Nr. 219 BEILAGEUcucctenfltfs22. August 193?Ein Franzose sieht DeutsdilandRoland Borgelns, der Verfasser der»Hölzemen Kreuze«— neben dem Romanvon Barbusse eines der meistgelesenstenKriegsbücher Frankreichs— gibt unterdem Titel»Es lebe die Freiheit-'« den Rechenschaftsbericht einer Reise durch Diktaturländer. Er ist gründlich, er besuchtRußland, Deutschland, Italien, Oesterreich und Ungarn. Von sich selbst sagtDorgeles, daß er unpolitisch sei; das läuftmeist auf Politik der Rechten hinaus, undso sieht er denn auch die AußenpolitikFrankreichs unter dem Blickwinkel derKonservativen. Indessen ist Dorgeles einliberaler Mann, er hat das Ohr für dieleisesten Nuancen der Unterdrückung,man höre ihn über Oesterreich sprechen,er kommt den Autoritären auf ihreSchl'che, er ist als Beobachter guten Willens.Wenn er in Hamburg in der Morgenfrühe,an einem regnerischen Tage Dockarbeiternach dem Schicksal Edgar Andres zufragen versucht, so ist diese Szene fürunser Gefühl von einer bösen Komik. Esdreht sich einer schwer herum und sagt:»Edgar Andre— wer ist das? Den kennen wir nicht.« Davon abgesehen abermuß man Dorgeles nicht des Vorwitzeszeihen. Hören wir, was er über dieBraunhemden sagt.»Was haben sie gewonnen, frage ichmich, die armen Teufel der Sturmtrupps,Nazis seit der ersten Stunde, die die Kommunisten mit Revolvern angegriffen haben unddie, wenn es sein mußte, den Maschinengewehren der Reichswehr trotzten? Nichts alsdiese unkleidsame Hose, die sie selbst bezahlen mußten, Stiefel aus Kunstleder, eineFeldflasche, die— ach wie oft— leer istund das braune Hemd, unter dem sie frieren.All ihren Gewinn führen sie bei sich. DieAuszeichnungen, das Avancement, die gutenStellen, das ist für die anderen gewesen, fürdie Söldner der Schutzstaffel(SS), nun brüsten sich die Herren in ihren schwarzen Uniformen. EHe allerdings waren noch zu jung,um sich schon in München zu schlagen, siesind gerade im günstigen Augenblick gekommen. Seit dem Juni 1934,— der ErledigungRöhma, kann man sagen, daß die Braunhemden, denen Hitler die Macht verdankt,nichts mehr als Figuranten sind.Sie kommen einen Abend in der Woche zueiner Besprechung zusammen und an dreiSonntagen des Monats zu einem Uebungs-marsch, der immer mehr den Charakter einerLandpartie annimmt. Bei einer Katastropheoder bei einem Umzug erinnert man sichihrer, sie dürfen dann Ordnungsdienst machenoder die Fahnen tragen. Auf dem Schießplatz läßt man sie üben, aber dann müssensie die Patronen bezahlen. Ihr einziges Privileg ist, einen Monatsbeitrag zu leisten.Arbeitslose: hundert sous. Das ist Vorzugspreis. Da sieht man, was es einbringt, dieHaut für einen Diktator zu Markte zutragen.«Dorgeles weiß aber auch, wie es bei denbehäbigen Leuten aussieht. Er überschreibt diesen Abschnitt»Hitlers Parias.«Sein Bericht beginnt damit, daß man einerreichen Kaufmannsfamilie in der LeipzigerStraße während des Abendessens Gästeaufgenötigt hat, Hausgenossen, die zumGemeinschaftsempfang einer Hitlerredeantraten. Dorgeles denkt dabei an dieDummköpfe in Frankreich, die meinen, daßbei einem autoritären Regime ihr Heimunverletzlich und der Privatbesitz heüigsein würde.>Na schön, der Besitz, wir können ja davon sprechen«, seufzte mein Gastgeber, indemer seine Serviette auseinanderfaltete.»DieSache ist einfach, man raubt uns aus, mantötet uns.« Und wie leb ein wenig lächelte:»Aber wirklich, mein Herr. Dieser Göringist zu allem fähig. Er droht schon, denjenigen den Hals abzuschneiden, die Geld imAusland haben.Man beklagt immer die Intellektuellen,aber die Freiheit des Handels wäre auchwert, daß man Respekt von ihr hätte. EänSchuhwarenfabrikant, ein Restaurateur, einBankier ist nicht weniger unfrei als einJournalist, nicht weniger gefährdet als einehemaliger Eeichstagsabgeordneter. Wennunsereiner drankommt, unterzeichnet dasAusland keine Petitionen, in der Tat, werkümmert sich um das Schicksal eines Fabrikbesitzers, den man enteignet, eines Ladeninhabers, den man einsteckt? Das sind Dinge,die alle Tage vorkommen. Bei der kleinstenGesetzesübertretung werden einem erdrük-kende Geldstrafen auferlegt, 10.000, 20.000,50.000 Mark.»Sag mal, Krantzler,« fragte mein Gastgeber seinen Schwager, einen starken Mann,der bis zur Unschicklichkeit glattrasiert undkurz geschoren war,»von wieviel Amtsstellen wirst du kontrolliert!«»Acht« antworteteder andere mit vollem Munde—»Es folgenhier Klagen über Bürokratisierung des Handels, die unseren Leser nichts Neues sagenwürden, ebenso über Beschneidung des Profits.»Das ist Kollektiviamus«, sagte, indemer sich mäßigte, Herr Krantzler. Er meinteBolschewismus. Eis ist Tatsache, daß dasRegime kaum mehr die Besitzenden schont.Beim Eintritt nach Deutschland könnte manzum Gebrauch der Reichen eine Tafel anbringen:»Diktatur. Gefahrenzone« Der Staatschöpft ohne Scham aus den Kassen unterdem Vorwand freiwüliger Beiträge, derenHöhe er selbst festsetzt.»Seien sie sicher, andem Tage, an dem sie eine gewisse Summeverdienen, wird mjt gleicher Post ein Scheckeinlaufen, den sie auszufüllen haben,— zugunsten irgend eines Parteihilfswerks.«»DasMesser an der Kehle«, ächzte mein Nachbar.»Die Armen wenigstens haben nichts zu verlieren.«Das ist wahr. Nichts als ihre Haut...Während der Reiche am Kassenschub ebenso empfindlich ist wie an den Nieren. Ichfühle ein Unbehagen in der Gegend meinesGeldbeutels, hätte der dicke Herr neben mirsagen können.Soviel über die Nöte der Besitzenden.Zu dem folgenden und letzten Bruchstückdes Reiseberichtes, aus dem wir zitieren,muß bemerkt werden, daß man aus einigen Angaben, die Dorgeles macht, erkennen kann, er ist etwa vor einem Jahre inDeutschland gewesen.»Wo sind die, die Widerstand leisten?Seit einem Monat suche ich sie vergeblich,von der Ostsee bis nach Tirol.Ich entdecke entschlossene Feinde dasRegimes nur ganz oben und ganz unten.Ganz oben, damit meine ich, bei den großenWürdenträgern der katholischen Kirche, beieinigen gedemütigten Fürsten, bei den Intellektuellen, die man unterdrückt, den Großindustriellen, die man beraubt, und ganz unten, in den Reihen derer, die Fronarbeitleisten. Zwischen diesen zerstreuten Kräften gibt es kein Band, kein Vertrauen, keineLiebe.Man soll sich darüber nicht täuschen.Wenn nicht äußere Ereignisse eintreten, istdas Dritte Reich in seinem Bestand gesichert.Es gleicht den gotischen Kirchtürmen, dieauf zerbrechlichen Bogenreihen ruhen und imoffenen Himmel den Gesetzen des Gleichgewichtes zu trotzen scheinen. Kein Geld,kein Handel, keine Arbeit, kein Brot. Trotzdem, es steht. Aber wenn die Erde zittert,wird alles einstürzen. Kein anderer Staatist einer Erschütterung von außen so sehrauf Gnade und Ungnade ausgeliefert.«i E ii di t top dem Jus!Krise der juristisdien FakultätenKeine Karriere mehr...Hörsäle und Institute nahezu leer—Von einem früheren deutschen Verwaltungsjuristen wird uns geschrieben:Ausgerüstet mit den Attesten treuerDienstbereitschaft gegenüber dem DrittenReich rüsten sich 400 deutsche»Rechtswahrer« zur Reise nach Paris. Siesind die offiziellen Abgesandten zur Teilnahme an einer internationalen Juristentagung,auf der sich das übliche Spiel wiederholenwird: festlicher Empfang der deutschen Delegierten, als ob sie Vertreter eines Landeswären, in dem die in der Welt geltendenRechtsprinzipien und ihre moralischen Grundlagen immer noch volle Anwendung finden.Staatsanwälte, Richter, Rechtsanwälte, Verwaltungsjuristen— alle werden sie sich InParis als honnette europäische Bürger präsentieren und»beweisen«, daß der neudeutsche Blutrichter als Vollzugsorgan des Nationalsozialismus ein Greuelmärchen der Emigranten sei.Aber die braunen Schleier um die deutsche Rechtspflege— die Feder wehrt sichgegen die Niederschrift dieses Wortes— sinddoch nicht ganz so undurchsichtig, wie ihreInteressenten glauben. Aus dem Schöße derdeutschen Universitäten kommen wahre Notschreie über den Niedergang desRechtsstudiums. Von 1933 bis 1936/37ist die Zahl der Studierenden der juristischenFakultäten von 1 6.3 00 auf 6.0 00 zurückgegangen, sodaß die zuständigenInstanzen ihre Sorge um ausreichenden Nachwuchs nicht länger verhehlen. Besonders fehltes an Studenten für die ersten und mittlerenSemester. An nahezu allen deutschen Universitäten wird, wie man aus der braunen Pressean etwas versteckter Stelle erfährt, augen-blioklich erwogen, ob man nicht eine ganzeReihe einführender Vorlesungen ausfallenlassen muß, weil sie sich nicht mehr lohnen.Bs bestehe, so erfährt man,»vielerorts bereits ein starkes Mißverhältnis zwischen den staatlich bereitgestellten Lohreinrichtungen, Lehrstühlen, Instituten etc. und der vorhandenenHörerzahl. Diese Unregelmäßigkeitmuß sich natürlich auf die Intensität desStudiums und den Charakter der Prüfungenauswirken.«(»Westdeutscher Beobachter.«)Die Sache erweist sich aber als noch vielschlimmer, wenn man die Zahlen nachprüft.Es ergibt sich, daß von den 6000 Rechtsstudenten heute ein volles Dritte« allein auf dieUniversitäten Berlin und München entfallen,während zwei Drittel an den 23 anderen deutschen Hochschulen immatrikuliert sind! Dasist nahezu ein Zusammenbruch desdeutschen Rechtsstudiums. Jede deutscheHochschule legte Wert darauf, nicht nur einenvollständigen juristischen Lehrkörper, sondern auch vielseitige Spczialinstitute zu besitzen. Was darin gefehlt hatte, wurde großzügig von sozialdemokratischen oder demokratischen Kulturministern in den»Jahren derSchmach« bewilligt. Heute sind die Hörsäleverödet, die Bibliotheken unbenützt— trotzdes jüdischen Exodus aus der Jurisprudens,der so vielen patentarischen Anwärtern aufAemter und In den freien Berufen endlichEllenbogenfreiheit verschaffen sollte.Woher der Rückgang? Die nationalsozialistische Presse ist etwas ratlos beider Deutung des Phänomens— wobei dahingestellt sei, was zu schreiben ihr erlaubtworden ist. Sie verweist auf die Abwanderung vieler Abiturienten zum Arbeitsdienstund zur Wehrmacht— ohne ein Wort überdie Frage, weshalb gerade das Studium derJurisprudenz einen solch unverhältnismäßiggroßen Rückgang verzeichne. Die Gründemüssen also tiefer liegen, und sie sind nichtschwer zu erkennen: es gibt kaum nocheine aussichtsreiche juristischeKarriere im Dritten Reich.Diejenige des Verwaltungsjuristen ist reizlos geworden. Ueberau konkurrieren sie mit»alten Kämpfern«, von denen die meistenroch jung an Jahren sind— nach der Devise, daß nicht das Wissen, sondern der»Charakter« entscheidend sei. Die Laufbahnder Richter und Staatsanwälte ist durch dieS o n d e r g e r i c h t s b a r k e i t der Partei außerordentlich eingeschränkt worden—eine Gerichtsbarkeit durch gesetzlichenZwang, die von juristisch ungeschulten»Führern« ausgeübt wird. Hohe Gerichtsbeamtesprechen in vertrautem Kreis von der immerstärkeren Einengung ihrer Befugnisse mitgroßer Erbitterung, freilich bei sonst völligem Mangel an Zivilcourage, da sie sichgegen das Diktat zur Aburteilung von gesinnungsfesten Oppostionellen niemals auflehnen. Katastrophal aber ist die Lage derRechtsanwälte. Obwohl vor allem inden Großstädten die Anwaltsliste um 50 Prozent und darüber hinaus durch Entfernungoder formelle Boykottierung der Juden unterihnen reduziert worden ist, klagen die arischen Büros über einen deprimierenden Mangel an Kundschaft. Besonders unter der Jüngeren Anwaltschaft herrscht bittersteNot. Die Ursache liegt zum Teil daran, daßdie Parteigenossen verpflichtet sind, ihre Differenzen außerhalb des Gerichts»unter sich«zu schlichten— und daß die anderendenGIauben an die Existenz einerG e r e c h 1 1 g k e 1 1 s p f 1 e g e verlorenhaben.Es gibt aber noch einen anderen Grundfür diese offene Flucht junger Menschen vordem juristischen Studium im Dritten Reich— einen Grund, der für jeden Feind des Regimes wichtiger ist und ihn hoffnungsfroherstimmt als alle anderen, die auf mangelndenKarriereaussichten und Verdienstmöglichkeiten beruhen. In der deutschen Jugend wächst,wenn auch erst langsam und in der geistigenZielsetzung noch sehr unklar, der innereWiderstand gegen die ihr im DrittenReich gegebene Aufgabe: nur Diener undBüttel zu sein— ohne Raum für die Stählung einer freien Gesinnung»- und Willena-entscheidung, die zum ewigen Anrecht jungerMenschen gehört. Gerade den deutschen Juristen ist nichts mehr geblieben als der Befehlsempfang der parteipolitischen Exekutive, vor welchem Universität und Studium der Gesetze zur Farcegeworden sind.An der HklerhisgestorbenDas Ende der Münchner»Jugend«Nach langem qualvollen, aber mit Geduldertragenem Leiden verschied dieser Tage inMünchen die»Jugend«, die einmal Hoffnungund Sammelplatz eines Deutschland war, demes um andere und wesentlichere Werte, als esdie des»offiziellen« Deutschland sind, ging.Der Verlag der Zeitschrift, die Hlrth A. G.in München, hat nun endlich Konkurs angemeldet; und der war so gründlich, daß von den800.000 Mark ursprünglichem Anlagekapital'nur noch 50.000 auf dem Papier stehen geblieben sind, die auch noch drauf gehenmüssen, um die letzten»Hotel rechnungen« derVerblichenen zu regulieren. An der Totenbahre stehen eigentlich nichts als Schulden undErinnerungen...Da der»Führer« keine andere Kunst inDeutschland duldet, als die vom Stile desHerrn von Werner(Marke: Kaiserproklamation in Versailles) und einiger ebenfalls schonlängst verewigter Marinemaler, wäre die»Jugend« der Gestapo mit Leib und Seeleverfallen gewesen, wenn sie auch nur miteinem Bruchteil ihres Gründergeistes ihremLebensziel und ihrem ästhetisch-moralischenStandard treu geblieben wäre. Gott sei Dank— sie hatte sich bereits»gleichgeschaltet«—längst ehe das die Handelskammer von Unnaoder die Stahlhelmortsgruppe von Heringsdorf tat! Indem München aus einer Stadt derSchwabinger Geistrebellen und Sturmgesellen,der soliden alten Geistigkeit und des neuenSturm und Dranges so sachte— dank mannigfacher historischer Umstände— zu einerPaßfälscherzentrale für Fememörder und zumTummelplatz dunkler Of f i ziersv erschwö run-gen, zur»Stadt des Blutmarsches«, zur Residenz Hitlers und Ludendorffs wurde, hatte die»Jugend« eigentlich keinen Heimatscheinmehr. Deutschland war erschreckend humorlosgeworden, längst bevor das alles»vom Kaiser.hof zur Reichskanzlei« nur so abschnurrte.Und es wäre eine riesig dankbare Aufgabekommender Psychoanalitiker, einmal künftigzu untersuchen, wie viel der deutsche Mangelan Witz— sicherlich durch unendlich konkretere und massivere andere Defizitdinge verursacht— und nicht etwa die SA Herrn Hitlerschließlich»an die Macht« verhelfen hat. Die»Jugend« starb eigentlich schon, als es fürsie keinen würdigen Gegenspieler und Antipoden mehr gab: als der letzte Wilhelm nurnoch eine dem Weltmitleid anheimgegebeneEmigrantenfigur in Holland wurde, erreichtesie schon damals eigentlich ihre geistige Altersgrenze. Und erst Hitler mit Ludendorf imHintergrund? Das ist zu tiefst schauerlich,als daß ein Witzblatt das überstände! Hierhaben die Erynnien und nicht die Musen dasWort...Für das»andere Deutschland« freilich,das einmal der»Jugend« bei ihrer ästhetischmoralischen Aufräumearbeit in Deutschlandbegeistert folgte durch Jahrzehnte, wie es sich