Nr. 199 SONNTAG, 4. April 193?
6o$ialdmolraHfcfo0 Verlag: Karlsbad , Haus„Graphia"— Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite
Aus dem Inhalt: Der Düsseldorfer Sumpf Kirchenkampf im Grenzland Mobilisierung der Landwirtschaft Furcht vor Wahlen
In einem seiner letzten Aufsätze hat der verstorbene Austin Chamberlain geschildert, wie die englischen Staatsmänner der Vorkriegszeit einer nach dem anderen zu der Ueberzeugung gelangten, daß mit einer Regierung wie der deut schen unter Bülow und Wil helm II. jedes Abkommen unmöglich sei. Er schreibt die Hauptverantwortung dafür Bülow zu, der, falsch vom Kopf bis zu den Zehen und geschwollen vor Eitelkeit, die Lage gründlich verkannt habe. Es war indessen nicht nur die Schuld Bülows. Eis war ein Systemfehler, und der böse Geist saß überall fest, beim Kaiser wie beim Reichskanzler, im Auswärtigen Amt wie bei den Leitungen von Heer und Marine. Die englischen Staatsmänner von heute wiederholen die Erfahrungen ihrer Vorgänger von damals. Seit dem Ausbruch des Hitlersystems haben sie manches erlebt, was die Vorgänge von damals bei weitem übertrifft, Sie haben hartnäckig das Ziel verfolgt, zu einem Abkommen mit Deutschland zu gelangen, und sie konnten damit rechnen, daß ein gleicher Wille ihnen von der anderen Seite entgegenkommen würde. Gehörte es nicht zu den ursprünglichen Konzeptionen Hitlers , daß England unbedingt für Deutschland gewonnen werden müßte? Aber das braune System kann sich ein intimeres deutsch -englisches Verhältnis nicht anders vorstellen als es das wühel- minische System getan hat: Deutschland gnädigst Geschenke entgegennehmend dafür, daß es nicht den wilden Mann in Europa und der Welt spielt. Der böse Geist des wilhelminischen Systems geht auch im Hitlersystem um, und auch hier trägt die Hauptschuld nicht dieser oder jener, sondern es ist der gleiche System- fehler. Wie damals schon ist es auch heute üblich, mit den besonderen Eigenheiten der unverantwortlichen Spitze die politische Bürokratie zu entschuldigen und sie gewissermaßen als bessere Menschen erscheinen zu lassen. Man sucht heute eifrig nach Zedcben, die auf stärkere Einflußnahme der sogenannten Berufsdiplomaten auf die Politik des Reiches zu deuten wären, und wenn man solche zu erkennen glaubt, so meint man, daß die Berufsdiplo- niaten auf einen ruhigeren und vor allem vernünftigeren Kurs hinwirken würden. Ein Revirement, das demnächst unter dem diplomatischen Personal des Hitler- systems stattfinden soll, wird so illusionär angedeutet. Daß Herr Luther in Wa shington durch Herrn Dieckhoff ersetzt werden soll, und daß Herr von M a k- kensen von Budapest ins Auswärtige Amt in leitender Funktion berufen wird, gibt Anklammerungspunkte für die Hoffnungen jener, die immer noch glauben wollen, daß das System sich aus sich selber heraus zivilisieren würde, Solcher Glaube tut den Berufsdiplomaten bei weitem zu viel Ehre an. Die Traditionen aller auswärtigen Aemter und ihres Personals wurzeln viel stärker in der ferneren als in der jüngsten Vergangenheit Das ist ein allgemeiner Krebsschaden, und in Deutschland ist er stärker als anderswo. Von einer Tradition der Epoche der Wei marer Republik in der deutschen Berufsdiplomatie ist gar keine Rede, und wo hätte das berufsmäßige Personal, das unter Hitler hervorgetreten ist, gezeigt, daß es aus der Katastrophe der Politik, aus dem Geiste Bülows, Holsteins, Wilhelms und Tirpitzs gelernt hätte? Wofür wäre
Herr von Neurath denn Außenminister Hitlers , wenn er nicht dem Geiste der süffisant lächelnden Katastrophenmacherei eines Bülow, wie überhaupt der kaiserlichen Tradition näher stände als der nüchternen Politik der Weimarer Repu blik , die sich vom nationalsozialistischen Machtwahn fernhielt? Ob dieser oder jener Wechsel im Personal erfolgt, das bleibt sich gleich. In der Sache ist bisher die Außenpolitik des Hitlersystems so gemacht worden, als ob sie von gewissenlosen Hasardeuren betrie- bei worden sei. Sie ist der Politik der wilhelminischen Epoche verzweifelt ähnlich, und der Geist, der sie treibt, ist der gleiche; der Geist amoralischer Gewalt, der Wille zur Vorherrschaft über andere, der Geist des Machtwahns und des Machtkitzels. Das Studium des englischen Blaubuches aus Anlaß der Rheinlandbesetzung sei allen empfohlen, die den Berufsdiplomaten gerne eine ausgleichendere, ehrlichere, würdigere und vernünftigere Rolle zuschreiben möchten als der Spitze des Systems. Die Charaktermaske des absolut friedfertigen Frontkämpfers, die sich die Spitze des Systems für die Zwecke dieser blutigen Hasardpolitik vorgebunden hat, täuscht heute nur noch komplette Narren, die glauben, den bösen Geist mit Gebeten bannen zu können. Aber die Maske der Honorigkeit und der relativen Vernünftigkeit, mit der die deutsche Berufsdiploma- täe von denen ausgestattet wird, die immer noch nicht klar sehen wollen, scheint immer noch zu täuschen. Schließlich haben die Herren deutschen Berufsdiplomaten schon allerhand zu verantworten. Nicht nur die gelungenen Streiche, sondern auch die mißlungenen. In den österreichischen Putsch, der Dollfuß das Leben kostete, war der deutsche Gesandte in Wien verwickelt. Diese Sache war übrigens der spanischen Rebellion gar nicht so unähnlich. In der Steier mark
wurde heftig gekämpft und ohne die bekannte Brennermobilisierung hätten vielleicht damals schon die Westmächte Gelegenheit zu einem Experiment mit der einseitigen Nicht-Intervention gehabt. Auch in dem neuesten fehlgeschlagenen Putsch in Ungarn war das deutsche diplomatische Personal in Buda pest verwickelt, und es ist wahrlich nicht sein Verdienst, daß dies Feuerchen nicht zu einem Brande geworden ist. Die Dokumente, die in Spanien über das Treiben des deutschen diplomatischen Personals aufgefunden worden sind, sprechen ebenfalls eine beredte Sprache. In manchem ist dort und vor allem in Marokko weitergeführt worden, was schon seit 1930, als es noch kein Hitlersystem gab, vorbereitet worden ist. Damals schon hat sich die geheime Politik der Berufsdiplomaten losgelöst vom Geist der Weimarer Republik und hat wieder aufgenommen, was mit dem Kaiserreich beendet schien: die weltpolitischen Treibereien, das Anlegen von Feuerchen an allen Punkten, wo man in näherer oder fernerer Zukunft Brände vorauszusehen glaubte, die Spekulation auf Friedensstörungen, immer mit dem Hintergedanken, daß man mit solchen Dingen wenigstens einen Schadenswert in den Augen anderer gewinnen und also erpressen könne. Kurzum, alles das, was in der Vorkriegszeit bei englischen Staatsmännern zu der Ueberzeugung geführt hatte, daß man mit einer solchen Regierung kein Abkommen schließen könne. Man lasse sich durch die größere Nähe der unmittelbaren Vergangenheit nicht die Perspektive verfälschen: Manches, was die deutsche Berufsdiplomatie seit Hitlers Machtantritt mitgemacht hat, hält durchaus den Vergleich mit jener berüchtigten Depesche Zimmermanns aus, die ein Kriegs- feuerchen zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten anzuzünden empfahl, und damit nur den Eintritt. Amerikas in den
Krieg gegen Deutschland beschleunigte. Der Geist, aus dem jene Depesche entsprungen war— das ist genau der Geist, der heute in der deutschen Politik umgeht, und wenn er nicht in der Tradition der Berufsdiplomaten weitergelebt hätte, wo wäre heute das Dritte Reich?
Radie an Frauen und Kindern Das braune System hat einen Raehefeld- zug gegen Frauen und Kinder deutscher oppositioneller Politiker unternommen. Eine neue Ausbtirgerungsllste enthält die Namen von 38 Familienangehörigen bereits ausgebürgerter Emigranten. Sie erstreckt sich auf die Familien folgender Sozialdemokraten: Großmann, Hertz, Hirschfeld, Kummer, Neumann, Schuhmacher; und folgender Kommunisten: Dahlem , Levlnö, Maslowski, Pieck. Die jüngste dieser Ausgebürgerten ist acht Jahre alt.
Gentlemen'Agreeinent Nach offiziellen Berichten aus dem Drit ten Reich hat sich Hitler mit Luden- d o r f f ausgesöhnt. Nach diesen Berichten haben beide miteinander eines der jetzt so beliebten Gentlemen-Agreementa getroffen, in dem sie sich gegenseitig Lobsprüche machen. Als sich die beiden das letztemal auf Ehrenwort miteinander verschworen haben, war das Ergebnis das Verbrechen des Novem- berputsches von 1923. Der eine ging nach dem Zusammenbruch aufrecht weg, wie er sich nachträglich in Prozessen bestätigen ließ, der andere lag auf dem Bauche und flüchtete in die Villa befreundeter Frauen. Bittere Feindschaft war das Ergebnis. Der eine wurde später zum Hanswurst einer wahnsinnigen Frau, der andere zum Diktator Deutschlands . Zu welchem Zwecke begraben sie jetzt das Kriegsbeü? Braucht Hitler einen Generalfeldmarschall neben Blomberg , oder ist eine neue, diesmal internationale Verschwörung fällig?,
Mobilisierung der Landwirtschaft Görings Liebesgaben für den ostpreußisdien Großgrundbesitz Die nationalsozialistische Agrarpolitik hat Bankrott gemacht. Jahr für Jahr hat der Darre seine»Erzeugungsschlacht« geschlagen und das Resultat ist, daß die deutsche landwirtschaftliche Erzeugung heute fast die gleiche ist wie in den letzten Jahren des»schmachvollen Systems«. An der»Nahrungfreiheit« fehlt noch derselbe Prozentsatz von Futtermitteln und Fett. Nur daß es vor der Herrschaft Hit lers keine Nahrun gsmittelknapphedt gab, daß die Ernährung von Mensch und Vieh gesichert war. Denn unter dem»System« standen stets die Ausfuhrgüter zu normalen Weltmarktspreisen zur Verfügung, gegen die man die notwendigen Agrarpro- dukte einführen konnte. Dem hat die Kriegswirtschaft der Diktatur ein Ende gemacht. Ein Ende mit Schrecken? Zu weitgehenden Zwangseingriffen hat das Regime bereits greifen müssen. Die Ablieferungsfristen für Brotgetreide sind verkürzt worden; nachdem noch bis vor kurzem die Aufzucht des Viehs aus»hofeigenem« Fütter propagiert worden war, ist jetzt die Verfütterung von Roggen und Weizen zum Landesverrat erklärt worden; die Landwirte müssen ihr Brotgetreide gegen Füttermittel abliefern. En schlechtes Geschäft! Denn, sagt Göring selbst in
seiner gleich noch ausführlicher zu erörternden Rede,»mein Aufruf zur Ablieferung von Brotroggen hat zwar den nötigen Widerhall gefunden, jedoch hat er zu volkswirtschaftlich nicht vertretbaren Verlusten bei den Betrieben geführt, die den Roggen abgegeben haben und dafür teuere Futtermittel kaufen mußten«. Auch die Opfer der Konsumenten haben nichts genützt, nicht die Beimischung von Kartoffelflocken und Maismehl zum Brot, nicht die höhere Aus- mahlung von Weizen und Roggen. Ein Teil der durch die Konfiskation der Aus- I an ds werte erlangten Devisen muß zu umfangreichen Getreidekäufen vornehmlich in den Balkanstaaten verwendet werden. Die Getreddepreise aber sind stark gestiegen. der Absatz auf dem Weltmarkt geht leicht vonstatten, und so sieht sich Deutschland gezwungen, den Balkanstaaten stark verbilligte Exportpreise für die deutschen Industriewaren einzuräumen und für das einzuführende Getreide erhöhte Uebemahmepreise zu bewilligen! Aber die Kriegswirtschaft bleibt oberstes Gesetz und den Nationalsozialisten bleibt nichts anderes übrig als auf dem Weg des Unheils fortzuschreiten.»Die dritte Erzeugungsschlacht ist nunmehr in
das Stadium einer Großkampfoffensive ge» treten«, so erschallt jetzt Dar res neuer Kriegsruf, und Göring verkündet in einer Rede vor den»Bauernführern« am 23. März die»Mobilisierung der Landwirtschaft«. Eis handelt sich in der Tat um einen großen Aufwand, um die Landwirtschaft zu einer Produktionssteigerung zu veranlassen unter dem für die nationalsozialistische Wirtschaft allgemein gültigem Motto: Kostenpunkt Nebensache! Zur Förderung von Landeskulturarbeiten werden 200 Millionen RM für das Jahr 1937, davon 110 Millionen RM als Beihilfen des Reichs und der Länder eingesetzt. Diese Mittel erhöhen sich Jahr für Jahr bis auf 300 Millionen im Jahre 1940. Insgesamt ist also eine Milliarde RM vorgesehen. Weitere Mittel— der Betrag wird nicht angegeben— werden aus dem Reichsetat für die Flurbereinigung bewilligt, ebenso für die Umwandlung von schlechtem Grünland in Ackerland. Die Zuschüsse des Reichs betragen pro Hektar im ersten Jahr durchschnittlich 100 RM, die in dem nächsten Jahre ermäßigt werden. Reichsmittel werden ferner für mittelfristige Kredite bereitgestellt, die für schlechte Betriebe als Betriebsausbau-Kredite verwendet werden