht. Die Motive des Mörders Die Untersuchung deckte sofort eine Reihe interessanter Tatsachen auf. Zur j Erkenntnis der treibenden Motive N i k o- 1 1 a j e w s lieferte besonders dessen Tage­buch wichtiges Material. Auszüge aus j diesem Tagebuch allerdings nur sehr we- inige waren in dem Memorandum zum j Fall Nikolajew   enthalten, über das ich weiter unten noch werde sprechen müssen. Ueber dieses Tagebuch sind im allgemeinen viele Gerüchte verbreitet, die sich mitun- |ter widersprechen. Aber hinsichtlich der allgemeinen Charakteristik Nikolajews widersprechen sich diese Gerüchte nicht. Sein Attentat hat eine so verhängnisvolle Rolle für das Schicksal des Landes und der Partei gespielt, daß es sehr schwer ist, ihm gegenüber vollkommene Ojektivität einzuhalten. Aber bei einem gewissen Maß von Unvoreingenommenheit muß man dennoch anerkennen, daß man es in ihm mit. einem typischen Vertreter jener Gene­ration unter der Jugend zu tun hat, die durch den Bürgerkrieg in die Partei hin­eingezogen, in den letzten Jahren durch alle Prüfungen und Entbehrungen aller möglichen Mobilisierungen hindurchge­gangen und nun auf die Sandbank des friedlichen Aufbaus geworfen worden war mit zerstörten Nerven, unterhöhlter Ge­sundheit und verwüsteter Seele. Der persönliche Lebenslauf Nikolajews ist folgender: Während der Offensive Ge­neral Judenitsch's ging er als Sechzehn­jähriger freiwillig an die Front und blieb dort bis zum Ende des Bürgerkrieges. An der Front wurde er Mitglied des Komso­mol. Sehr dunkel ist der Punkt über seine Beziehungen zur Tscheka   und GPU. Ir­gendeine beachtliche Rolle hat er in die­sen Institutionen nicht gespielt Aber die Tatsache seiner Beziehungen zu ihnen unterliegt keinem Zweifel, obwohl man aus begreiflichen Gründen diese Tatsache jetzt selbst in Dokumenten, die für den internen Parteigebrauch bestimmt sind, sorgfältig verschweigt Am Leben der Parteiorganisation nahm Nikolajew   wenig Anteil, obwohl er seit 1920 der Partei an­gehörte, zuerst als Mitglied des Komso­mol(im Wyborger Rayon in Leningrad  ) und dann als Mitglied der allgemeinen Parteiorganisation. An der Opposition vom Jahre 1925 war er nicht beteiligt, wenn man nicht irgendwelche Abstimmungen in den Versammlungen jener Periode berück­sichtiget, wo bekanntlich 90 Prozent der Leningrader Organisation die Haltung Sinowjews unterstützte. Jedenfallls ist Nikolajew   nach der General reinigung die­ser Organisation nach dem 14. Parteikon­greß keinerlei Strafe unterworfen worden, er war nicht einmal in einer andere Stadt versetzt worden(das war die geringste Strafe, die allen Leningrader Parteimit­gliedern auferlegt wurde, die auch nur im geringsten Maße mit der Opposition zu tun gehabt hatten). Die Jahre 1920/30 jbis Anfang 1933 waren mit yeradüedenen
Abkommandierungen ausgefüllt, haupt­sächlich nach dem Murmangebiet, wo Ni­ kolajew   im Zuge der Parte imobüisierung tätig war und einen untergeordneten Po­sten bei der Verwaltung der Zwangs­arbeitslager ausfüllte. Nach seiner Rück­kehr arbeitete er wieder in der GPU, dies­mal anscheinend(diese Seite seiner Tätig­keit wird besonders streng geheimgehal­ten) in der Schutzwache des Smolny-In- stituts(des Sitzes der Zentral Verwaltung Leningrads). Das sind die wichtigsten Daten der formellen Biographie Nikolajews. Die Auf­zeichnungen aus seinem Tagebuch, die die letzten zwei Jahre umfassen, die gesamte Periode nach seiner Rückkehr aus dem Murmangebiet, zeigen, welchen ideellen Inhalt sein damaliges Leben hatte. Nach allem, was bekannt geworden ist, zu urtei­len, bildeten seine persönlichen Konflikte mit dem sich mehr und mehr bürokrati- sierenden Parteiapparat den Ausgangs­punkt seiner Stimmungen. Das Tagebuch ist angefüllt mit Klagen über das Ver­schwinden jener alten kameradschaftlichen Beziehungen, die das Parteileben in den ersten Jahren der Revolution so angenehm gemacht hatten. Nikolajew   kehrt in sei­nen Erinnerungen oft zu dieser Vergan­genheit zurück, die ihm in sehr rosigen aber sehr vereinfachten Farben erscheint; als eine Art»Blutbrüderschaft«. Jetzt ist er durch den herrschenden Formalismus erbittert und deprimiert. Auf diesem Bo­den hat er eine Reihe von Konflikten, die Anfang 1934 zu seinem Ausschluß aus der Partei führen. Der Ausschluß wurde sehr bald aufgehoben, denn es wurde festgestellt, daß er infolge der angespann­ten Tätigkeit im Murmangebiet nervös überreizt sei und daß man deshalb keine strengen Anforderungen an ihn stellen dürfe. Diese Klage über den Bürokratismus in der Partei war der Ausgangspunkt der Kritik Nikolajews, sie waren aber auch im Grunde ihr Abschluß. Man staunt über die Inkongruenz zwischen der Ernsthaf­tigkeit seiner Handlungsweise und der Oberflächlichkeit seiner kritischen Hal­tung gegenüber der Wirklichkeit. Ich spreche schon gar nicht davon, daß für ihn außerhalb der Partei die Welt zu enge ist. Selbst das Leben in der Partei inter­essiert ihn nicht unter einem allgemeinen poütischen Gesichtspunkt, sondern fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Beziehungen in der Par­tei. Auf diese Beziehungen reagiert er mit zunehmender Schärfe und beginnt sie als direkten Verrat der herrlichen Tradi­tionen der Partei, als Verrat der Revolu­tion einzuschätzen. In Verbindung damit wächst in ihm die Stimmimg einer gewissen Opferbereit­schaft: immer häufiger spricht er den Ge­danken aus, daß irgend jemand sein Leben opfern müsse, um die Aufmerksamkeit der Partei auf die verhängnisvollen Momente ihrer Entwicklung zu lenken und daß man dies nur mittels eines terroristischen Aktes gegenüber einem besonders hohen Vertre­ter jener Gruppe von Usurpatoren tun könne, die die Macht in der Partei und im Lande an sich gerissen hätte. Einen gro­ßen Einfluß in der Frage des Terrors übte die Lektüre der Memoirenliteratur der russischen Revolutionäre der früheren Pe­rioden auf Nikolajew   aus. Auf diesem Ge­biet hat er, wie aus seinem Tagebuch er­sichtlich ist, viel gelesen: aus der Memoi­renliteratur der Terroristen(der Narodo- wolzy und Sozialrevolutionäre) las er alles, was er erlangen konnte. Und sein Attentat betrachtete er als direkte Fort­setzung der russischen Revolutionäre der früheren Periode. Es verlautet, daß Nikolajew   während seiner Unterhaltung mit Stalin auf die Frage des letzteren, während er das Attentat verübt habe, er sei doch jetzt ein verlorener Mensch, er- ! widert habe:»Na, wenn schon, jetzt|
gehen doch viele zugrunde. Dafür wird mein Name in Zukunft neben den Namen von Sheljabow und Balmaschow(die die Attentate auf Alexander II.   und auf den Minister Bogolepow verübt haben) genannt werden'« Von diesem Bestreben, eine direkte Linie zwischen seinem Attentat und den terroristischen Akten der russischen Re­volutionäre der früheren Perioden herzu­stellen, zeugen noch einige weitere Einzel­heiten des Falles Nikolajew  . Die Sudie nadi den Mitversdiworenen Soweit die persönüchen Motive Niko­lajews aufgedeckt wurden, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Unter­suchung auf zwei grundlegende Fragen; auf die Suche nach»Mitverschworenen und Anstiftern« einerseits und andererseits auf die Klärung des Schuldanteils der leiten­den Personen der Leningrader Abteilung des Innenkommissariats, die dem Attentat nicht vorgebeugt hatte. Die Antwort auf die erste Frage war im Grunde genommen sehr einfach: in seiner Deklaration hob Nikolajew   her­vor, daß sein Attentat einen ausschließ­lich individuellen Charakter trage und daß er keinerlei Mitverschworene habe. Die Aufzeichnungen in seinem Tagebuch be­stätigen voll und ganz diese Behauptung. Es fand sich unter ihnen keine einzige, die auch nur indirekt die Annahme bestätigen konnte, daß irgendeine Geheimorganisation bestand, deren Mitglied Nikolajew   war, oder in deren Auftrag er gehandelt hatte. Jedenfalls findet sich in dem obenerwähn­ten Memorandum kein einziges Zitat aus dem Tagebuch, das einen solchen Charak­ter trug, und es unterliegt keinem Zweifel, daß die Untersuchungsbeamten diese Zi­tate in ihrem Memorandum angeführt hätten, wenn sie in dem Tagebuch ent­halten gewesen wären. Der allgemeine Charakter des Tagebuchs schließt anderer­seits die Annahme aus, daß Nikolajew   sy­stematisch alles verschwiegen habe, was irgendeine Beziehung zur vermuteten Ge­heimorganisation hatte, denn er schrieb ausführlich und sehr unvorsichtig alle Ge­spräche auf, die ihn auch nur indirekt in seinen Auffassungen bekräftigten. Aber wir haben uns schon längst von jenen Zeiten entfernt, wo als»Teilnehmer« und»Anstifter« nur derjenige betrachtet wurde, der direkt oder indirekt an einer konkreten Handlung teilgenommen oder zu ihr aufgefordert hatte. Als Teilnehmer und Anstifter erscheint nach unseren Aus­legungen jeder, der jene Stimmungen unterstützt und bekräftigt, auf deren Bo­den bestimmte Handlungen entstehen. Solche Teilnehmer oder Anstifter zu finden war nicht schwer. Aus dem Tage­buch Nikolajews ist ersichtlich, daß es in Leningrad   in der Organisation selbst wie auch in ihrem Umkreis nicht wenige un­zufriedene Elemente gab, die aus ihrer kritischen Haltung zu den Verhältnissen in der Partei und im Lande kein Hehl machten. Das waren hauptsächlich frü­here Oppositionelle, die in den vor­hergehenden Jahren allen möglichen Re­pressalien unterworfen wurden, in Gefäng­nissen und Verbannungsortem geweüt hat­ten und nur in allerletzter Zeit nach Le­ ningrad   zurückgekehrt waren. Nachdem sie früher mehr oder weniger hohe Posten in Partei- und Sowjetapparat bekleidet hatten und gewohnt waren, eine führende Rolle im politischen Leben zu spielen, söhnten sie sich jetzt nur mit Mühe mit ihrer bescheidenen Stellung aus und wa­ren stets bereit, über die neuen Ordnun­gen zu murren und sie mit der»guten alten Zeit« in Parallele zu setzen. Sie hat­ten keine Geheimorganisation, aber viele von ihnen standen in freundschaftlichen Beziehungen zueinander, deren Anfang in die ferne Vergangenheit zurückführte, Wenn man sich traf, tauschte man Infor-