Nr. 20? BEILAGE 30. Mai 1937 Lebendiger Marxismus Zu Max Adlers»Das Rätsel der Gesellschaft« Der Marxismus steht heute bei der bürgerlichen Welt schlecht im Kurs: die Wissenden und Denkenden fürchten in ihm die große geistige Macht, die einmal ihrer Herrschaft ein Ende setzen könnte; und die Demagogen haben ihn entweder zum Prügelknaben gemacht, der an allen von ihnen selbst gesetzten Uebeln die Schuld tragen soll, oder sie haben ihn als Kinderschreck herausgeputzt, um die gegen sie Murrenden mit etwas noch Böserem bedrohen zu können und um für ihr Wüten einen billigen Vorwand zur Hand zu haben. So furchtbaren praktischen Schaden die sozialistische Bewegung unter dieser Aech- tung des Marxismus gelitten hat, so wenig würde sie im Geistig-Ideellen bedeuten, aber leider hat der antimarxistische Kreuzzug auch im sozialistischen Lager selbst ein befremdend starkes Echo geweckt: es gibt Kräfte, die den Gedanken der ökonomischen Wurzel des Geschichtsprozesses, des Klassenkampfes, der Internationale usw. als überholt bezeichnen und ihn durch einen an Unklarheit und Verschwommenheit schwer zu überbietenden»Volks- sozialismus« ersetzt sehen möchten; und ebenso oft stoßen wir in sozialistischen Abhandlungen auf das Wort»V u 1- gärmarxismus« als Inbegriff alles Banalen und Abwegigen, wobei nur leider so ziemlich das ganze Gedankengut des Marxismus als solch peinliche»Vulgarisierung« angesehen und in Bausch und Bogen abgetan wird. Nichts liegt uns femer, als daß wir alles, was sich»marxistisch« nennt, auch schon als bedeutend anerkennen oder daß wir jede Kritik am Marxis mus als Sakrileg ausschreien wollten. Wohl aber hat, wer es mit dem Sozialismus irgendwelche? Grundhaltung ernst meint, die moralische und intellektuelle Pflicht, mit wissenschaftlicher Exaktheit festzustellen, w o ihm die Gefahr des Abirrens marxistischer Denkweise ins Platte und Alltägliche vorzuliegen scheint. Denn der allzu freigebige Gebrauch der Etikette »Vulgärmarxismus« droht einigermaßen unkritische Sozialisten gegen alles, was von marxistischer Seite kommt, mißtrauisch zu machen und damit den gesamten Sozialismus über kurz oder lang seiner stärksten geistigen Triebkraft zu berauben. Wie blind die stereotype Verbindung »Vulgärmarxismus« am lebendigen Geist der Lehre vorbeisieht, wie unstarr, un- mcchanistisch und durchgeistigt noch immer das von Marx aufgebrachte Denkverfahren zu funktionieren vermag, das irann man freiheh nicht aus dem literarischen Tagesertrag der vielen kleinen Mitläufer ablesen: da muß man sich schon an die echten Vertreter und Wahrer des Marx'schen Gedankengutes halten, und darum kommt das große erkenntniskritische Werk Max Adlers »Das Rätsel der Gesellschaft« (Saturn- Verlag, Wien 1937) gerade heute gerufen, denn es warnt in seiner reichen. tiefen und strengen Geistesfülle alle Urteilsfähigen, leichtgemut mit dem Worte »vulgär« den Namen einer Lehre zu verkoppeln, die noch solchen Ertrag hervorzubringen imstande ist. Was an dem Buche zuerst imponiert und es als ungewöhnliche Leistung legitimiert, ist die lückenlose, niemals abirrende, Argument an Argument fügende Geschlossenheit der Gedankenentwicklung, ist die logische Kraft, die aus ganz wenigen aus sich selbst einleuchtenden Voraussetzungen Möglichkeit, Wesen und Grenzen der Natur- und der sozialen Erfahrung ableitet. Das Verfahren, das ihn dazu befähigt, verdankt Max Adler dem eigentlichen Bahnbrecher der modernen Erkenntnistheorie, Kant, der den geistigen Arbeitsprozeß selbst, seine Formen und seine Gesetze mit HUfe der »transzendentalen Methode«, d. h. mit Hilfe der»Selbstdurchlcuchtung des Bewußtseinsprozesses und der Auseinanderlegung seiner Funktionsweise«, zum Gegenstand der Erforschung machte. Den archimedischen Punkt seines Systems aber fand er in der bei Kant, Fichte und Hegel vorbereiteten, von Marx und Engels klar herausgearbeiteten Erkenntnis, daß nur»der vergesellschaftete Mensch« zu erfahren und zu denken vermag, weil der Mensch seinem eigentlichsten Wesen nach ein Geschöpf ist,»das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.« Von diesen beiden Ausgangsorten seines Denkens her verankert Max Adler die Gesellschaftslehre, die Soziologie, in der Erkenntnistheorie, denn nur so glaubt er sie auf sichere Grundlagen stellen und sie aus dem Streit der Meinungen retten zu können, der an ihr alles: Gegenstand, Aufgabenkreis, Ziel und Methoden, in Frage stellt. Er beginnt darum nicht beim Letzten und scheinbar Selbstverständlichsten, bei der Wesensbestimmung der»Gesellschaft«, sondern untersucht Schritt für Schritt, wie der Mensch zu einer gesellschaftlichen Erfahrung überhaupt gelangt. Auf diesem Weg überzeugt er uns nicht nur davon, daß unser Denken alles Sein erzeugt, daß also sämtliche Denkinhalte nicht vielleicht etwas»Vorgefundenes« und von außen an uns»Herangebrachtes«, sondern ein»vom Bewußtseinsprozeß Getragenes und durch ihn Bestimmtes« sind. Nein, er macht uns auch klar, daß unser Glaube an die objektive, unbestreitbare und allgemeingültige Existenz der Außenwelt unseren unwillkürlichen Glauben an die Existenz ebenso denkender, von denselben Bewußtseinsprozessen erfüllter»Ichs« zur unausweichlichen Voraussetzung hat.»Der Begriff der Objektivität oder Gültigkeit kommt erst dadurch zustande, daß ich mein Bewußtsein mit dem Bewußtsein zahlloser Nebensubjekte von vornherein in eins setze«— der»Andere«, die soziale Umwelt ist in meinem Objekt-Denken a priori schon gegeben.»Mitten in dem scheinbar individuellen Erlebnis des Ich und in seiner nur auf die Sache selbst sich stützenden Beziehung tut sich mit einem Male etwas Neues auf — der Andere und das Interindividuelle, d. h. die geistige Gemeinschaft mit ihm und unbestimmt vielen.« Dieses»Sozialapriori« unseres Welterlebens, diese notwendige Beziehung aller Erfahrung»auf die Anderen als Glieder des eigenen geistigen Zusammenhanges« beweist die»transzendentale Vergesellschaftung« des denkenden Ichs—»das individuelle Bewußtsein ist a priori vergesellschaftet«. Das Soziale bewährt sich damit als konstitutives»Element des logischen Denkprozesses, es gehört solcherart zu den Bedingungen der Erfahrung überhaupt. Das Soziale ist also kein Produkt des menschlichen Zusammenlebens, des Denkverkehres der Einzelnen oder des Mit- und Gegeneinanderhandelns derselben, sondern eine Form des Bewußtseins, die alles historische Zusammenleben und alle soziale Entwicklung erst möglich macht«, es ist ein»geistiges Sein«. Geistiges Sein darum, weil es auf der immanenten geistigen Verbundenheit mit allen anderen Ichs beruht, weil es»das Zusammensein des Ichsubjektes mit Nebensubjekten« in jedem Einzelbewußtsein zur Voraussetzung hat. Weil sich die Vergesellschaftung in jedem Einzelbewußtsein vollzieht, so ist auch, so seltsam das klingen mag, das Individuum der Gegenstand der Gesellschaftswissenschaft, aber freilich das denknotwendig vergesellschaftete Individuum, das Individuum als Träger und Erleber des sozialen Seins. Als Seinswissenschaft den Naturwissenschaften eng verwandt, muß sich die Gesellschaftswissenschaft gleich diesen der kausalen Methode bedienen, nur daß eben die soziale Kausalität etwas Geistiges und nicht, wie die naturale, etwas Physikochemisches oder gar Mechanistisches ist; und auch das Normative kommt in ihr insofern zu einem gewissen Recht, als alles Soziale nur innerhalb eines Rahmens von Ganzheits- oder Einheitsbeziehungen erfaßt werden kann und dies wieder notwendiger Weise Wertungen und Zielsetzungen mit sich bringt. Im weiteren Sinne gehören zur Sozialwissenschaft alle Einzeldisziplinen, die sich mit den verschiedenen Erscheinungen des geistigen(sozialen) Seins und Geschehens beschäftigen, also die Rechts-, Staats-, Religionswissenschaft usw. und die Geschichte sowohl als Ge� schichtswissenschaft wie als Geschichtsschreibung. Auch die Psychologische gehört hierher und ebenso die Charakterkunde. Im engeren Sinne bezeichnet der Ausdruck»Sozialwissenschaft« die Soziologie, d. h. die Wissenschaft vom Wesen und den Formen der Vergesellschaftung sowie von den Gesetzen ihrer Veränderung. Die Soziologie ist also eine E i n z e 1 Wissenschaft mit einem selbständigen, genau angebbaren Gegenstand, insofern sie aber »die Grundorientierung für die Begriffsbildung, Problemfassimg und Methode in allen einzelnen Sozialwissenschaften« liefert, darf sie wohl»in ihrem allgemeinen Teil als die Grundwissenschaft aller Sozialwissenschaften bezeichnet werden.« Diesen Charakter der Soziologie als Seinswissenschaft haben Marx und Engels durch ihre Herausarbeitung des historischen Begriffs vom vergesellschafteten Menschen begründet, ihre geniale Analyse hat»hinter den ökonomischen Versachlichungen und politischen Verselbständigungen«, hinter»den Allgemeinideen und Allgemeingefühlen«, hinter den großen Gedanken»Volk, Vaterland, Menschheit« usw. die Rolle der tätigen Menschen in ihrer dialektischen Vergesellschaftung zum ' Vorschein gebracht«. Erst wenn man so 'sieht, welche Bedeutung der erkenntniskritische Interpret des Marxismus dem Geistigen im gesamten Entfaltungsprozeß !der Menschheit zuweist, ja wie er»geistig« und»sozial« einander gleichstellt, vermag man die Verantwortungslosigkeit der Behauptung, daß die marxistische Denkweise allzu leicht zu Mechanisierung, Materialisierung und Banalisierung verführe, ganz zu ermessen, erst dann reduziert man das gefährliche Schlagwort vom»Vulgärmarxismus« auf seinen wahren Wert: daß es nämlich in seiner schwer bestimmbaren Verallgemeinerung eine Denkmethode bedenkenlos verdächtig macht, die heute noch ebenso reiches, vorwärtsweisendes Leben in sich birgt wie am ersten Tage. Alfred Kleinberg. Flagellanten in der Redaktion Der»Dank des Vaterlandes« für stramme Gleidisdialtung Aus dem Rheinland wird uns geschrieben: Zur Methodik der Kazett-Erziehung an deutschen Hitler -Opfern gehört es— darin stimmen alle»Greuelberichte«, die beglaub- bigten und die imbeglaubigten, ganz monoton überein_, die Delinquenten sich selbst moralisch und auch physisch beschmutzen zu lassen. Etwa so:»Nicht wahr, du bist ein Hebräer, ein krummbeiniger?! Wirst du gleich sagen, daß ihr Judenschweine den Weltkrieg angestiftet habt?!! Nun wird's bald? Reich' mal den Ochsenziemer herüber! Sau, nimm die Hose herunter! Wie war's also mit dem Weltkrieg und den Juden———?!« Dann Wimmern und klatschende Hiebe:»Jawohl, Herr Standartenführer, wir Juden sind schuldig am Weltkrieg. Jawohl! Ja wirklich! Gott o Gott ! Heil Hitler!« Da Schinderknechte im allgemeinen nicht über viel Phantasie verfügen und eigentlich das ganze Hitlersystem aus solchen reinstallierten rüden Primitiven besteht, wäre es schlecht denkbar, daß seine Torturmethoden sich großen Abwechslungsreichtums erfreuen könnten. Nein, das tun sie nicht! Die»Re- zeptur« ist und bleibt ebenso primitiv, als beständig und kontinuierlich. Zur Zeit wird sie an der gesamten früheren katholischen Presse Deutschlands mit geradezu vollendeter Präzision vollzogen. Hier, im deutschen Westen, ist zur Stunde die Atmosphäre geradezu geschwängert von den kalten moralischen Schweißausbrüchen der ehemaligen Zentrumsredakteure, die sich in diesen Tagen allen Prozeduren jenes Kazett- Flagellantlsmus unterziehen müssen. Wir bleiben bei einem konkreten»Greuel«- Beispiel. Da ist die immer noch an einem wenn auch sehr dünn gewordenen Lebensfaden hängende»Kölnische Volkszeitun gc. Sie fungierte beinahe drei Menschenalter hindurch als»leader« des Katholizismus in geistiger, kultureller und auch politischer Hinsicht. Erschien mehrere Male täglich, hatte zeitweise einen Redaktionsstab von einigen zwanzig mehr oder weniger im katholischen Zirkel prominenten Persönlichkeiten. Hitler und seine»Justiz« brachen ihr das Genick mindestens das Rückgrat. Verlagsmäßig mußte das in den Bankrott gepreßte Unternehmen— die Verlagsmanager durch Zuchthausurteile gebrandmarkt— in die bescheidene Kameradschaftshilfe eines Essener katholischen Provinzverlegers sich flüchten, der, weil es im ausgesprochenen Ruhrgebiet immer noch eine zahlreichere katholische Arbeiterschaft gab, die sich nicht so mir nichts, dir nichts innerlich gleichschalten ließ, wie Kleinbürger, Intellektuelle und Bourgeoisie in der alten Domstadt, noch seinen katholischen Geschäftsstandard wenigstens halbwegs hatte halten können. Noch heute amtiert der frühere Chefredakteur an der so amputierten»Kölnischen Volkszeitung«- Er zog es vor, auszuharren auch in der»babylonischen Gefangenschaft« der Zeitung, während schon ein großer Teil der engeren Kollegen den Weg zur neuen»Weltanschauung« und zu entsprechenden braunen oder doch angebräunten Mäcenaten des Zeitungsgeschäfts gefunden hatten. Er war früher Buchdrucker, die Ordensbrüder seiner Geburtsstadt Würzburg hatten ihm die Karriere des»Arbeiterstudenten« ergreifen lassen. Der ehemalige arme Setzer durfte nun sich alle akademischen Ehren holen. Pen Weltkrieg machte er als Hauptmann der Reserve mit allen Auszeichnungen von Anfang bis Ende mit. Vielleicht kam gerade das alles bei ihm zusammen, um ihn doch standhalten zu lassen. Mit ihm ging als einziger noch der Lokalredakteur, der im alten Verlag als Laufbursche vor Jahrzehnten begonnen hatte; so eine»Volkspartei «— als auch ein Stück ihres Antiborussenianis- mus— wollte Immer das»Zentrum« darstellen; man gab in alter rheinisch-demokratischer Tradition dem Kopf und nicht der Stelze, der Begabung und nicht dem Geburtsschein in entscheidender Situation den Vorzug. Nichts darüber, wie die beiden Katholiken (aber ihr Schicksal ist ja nur das typolo- gische für Hunderte anderer mit genau derselben Qual und Schande des nationalsozialistischen Werkeltage®) sich bisher schlecht und recht durch alle Dschungeln des ihnen nun vorgeschriebenen literarischen»Amts- waitertuma« unter der Knute von Göbbels und seiner rabiaten jungen Leute durchgewunden haben. Sie spuckten mit nach Kräften auf die»Emigranten«, die katholischen mit eingeschlossen. Sie lutschten mit an allen Schreckensgeschichten und Dienstmädchenromanen über die»bolschewistische Weltgefahr«. Sie entdeckten die Kuriositäten einer»ständischen Wirtschaftsordnung« ebenso mit, wie ihren genau bis zum Tage der»Machtergreifung« rückwirkend datierten Antisemitismus. Nur— was Ihnen jetzt an Schändung des eigenen Seibat, an erzwungener geistiger Zuhälterei in Kumpanei mit literarischer Gangsterei, an moralischem Geißlertum und Weltanschauungs- masochismus täglich zugemutet wird, das spottet selbst der Satire. Jawohl, sie verschicken ihre Zeitung nach wie vor in die Pfarrhäuser und denen erzählen sie jetzt spaltenlang, welcher Lust-
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5 (30.5.1937) 207
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