Nr. 205 SONNTAG, 16. Mai 193? 6osialtemi>lraftfd)gg Nebenblatt Verlag: Karlsbad , HausGraphia" Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite Aus dem Inhalt: Landsberg und Dachau Bulgarien eine deutsche Kolonie Der Kirchenkampf verschärft sich Was liest Göbbels ? Die»Adise« berät Die Spitzen des Systems veranstalten einen Massenbesuch in Italien , einer löst immer den anderen ab. Göring , Ley, Neu­ rath haben ihre Besuche absolviert. Die Reihe ist nun an dem Reichskriegsminister Blomberg , dem Generalfeldmarschall von Hitlers Gnaden, und an Hitler selbst. Diese Besuche sind die Kehrseite der sogenann­ten Verständigungsbereitschaft, die Schacht nach Westen hin zur Schau trägt, sie sind Zeichen für die Rastlosigkeit des hitler­deutschen Expansionsstrebens. Sie sollen die deutsch -italienische Zusammenarbeit festigen und die politische Rollenvertei­lung klären. Die Lage hat sich vollkommen verscho­ben gegenüber dem Zeitpunkt, an dem Hit­ler in Venedig Mussolini seinen Besuch abstattete, und Mussolini eiskalt die Pläne eines Brückenschlags über Oesterreich nach Italien zurückwies. Der a- Realpoliti­ker« Mussolini wollte damals nichts wis­sen vom»ideologischen Block« der faschi­stischen Mächte. Er hat seine Realpolitik geführt Realpolitik ist seitdem ein gro­ßes Wort im Sprachgebrauch europäischer Staatsmänner mit zweifelhafter ideeller Grundlage und mit Hüfe dieser Real­politik ist er beim ideologischen Block der faschistischen Mächte, bei der»Achse« Berlin Rom gelandet. Heute ist er ein ebenso eifriger Brückenbauer wie Hitler selbst. Ein Vorgang in Oesterreich ist symptomatisch für die völlige Umwälzung der Verhältnisse. Nach dem Naziputsch vom Juli 1934, bei dem der Bundeskanzler Dollfuß von Nationalsozialisten ermordet wurde, wurde der präsumptive Bundeskanzler der Na­tionalsozialisten, der frühere Gesandte Dr. Rintelen, prozessiert und zu lebens­länglichem Kerker verurteilt. Die Verur­teilung erfolgte auf Grund der Zeugenaus­sage eines faschistischen Kronzeugen. Dr. Rintelen beging einen Selbstmordversuch, die Folgen davon haben bisher die Voll­streckung der Kerkerstrafe verhindert. Jetzt ist Rintelen aus dem Krankenhaus entlassen worden, die Voraussetzung für die Vollstreckung der Kerkerstrafe ist jetzt gegeben. Statt dessen ist er in Frei­heit gesetzt worden, und zwar auf speziel­len Wunsch von Hitler und von Musso­ lini . Es ist logisch. Wenn»die Achse« in Oesterreich gemeinsame Sache macht, hat sie Anlaß, ihre alten Rechnungen auszu­gleichen. Dieser Fall ist ein Abfallprodukt der Verhandlungen, die in Rom geführt wer­den. Es geht dabei um Spanien , und es geht um das Geschick Südosteuropas . Es geht weder um Frieden, noch um Verstän­digungsbereitschaft, sondern ganz einfach umHerrschaft Vor Mussolini schwebt das Ziel der Seeherrschaft im Mittelmeer , der Beerbung des»vergreisten britischen Volkes« durch den»jugendfrischen Fa­schismus«, vor Hitler die Erneuerung der imperialistischen Pläne, die über den Bal­kan nach Vorderasien zielen. Jeder Ver­such, die Pläne der beiden in Einklang bringen zu wollen mit anderen, auf Frie­den, Verständigung und Ausgleich wirt­schaftlicher Spannungen in Mittel- und Südosteuropa abzielenden Plänen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Herrschaftswille der Diktaturen strebt nach ganz anderen Lösungen als der Selb­ständigkeitswille der kleineren Staaten. Die Politik der nach Herrschaft streben­den Diktaturländer ist Angriff im ge­schichtlichen Sinne des Wortes. Ueber die Methoden des Angriffs, über die Vorberei­tungen, über die nächsten Zielsetzungen wie über die Verteilung der Beute wird zwischen Mussolini und der Spitze des braunen Systems verhandelt. Ein Stück von der politischen Grund­konzeption Hitlers und seiner geistigen Hintermänner ist verwirklichL Was er in Sorten des Systems Was wird aus der Yolksernährung? Die Weltagrarkrise dürfte mit diesem Getreidejahr ihren Abschluß gefunden haben. Bis zur neuen Ernte auf der nörd­lichen Halbkugel werden Argentinien , Australien und Kanada ihre Ueberschüsse aus früheren Jahren ziemlich restlos und zu guten Preisen abgesetzt haben. Er­weiterte Anbauflächen und günstiger Saa­tenstand in Uebersee lassen die manchmal vorausgesagte Knappheit und starke Preis­steigerung an Getreide bisher wenig wahr­scheinlich erscheinen. Aber noch weniger ist mit Preisverfall und neuem Farmer­elend zu rechnen. Die europäischen Ein­fuhrländer werden deshalb bei der Dek- kung ihres Bedarfs nicht mehr mit einem so niedrigen Getreide-Weltmarktpreis rech­nen können wie in früheren Jahren, und daraus ergibt sich für sie eine stärkere Belastung der Handelsbilanz. Um so wich­tiger wird für diese Länder der eigene Ernteausfall, und am wichtigsten für Deutschland , dessen inländische Getreidevorräte trotz aller Einschränkun­gen bereits jetzt nicht mehr zur Ueberbrückung des Bedarfs bis zur Ernte ausreichen und in steigendem Maße durch die Einfuhr ge­deckt werden müssen. Man begreift des­halb, mit welch verhaltener Angst die Göring , Darre und Schacht dem Ergebnis der deutschen Ernte entgegen­sehen. In der Tat erscheinen die Aussichten nicht sehr günstig. Während aber im Vor­jahr die offiziellen Stellen bis in den Sep­tember hinein die optimistischen Progno­sen verbreiteten, bis sich schließlich die Wahrheit, eine recht geringe und qualita­tiv unzureichende Ernte, nicht länger ver­hehlen läßt, sehen sie sich in diesem Jahre dann doch zu größerer Zurückhaltung ge­zwungen. Ja, man erhält fast den Ein­druck, als wolle man das deutsche Volk auf den Eintritt einer neuen Miß­ernte schon jetzt vorbereiten. Man ur­teile selbst. Der eben veröffentlichte Be­richt über den Saatenstand Anfang April hat folgenden Wortlaut: »Der Winter 1936/37 zeichnete sich durch verhältnismäßig wenig Schneefälle und außer­ordentlich viel Regen aus. Im übrigen war er mild, abgesehen von wenigen Kälteeinbrü­chen, die den Saaten gewissen Scha­den zufügten. Nachdem mehrere Jahre nacheinander die Winterfeuchtigkeit des Bo­dens recht gering gewesen war, ist sie in diesem Jahr außerordentlich groß. In mehr als 50 Prozent der Berichtsbezirke ist aus­reichende und in etwa 46 Prozent der Be­richtsbezirke zuviel Winterfeuchtig­keit gemeldet worden. Auch im März herrschte regnerisches Wetter. In etwa 60 Prozent der Berichtsbezirke sind zu reich­liche Regenmengen niedergegangen, und zwar meldeten aus Nordwest-, West- und Süddeutschland mehr als 80 Prozent der Ver­trauensmänner des Statistischen Reicbsamtes zu ergiebige Niederschläge, während in den übrigen Reichsgebieten, namentlich in den beiden Schlesien , der größte Teil der Bericht­erstatter die Niederschläge als gerade aus­reichend bezeichnete. Infolge der ungünsti­gen Witterung im Spätherbst 1936 verzö­gerte sich die Bestellung, so daß die Saaten nicht so gut bestockt in den Winter kamen wie in normalen Jahren. Da im März ebenfalls nasses und dabei vor­wiegend kaltes Wetter herrschte, ist die Entwicklung der Saaten noch allgemein im Rückstand. Im Reichsdurchschnitt stehen der Winter roggen mit der Note(1= sehr gut) 3.3(Dezember 1936= 3.0, Anfang April 1936 2.5), der Winter weizen mit der Note 3.2(2.9 und 2.4), die Wintergerste mit der Note 3.2,(2.8 und 2.5), der Winter­ raps mit der Note 3.1(2.8 und 2.5) und der Klee mit der Note 3.1(2.7 und 2.6) etwas schlechter, Luzerne und Wiesen aber etwas besser als mittel. Im Reichsdurchschnitt wurden außer Spelz sämtliche Feld­früchte ungünstiger beurteilt als Anfang Dezember 1936 und zur gleichen Zeit des Vorjahres. Falls trockenes und warmes Wetter eintritt, könnten aber die Saaten die Entwicklungsverzögerung sehr schnell auf­holen. Die Feldarbeiten sind allge­mein im Rückstände. In fast drei Vierteln der Berichtsbezirke konnte mit der Sommergetreide-Bestellung noch nicht begon­nen werden. Die Kartoffeln sind im allge­meinen normal überwintert.« Das ist ein sehr peasirräs tischer Be­richt und der einzige Trost ist der Hin­weis auf besseres Wetter. Nun kann gewiß warmes und trockenes Wetter manches gutmachen, aber kaum den allgemeinen Rückstand in den Feldarbeiten. Denn die­ser ist nicht nur eine Folge der ungünsti­gen Witterung, sondern auch eine Folge des Arbeitermangels, der sich trotz der infamen Zwangsmaßnahmen weiter ver­schärft hat. Denn die wahnwitzige Ueber- produktäon der Rüstungsindustrie, ein­schließlich des Kohlenbergbaus, der Eisen- und Bauindustrie, bindet einen großen Teil der Arbeiter und seihst die Diktatur bringt es nicht fertig, dieselben Arbeiter zugleich in der Industrie und auf den Aeckern zu beschäftigen. Und an diesem Zustand wird auch der Einsatz des Ar­beitsdienstes, der Hitlerjugend , der SA , und von Teilen der Wehrmacht , die Gö­ ring angekündigt hat, nicht allzu viel ändern. Denn von der Arbeitsleistung der »Mein Kampf « als Ziel seiner Politik be­zeichnete, Italien als Verbündeten für die Zwecke eines wieder erwachten deutschen Nationalismus zu gewinnen, ist erreicht. Aber es ist nur der kleinere Teil der Kom­bination, mit der er rechnete. Nicht nur ItaUen, sondern auch England sollte bei dem Wiederaufstieg Deutschlands zur Weltmacht als Bundesgenosse Pate stehen, Heute hat er zwar Italien gewonnen aber nur, weil das faschistische Spanien die Bundeshilfe Hitlers gegen Eng­land sucht. Das ist es, was der italienisch­deutschen Zusammenarbeit einen gefähr­lichen Zug von Desperadopolitik gibt, der überraschende Ueberfälle und Fnedens- brüche befürchten läßt. Wenn die beiden Diktaturmächte ge­meinsame Politik betreiben, so ist diese Politik von vornherein verdächtig. Hitlers Auffassungen über Bündnisse sind bekannt: »Völkerschicksale werden fest aneinander- geschmiedet nur durch die Absicht eines ge­meinsamen Erfolges im Sinne gemeinsamer Erwerbung, Eroberungen, kurz, einer beider­seitigen Machterweiterung«.(»Hein Kampf«, Seite 697.) »Ein Bündnis, dessen Ziel nicht die Ab­sicht zu einem Kriege umfaßt, ist sinn- und wertlos.«(S. 749.) Bedarf es noch einer genaueren Er­läuterung, worüber die»Achse« in Rom verhandelt? Wenn Göring und Mussolini miteinander reden, wird über die wirkliche deutsche Politik gesprochen, wenn Schacht in Brüssel und Paris glatte Redensarten von sich gibt, wird die wirkliche deutsche Politik verschleiert. mit Landarbeit meist ganz unvertrauten Kräfte ist nicht viel zu erwarten. Vielleicht geht man aber auch mit der Annahme nicht fehl, daß es sich bei die­sem, so auffällig betonten»Rückstand der Feldarbeiten« bereits um ein allgemei­nes Absinken der Intensität der Bebauung, um den wachsenden passiven Widerstand der Bau­ern handelt, der durch die Zwangswirt­schaft der Darre und Göring ausgelöst ist. Die Verwandlung des Bauern in den Staatssklaven, dem Art und Ausmaß der Produktion zentral von oben vorgeschrie­ben ist, der den größten Teil seiner Ernte zu festgesetzten Preisen abliefern muß, erweist sich als Hemmung der Produktion und muß auf die Dauer zu der Tendenz führen, die bäuerliche Wirtschaft immer stärker auf die Deckung des eigenen Be­darfs zu beschränken. Weit entfernt da­von, die»Nahrungsfreiheit« zu erreichen, führt die Darresche Zwangswirtschaft zum Sinken der Produktion und zum Zwang erhöhter Einfuhr. Dabei scheint die bäuer­liche Opposition gegen die Verschärfung, die die jüngsten Maßnahmen des Reichs­nährstandes gebracht haben, im Wachsen zu sein. Die»Neue Zürcher Zeitung «, die sich bei ihrer Berichterstattung aus Deutschland große Zurückhaltung auf-( erlegt, veröffentlicht folgendes Telegramm ihres Berliner Korrespondenten vom 6. Mai: »Die Opposition gegen den Reichsbauernführer und Ernährungs- minister Darrä hat in Westfalen gefähr­liche Ausmaße erreicht, so daß die Regie­rungsstellen in Berlin sich zu einem schar­fen Vorgehen veranlaßt sahen. Der Landesbauernführer und mit ihm Dutzende von Funktionären wur­den kurzerhand abgesetzt. Andere Funk­tionäre und zahlreiche Kreisbauernführer traten daraufhin zum Zeichen des Protestes von ihren Aemtem zurück. Von Berlin aus ist der Landesbauernführer der Rheinpro­vinz. v. Eltz-Rübenach (ein Verwand­ter des früheren Reichspost- und Verkehrs­ministers), als Kommissar für Westfalen ernannt worden.« Wir wollen gerne die augenblickliche innerpolitiache Bedeutung solcher Vor­gänge angesichts der Machtmittel der Diktatur nicht überschätzen, aber wirtschaftspolitisch würde ein neuer schlechter Ernte­ausfall die Schwierigkeiten des Regimes außerordentlich steigern. Denn der agrarische, nur durch vermehrte Einfuhr zu befriedigende Rohstoffbedarf gesellt sich zu dem indu­striellen. Auch hier wollen wir statt des eigenen Urteils einige Zitate sprechen lassen. In einer kürzlich vor der»Volks­wirtschaftlichen Vereinigung« im Rhei­nisch-Westfälischen Industriegebiet ge­haltenen Rede über den deutschen Außen­handel konstatierte der Direktor am Sta­tistischen Reichsamt, Dr. G r ä v e 1 1, daß »seit Jahren der notwendige Einfuhrbe­darf nicht aus der Einfuhr dieser Zeit allein, sondern zu einem nicht unerheb­lichen Teil aus Lagerbeständen gedeckt« worden sei. Diese Lager sind aber ebenso wie die Getreidevorräte nunmehr restlos verbraucht. In einem ganz unpolitischen Berliner Bericht der»Neuen Zürcher Zei­ tung « vom 1. Mai über die Ursachen der gegenwärtigen Geldflüssigkeit in Deutsch­ land heißt es: »Ferner sind die Warenlager der In­dustrie und des Handels nahezu restlos erschöpft, wodurch weitere Gelder frei-