Nr. 204 BEILAGE ItarTtoMs 9. Mai 193? Streicher lllhrt nur der srnizen Linie Ein Sdimu�orkan im Kirdbenkampf entfesselt Scfaauprozesse mit Radio gegen tausend»perTerse« Priester � Wenn sdion im Dritten Reidi abgestimmt wird Schon kurz nach Bekanntwerden der letzten Papstenzyklika kündigten wir die Neuauflage der Schauprozesse gegen die katho lische Kirche und deren Funktionäre im Dritten Reich an. Die Form allerdings, die jetzt dafür vom System gewählt worden ist, läßt alle Vorstellungen jener weit hinter sich, die immer ganz illusionslos über die moralische Qualifikation des Nationalsozialismus Hitlerscher Prägung gewesen sind. Das»erwachte Deutschland « ist heute, im Kampf gegen den schwarzen»Reichsfeind Nr. 1«, in eine Schmutzwolke der Spießerlüstemheit und der Schundliteraturinstinkte und der alten, alldeutschen»antirömischen Affekte«, der Ludendorffschen Jesuitophobie und der Bäffchen-Schnüffelseligkeit gehüllt, die eine gewisse Sorte der sogenannten»evangelischen Freiheit« in der Figur des königlich preußischen Superintendenten immer beseelt hat. Wer morgens früh um sieben Uhr das Radio auf Deutschland einstellt, erfährt durch kreischende Stimmen bereits zu dieser Stunde von allen abscheulichen Lastern des»römischen Männerbundes«; und wer nicht schlafen kann am Abend, ohne etwas für seinen Geist getan zu haben, braucht gegen elf Uhr auch nur wieder irgendeine deutsche Welle sich zu suchen und es wird ihm offenbar, daß mindestens in Deutschland Klöster und Orden nie etwas anderes getan haben, als Knabenschän- dem ein bequemes Leben zu sichern; für entsprechende Detais sorgt die markige arische Stimme drüben... Tausend katholische Kleriker, so haben sie bereits triumphierend versichert, sitzen entweder als Devisenschieber, Landesverräter oder Sexualverbrecher schon wieder in hitlerdeutschen Gefängnissen und warten ihrer Aburteilung. Das heißt: noch ist das nicht ganz heraus! Politik ist wichtiger als Justiz, auch wenn sie nur die erbärmliche und zum Himmel stinkende des Dritten Rei ches ist! Abgeurteilt sollen sie nämlich nur werden, wenn es der Papst denn partout so will. Lenkt die Kirche, wie die Machthaber es wollen, wieder in christlicher Sanftmut ein, so wird eben— das sagen sie selbst amtlich!— nicht prozessiert. Im anderen Falle aber—?! In alle deutschen Sender werden die Verruchten sogar ihre letzten stammelnden Worte vor dem»Volksgerichtc hineinzugeben haben! Feine Justiz— was?! Sie funktioniert just so, wie Papen oder andere politische Schieber von Weltformat auf dem Sofa im Empfangssalon reüssieren oder auch nicht Den Kaplan Roussaint aus Westdeutschland haben sie für elf Jahre jetzt hinter Zuchthausmauem begraben. Das Furchtbarste, was sie ihm vorwerfen konnten, war, daß er früher einmal, vor Hitler den»Frie- densbund deutscher Katholiken« als Orts- gruppenieiter in Essen geleitet hatte. Diesen »Bund« hatte allerdings der spätere Zentrumsminister Erzberger gegründet, und der Nazi, der ihn deshalb vor vierzehn Jahren viehisch abschlachtete, hat längst sein Ehrenmonument im Dritten Reich für seine vaterländische Opfertat erhalten; so war also der»Fall« Rousaaint eigentlich schon längst sauber und ordentüch präjudizidiert! Hergang der Prozesse? Indizien? Vor allem Zeugen auch in den neuen Serien-Scxualver- fahren? Das ist immer dasselbe System, das sich schon im unsterblichen Fall Karwahne im Leipziger Reichstagsbrandprozeß gegen Dimitrow bewährt hat(oder auch nicht bewährt hat, weü man diesem Subjekt Karwahne damals seinen Meineid schon vierundzwanzig Stunden später glatt sogar am Tisch der Verhandlungsleitung nachweisen konnte): die Gestapo führt die Kreaturen als Belastungszeugen vor, die sie sich aus den Reihen der früheren radikalen Gegner der Hitle- rei im Lumpenproletariat für eine Anstellung als Hausmann und»Blockwart«, für einige Pfund Schmalz aus der»Winterhilfe« ziemlich spesenfrei gekauft hat. Die schwören, was auch immer verlangt wird! Geht es gegen die Kirche als Prinzip? Der Vatikan — aus Angst, aus»autoritärer«, antibolschewistischer Berechnung oder auch aus beiden genannten Gründen zusammen— möchte es selbst so sehen, daß er und die Kirche als Einrichtung für die Taten Einzelner nicht verantwortlich gemacht werden könne. Er gibt also selbst die Unglücklichen, von denen mindestens der allergrößte Teil völlig schuldos sein dürfte, preis. Manchmal fragt man sich wirklich: was ist ekelhafter, diese zynische Dynamik der auf der ganzen Linie führenden Streicherei im Dritten Reich , die den Wochenabfall des»Stürmer« zur Reichs- und Staatsangelegenheit macht, oder diese»Diplomatie« der Kurie, die Christus sagt und spanische Latifundien meint? Aber dabei desavouiert das Dritte Reich diesen seinen so noblen Duellgegner, wo es nur kann: sagt ihm dreist ins Gesicht, daß es ihm gar nicht auf ein paar arme Schlucker von Geistlichen, sondern auf das System, nicht auf angeblich geschändete Kinder, sondern auf den landesverräterischen ganzen Rom - Komplex ankomme. So zum Beispiel versah das amtliche Deutsche Nachrichtenbüro eine Sexualverhandlung von Koblenz vom 28. April mit folgendem Einleitungskommentar:»Jede Verhandlung erbringt in ihrem unerfreulichen und durch ihren Inhalt jeden gesunden Menschen abstoßenden Verlauf erneut den Beweis, daß es sich bei diesen Vorfällen nicht um Einzelfälle handelt, sondern daß alle Straftaten sich aus einem unglaublichen und unfaßbaren System ergeben«. Deutlicher kann man es den Herren in Rom doch wohl nicht gut unter die Soutane drücken! Und damit zur Tragödie nicht die Hanswurstiade fehle, sei auch noch darauf verwiesen, wie die »Frankfurter Zeitung «— letztes Bollwerk der Moralität in Deutschland für den Gebrauch für bessere, meist weniger arische Herren— bitterlich angesichts dieser vom »Führer und Reichskanzler« mit angerichteten Stall- und Latrinenangelegenheit die gleichgeschalteten langen Arme ringt und stöhnt, daß sich eigentlich die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche»doch auf höherer Ebene« besser abspielen sollten. Freilich, so kann man es auch ausdrücken. Immerhin hat der Kirchenkampf ein Gutes gehabt: er hat wenigstens gerade für jene katholische Auffassung, die außerhalb Deutschlands weit verbreitet ist und geradezu verheerende Dinge im internationalen Verkehr heraufbeschwor, einen bündig-grotesken Gegenbeweis erbracht: daß nämlich doch eigentlich auf Grund seiner»Abstimmungen« es heraus sei, wie Hitler achtzig, wenn nicht neunzig Prozent des deutschen Volkes hinter sich habe, folglich als verhandlungsfähige Tatsache hingenommen werden müsse, gleich, wie die Tatsache selbst beschaffen sei. Im Kirchenkampf, und zwar dort, wo es um »weltliche« oder, wie die Nazi sie nennen, »deutsche« Schule und konfessionelle geht, haben auch allenthalben jetzt»Abstimmungen« stattgefunden. Diesmal allerdings von zwei Seiten: von der Seite des Regimes und von der Seite der Kirche. Siehe da, es gab wieder allenthalben neunzigprozentige Mehrheiten! Neunzig Prozent für, aber auch genau so gut neunzig Prozent dagegen!!! Verstehe das, wer verstehen kann! Nun freilich, wer weiß, wie in Deutschland nun schon einmal »abgestimmt« wird, lacht sich nur eins. Diesmal freilich kräftig und mit dem angesichts der Tatsache gebotenen grimmigen Humor. Beispielsweise verkündete das Regime aus Groß-Solingen, daß dort genau 90 Prozent der Gesamtbewohnerschaft für die»deutsche Schule« gestimmt hätten. Jetzt hat nach dem »Kirchlichen Anzeiger für die Erzdiözese Köln « aber auch die Ortsgeistlichkeit abstimmen lassen. Und sie erhielt nun, wie sie mitteilt, 67.3 Prozent für das Gegenteil, nämlich die katholisch-konfessionelle Schule. Glückliches Groß-Solingen! Es ist also die einzige Stadt auf dem weiten Erdenrund, die nicht bloß hundert Prozent Einwohner wie ordinäre Städte, sondern deren hundertsieben- undfünfzig Komma drei Prozent aufweist. Auch(fiese Hitlerleistung wird so leicht keiner nachmachen können; dessen sind wir gewiß. Was aber ist in Wirklichkeit passiert? Die armen Solinger haben einmal für die Nazis gestimmt: denn sonst wären sie ins Kazett gekommen. Aber in die Hölle wollen sie auch nicht gerade kommen; und so stimmten sie also auch ebenso»geschlossen« für ihre katholische Schule. Fragt sich nur, ob nunmehr die Herren Diplomaten in der Welt, die mit Hitler als Tatsache»rechnen«, auch denselben Humor aufbringen wie hier die Weltgeschichte oder doch mindestens die Lokalchronik von Groß-Solingen. F. E. Roth. Katholische»Hodrrerräter« Die Berliner Zudithausurtelle gegen Gelstlidie Aus Westdeutschland wird uns geschrieben: Nicht immer sind die Propagandisten des braunen Regimes auch gute Psychologen. Wären sie es, dann hätten sie den großen Schauprozeß gegen die jungen katholischen Kapläne und die Leiter der»Sturmschar« unterlassen oder die Angeschuldigten in aller Stille vor dem Volksgerichtshof abgeurteilt. Haß und Wut waren diesmal besonders. schlechte Berater. Die seitenlangen Berichte mit den fetten Schlagzeilen über katholischkommunistische»Konspirationen «, die Zeugenaussagen Uber Bemühungen, bisher getrennte weltanschauliche Fronten im Widerstand gegen das Dritte Reich zu ermutigen, die tapfere Haltung der Angeklagten, erkennbar zwischen den ZeUen: was ist das Resultat? Weder lernt der übergroße Teil der Leser das Gruseln vor dem Bolschewismus, noch schaudert ihm vor dem»Hochverrat« der Geistlichen. Eine Welle von Sympathie für diese jungen Priester und ihre Anhänger geht durch ganz Westdeutschland. Die Geister, die man durch Zuchthaus austreiben will, rumoren kräftiger als zuvor. Vor allem versagte das Hauptargument, die Kirche in diesen beiden Geistlichen Roussaint und Kremer zu entlarven. Jeder, der die innere Situation des westdeutschen Katholizismus kennt, weiß, daß die jüngere Generation der Geistlichkeit seit langem in Opposition zu ihren Bischöfen steht. Viele hadern mit der Kirche, die ihnen in ihrer autoritären Organisation nicht sozial genug ist. Lange vor 1933 scheute man aus diesen Kreisen nicht vor anklägerischen Manifesten gegen die Oberen der Hierarchie zurück. Bedrängt von der Not des Proletariats, forderte man aus dem Glauben heraus die offene Parteinahme der Kirche für die Armen. In der jungkatholischen Literatur, deren Autoren meist Geistliche waren, las man weitgehende antikapitalistische Bekenntnisse und Auflehnungen gegen die Bedrückung der»Masse Mensch«, In der das religiöse Erbe sich nicht bewähre, verbunden mit Angriffen auf die Predigten der toten Worte, oft ausklingend in sozialistischen Bekenntnissen. Es war viel sozial-religiöse Schwarmgeisterei dabei, aber diese jungen und gläubigen katholischen Menschen machten den Dirigenten in den Bischofspalästen wegen ihrer angriffsfreudigen Haltung gegen die Mächte der kirchlichen Tradition und der Bürokratie nicht wenig zu schaffen. Der Berliner Schauprozeß besagte also für alle Wissenden gar nichts gegen die kirchlichen Würdenträger, die man»entlarven« wollte, aber noch viel weniger etwas gegen den»politischen« Katholizismus. Die Jungkatholiken standen auch zur offiziellen Zentrumspartei in Opposition. Sie hielten nur, so etwa durch den»Friedensbund deutscher Katholiken «, Verbindung zu einzelnen politischen Persönlichkeiten, so etwa zu Professor Dessauer, der in dem Prozeß als»berüchtigter Pazifist« bezeichnet wurde. Einige der jungen Kapläne unterhielten sich vor der Hitlerära— zu mehr kam es nie— mit Sozialisten und Kommunisten über soziale und politische Probleme und besuchten gelegentlich auch ihre Versammlungen. Aber niemals geschah es, um mit dem»Weltfeind« Nr. 1 oder Nr. 2 gemeinsame Sache zur Zerstörung der Staatsfundamente zu machen, wie es Vorsitzender und Ankläger im Berliner Prozeß wider besseres Wissen darstellten. Diese jungen Menschen hielten sich ihrer religiösen Mission gegenüber verpflichtet, Arbeiterschaft und Katholizismus wieder näher zusammenzuführen. Nach ihrer Meinung sollte die Kirche der»Sauerteig « sein, um mit ihren ethischen Antrieben bei der Erneuerung der Welt entscheidend mitzuwirken. Hier liegt die Motivierung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, der diese jungen Priester leidenschaftüch beseelte. Die Widerhumanl- tät, die brutale Erniedrigung der religiösen Sittengebote, die Verfolgung der katholischen Jugendbewegung: das waren die Anlässe des »Hochverrats«. Man traf sich 1933 und später und verhandelte mit Kommunisten, aus Verzweiflung über das Schicksal des Katholizismus. Die»zersetzenden Gedanken« galten vor allem der Rettung des Glaubens, und Aufruhr, Streiks und Sabotageakte führten diese jungen Menschen gewiß nicht im Schilde. Die gute Haltung der Angeklagten, die auch eine vielmonatige Haft nicht zermürben konnte, führte immer wieder zu schlecht geschauspielerten Zornesausbrüchen des Vorsitzenden. Nun verschwinden sie mit ihren viel zahlreicheren sozialdemokratischen und kommunistischen Schicksalsgefährten auf lange Jahre hinter Zuchthausmauem— bis der Sieg des Volkswiderstandes sie befreit. Der Prozeß, sein Verlauf und sein Ende i bedeutet eine starke Ermutigung der Opposition aller sozialen Schichten und ; Weltanschauungskreise. Spitz hörende Ohren , lasen vieles heraus, was hinter verschlossenen Türen— nur am ersten Tage ließ man ausländische Pressevertreter zu— verborgen bleiben sollte. Aber neben diesem Plus für die illegale Arbeit gibt ihr dieser Prozeß eine bittere Lehre. Er bewies, wie stark die Spitzelapparatur des braunen Systems die inneren Widerstandskräfte, leider nicht immer erfolglos, zu hemmen versucht. Die kommunistischen Vertrauensleute, mit denen die Geistlichen sprachen, waren vielfach der Gestapo bekannt und wurden von ihr überwacht. Sie konnte zugreifen, wenn das Material ihr genügte. Die Kommunisten, die aus dem Zuchthaus vorgeführt wurden, um gegen Katholiken zu zeugen, Märtyrer ihrer Gesinnung sind leider zugleich auch Opfer einer allzu geringen Vorsicht oder einer zu großen Vertrauensseligkeit geworden. Rudolf Heß , der Schatten des Führers Als er im Dezember 1933 den amtlichen Titel»Stellvertreter des Führers« erhielt, fragte die Oeffentlichkeit erstaunt, wer der Mann sei. Die nationalsozialistische Presse, sonst mit der Aufblähung von Nichtigkeiten so vertraut, wußte damals wenig über ihn zu sagen. Er sei der Privatsekretär Hitlers , sein langjähriger Begleiter und intimster Vertrauter, der»manchem den Weg zum Führer geebnet« habe. Verdienste dieses Ausmaßes genügten dann auch, ihn zum Minister ohne Portefeuille zu machen, sozusagen Kabinettsmitglied zur besonderen Verwendung. Ein auf Reichskosten bezahlter Generalsekretär der Partei— Aus seinem Gesicht blicken vorsichtige, verschleierte Augen unter zusammengewachsenen Brauen hervor. Neben den breiten Kinnladen Görings, dem verkniffenen Mickymausmund des Göbbels — sie tragen den Steckbrief in der Physiognomie—
Ausgabe
5 (9.5.1937) 204
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