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\r. 22t SOMVTAG, 5. Sept. 1937
Aus dem Inhalt: Ein Bufiprediger Germaniens Begegnung mit Streicher Nach der Offensive Zurück zur Galeere
Braunes Fpieciensgepede Ulustriert durch konspirative Pläne. Das System maskiert sich wieder ein- mai auf friedfertig. Der Reichsaußenmini- ster Neurath hat auf der Stuttgarter Tagung der deutschen Auslandaorganisa- tionen alle aggressiven Absichten des Systems abgeschworen. Der Eindruck, den er hervorrufen will, ist; Deutschland ist ein ganz friedfertiges Land, es hat nur ein wenig aufgerüstet, weil dies unter Großmächten zum guten Ton gehört, und im übrigen hat es keine anderen Absichten als sich nach allen Seiten zu verständigen. Expansiv sind alle anderen: so Italien , so Japan , aber Deutschland ist ausschließlich friedfertig. Nun ist heute die Chance, daß Herr Neurath Gläubige findet, außerordentlich gering; denn die Rolle, die Deutschland in der Dynamik der Raubmächte vom Schlage Italiens und Japans spielt, ist ganz eindeutig. Namentlich in England fängt man jetzt an, verderbliche Illusionen über Bord zu werfen. Man wird dort den bevorstehenden Besuch Mussolinis bei Hitler auch nicht gerade als eine Demonstration des Friedenswillens ansehen, sondern nur als eine Beratung darüber, welche Vorteile die Achse aus den ostasiatischen Verlegenheiten Englands ziehen könnte. Die Friedfertigkeit heuchelnde Rede des Herrn Neurath wurde zudem illustriert durch die Reden und Ankündigungen der Bohle, Langen und Genossen, die freimütig über die Pläne der»Nazintem« sprachen. Man hat in England sofort verstanden, daß Herr Neurath in Stuttgart nur dazu dienen serfite, für die konspirativen Pläne des Herrn Bohle die Mauer zu machen. Namentlich der Plan, die Chefs der Spitzel- und Terrororganisationen künftig > Kulturattaches-� zu taufen, und ihnen cfiplomati sehen Charakter beizulegen, hat in England eine Entrüstung hervorgerufen, die für die Engländer ungewöhnlich ist Die dem englischen Außenminister nahestehende Zeitung hat über diese Pläne mit der Frage quittiert, ob eine naivere Frechheit überhaupt vorsteUbar sei. Man lernt auf Grund des Zusammenbruchs aller Verständigungsillusionen durch die Kriege in Ost und West allmählich den wahren Charakter der Politik des Dritten Reiches verstehen, und man ahnt, daß hinter allem braunen Friedensgerede von heute sich der Plan verbirgt, sich in der heutigen Konstellation so stark zu machen, daß das Dritte Reich zum Schiedsrichter Europas wird.
Nupiibepgr
In Nürnberg wird in der kommenden Woche der Reichsparteitag der NSDAP abgehalten, und das deutsche Volk wird wieder einige unglaubliche Reden über sich ergehen lassen müssen. Der englische und der französische Botschafter werden der Veianstaltung einen Tag beiwohnen— ein faules Kompromiß zwischen grundsätzlicher Haltung und diplomatischer Höflichkeit. Ueber die propagandistischen Absichten der Nationalsozialisten auf diesem Parteitag werden eine Fülle von Gerüchten verbreitet. Sie bewegen sich im wesentlichen in zwei Richtungen: Maßnahmen, die dem immer stärker zutage tretenden Stimmungsverfall entgegenwirken sollen, und entschiedene Maßnahmen im Kirchenkampf. Im letzten Punkte wird behauptet, daß der Plan einer Nationalkirche jetzt verwirklicht werden solle. Eine von oben befohlene Kirche ist selbstverständlich vom Glaubensinhalt völlig losgelöst, ein Gesetz darüber würde nur demonstrieren, daß das Regime selbst Im Glaubensinhalt nur ein Mittel der Herrschaft sieht, und so würde damit der Kirchenkampf nur erst recht angefacht werden.
In dem Artikel über die Verelendung der deutschen Arbeiter vom 22. August haben wir die Angabe des Statistischen Reichsamtes zitiert, wonach der Stunden- verdienst der Arbeiter im Laufe des Jahres 1936 um 1,7, der der männlichen Facharbeiter um 2 Prozent gestiegen sei. Wir haben zugleich diese Angabe als wahr unterstellt, darauf hingewiesen, daß sie das Geständnis einer wesentlichen Senkung des Reallohns bedeutet, da in Deutschland seit der Machtübernahme Hitlers eine wesentliche Verteuerung der Lebenskosten eingetreten ist, die der amtliche Lebenshaltungsindex allerdings bewußt und absichtlich wegfälscht. Das ganze Ausmaß der Opfer, die die Wirtschaftspolitik der Diktatur den deutschen Arbeitern auferlegt, kann aber erst ermessen werden, wenn man die absolute Verschlechterung in Deutschland mit der gleichzeitigen Entwicklung in anderen Industriestaaten vergleicht. Dabei muß immer wieder betont werden, daß der Ausgangspunkt ein verschiedener ist, da in den demokratischen Industriestaaten im Gegensatz zu Deutschland auch während der Krise die Reallöhne der Beschäftigten keine Reduktion, sondern infolge der Senkung der Lebenshaltungskosten eine zum Teil beträchtliche Erhöhung aufweisen. Steigerungen der Löhne in diesen Ländern bedeuten also eine wirkliche neue Hebung der Lebenshaltung über jedes früher erreichte Niveau, während eine Lohn- steigerung in Deutschland nur eine Nachholung der Verluste bedeutet hätte, die in der Krisenzeit der Arbeiterschaft auferlegt worden sind und die durch die von der Diktaturpolitik erzeugte Teuerung sich dauernd gesteigert haben. Das muß im Auge behalten werden, um die Lohnentwicklung im Ausland richtig zu würdigen. In den Vereinigten Staaten sind die Löhne in fortdauernder Zunahme begriffen. Sie steigen rascher als die Lebenshaltungskosten, die bis jetzt eine ziemliche Stabilität aufweisen. Aber in neuerer Zeit beginnt der Wohnungsbau, der zu Beginn der Prosperität zunächst zurückgeblieben war, aufzuholen, so daß das weitere Ansteigen der Mieten sich eher verlangsamen wird. Von Mai 1936 bis Mai 1937 stiegen die durchschnittlichen Wochenverdienste der Arbeiter in 25 Branchen von 24,40 auf 28,40 Dollar(ca. 71
RM), also um 16,6 Prozent. Die Lebenshaltungskosten stiegen dagegen nur um 6 Prozent. Von Januar bis Mai macht die Steigerung der Löhne allein 8.8 Prozent, die der Lebenshaltungskosten nur 2,2 Prozent aus. Es ist also nicht nur eine Steigerung der Nominallöhne eingetreten, sondern auch eine Zunahme des Realeinkommens. Dabei zeigt sich in den Vereinigten Staaten eine bemerkenswerte Besserung in der Lage der ungelernten und angelernten Arbeiter. Dies ist die Folge der demokratischen Politik Roosevelts, der den Abschluß kollektiver Arbeitsverträge und deren unentbehrliche Voraussetzung, die Bildung starker Gewerkschaften bewußt fördert. Seit seiner Wahl hat die ameri kanische Gewerkschaftsbewegung einen neuen Aufschwung genommen und im Gegensatz zu früher, wo sie im wesentlichen eine Bewegimg der qualifizierten ! Arbeiter mit zunftartigen Zügen war, auch die ungelernten Arbeiter stärker ergriffen, deren Organisation die Unternehmer stärksten Widerstand entgegengesetzt hatten. Charakteristisch für die Entwicklung ist die grundlegende Aenderung in den Arbeitsverhältnissen der amerikani schen Stahlindustrie. Gegen diese richtete sich der Hauptangriff der neuen, von Lewis geführten Industriegewerkschaften, und wenn auch die letzten Streikbewegungen selbst in einigen Zweigen der Stahlindustrie nicht zu einem unmittelbaren Erfolg der teilweise sehr weitgehenden Forderungen( 36-Stundenwoche!) geführt haben, so hat die Industrie doch weitgehende Zugeständnisse gemacht. Im Hochkonjunkturjahr 1929 betrug der durchschnittliche Stundenlohn 65,4 Cents. Die Arbeitszeit betrug im Durchschnitt 55 Stunden in der Woohe. Im Juni 1936 betrug der Stundenlohn 66,9 Cents und stieg im Februar auf 72,8. Im März kam es zu Verhandlungen mit den Gewerkschaften, deren Forderungen von der Regierung unterstützt wurden. Eine allgemeine Lohnerhöhung wurde vereinbart. Die Stundenlöhne betrugen im März 79,3 Cents, im Mai 86,6 und im Juni 87,7 Cents. Als Arbeitszeitnorm wurde die 40-Stundenwoche eingeführt. Für die acht Stunden am Tage und 40. Stunden in der Woche übersteigende Arbeitszeit muß ein SOprozentiger Lohnzuschlag gezahlt werden. Die Arbeitszeit ist also seit 1929 um fast 30 Pro
zent bei steigenden Stundenlöhnen verkürzt worden und die Industrie beschäftigt heute erheblich mehr Arbeiter als vor der Krise, obwohl die Produktion den Vorkrisenstand noch nicht völlig erreicht hat, Und damit vergleiche man den ständigen Lohndruck und die Verlängerung der Arbeitszeit über 48 Wochenstunden hinaus in der deutschen Schwerindustrie! In England beschleunigt sich das Tempo und das Ausmaß der Lohnzunahme zusehends. Im ganzen Jahre 1936 erfuhren vier Millionen Beschäftigte eine Erhöhung ihres Einkommens um 487.200 Pfund(ca. 6 Millionen RM) pro Woche, im ersten Halbjahr 1937 aber bereits 3,2 Millionen Arbeiter um 413.000 Pfund wöchentlich. Und auch der englische Le- benskoetenindex hat bis in die neueste Zeit sich ziemlich stabil erwiesen. Erst zwischen Juni und Juli ist eine Steigerung von 152 auf 155 eingetreten infolge einer zum Teil saisonmäßigen Verteuerung der Nahrungskosten. Aber die Gewerkschaften, die die Gestaltung des Reallohnes aufmerksam verfolgen, haben bereits sich mit dieser Entwicklung befaßt und sind stark genug, um neue Korrekturen durchzusetzen. Zugleich haben sie große Erfolge in der Frage des bezahlten Urlaubs zu verzeichnen. Eine ähnliche Entwicklung wie in den Vereinigten Staaten und England ist in allen demokratischen Staaten zu erreichen: die relativ stärkste Verbesserung hat wohl die Arbeiterschaft Schwedens , wo auch die Arbeitslosigkeit praktisch fast keine Rolle mehr spielt, zu verzeichnen; dann kommen die anderen skandinavischen Länder, Belgien , und in letzter Zeit auch Holland und die Schweiz . Damit vergleiche man nun die fortschreitende Verschlechterung in allen Diktaturstaaten und insbesondere in Deutschland . Die deutsche Produktion hat im Sommer 1937 sicher einen Höhepunkt der technischen und personellen Leistungsfähigkeit erreicht. Das Gesamtprodukt, das mit' diesem Aufwand an Maschinerie— und Arbeitseinsatz erzeugt worden ist, muß jedes frühere übertreffen. Die letzten Reserven an Rohstoffen und Arbeitskraft, über die die deutsche Wirtschaft verfügt, sind eingesetzt worden. Aber nur zum geringsten Teil dienen sie dem Zweck jeder Produktion, der Steigerung des Konsums, der
Die Politik des Systems erweckt den Gesamteindruck, daß es sich augenblicklich nicht durch wilde sichtbare Aktionen im Innern belasten will— es ist also viel wahrscheinlicher, daß es im wesentlichen bei der lärmenden, leeren Parade und den noch lärmenderen und noch leereren Reden verbleibt.
Ideologie und Interesse Japan und Deutschland haben miteinander den sogenannten A n t i- Komintern- Pakt geschlossen. Japan maskiert seinen Raubzug gegen China mit der Behauptung, es bekämpfe in China lediglich das Vordringen des Bolschewismus. Der japanische Krieg»gegen den Bolsche- wismus< bedroht emsthaft die deutschen Handelsinteressen. Der deutsche Eisport nach China hat im letzten Jahre rund 150 Millionen Mark betragen, der Aktivsaldo zugunsten Deutschlands rund 70 Millionen Mark. Diese 70 Millionen Devisen sind dem braunen System in seiner wirtschaftlichen Bedrängnis wichüger als die Antikomintem-Ideologie, also ist es in Tokio vorstellig geworden. Die Japaner haben auf diese Vorstellungen mit vagen Versprechungen geantwortet,
die man in Berlin sehr skeptisch ansieht. Femer haben die Japaner Gegenvorstellungen erhoben: sie haben der deutschen Regierung mitgeteilt, daß sie auf Grund des Anti-Ko- mintem-Paktes größere Sympathie und Unterstützung in der deutschen Presse erwarten könnten, als bisher zum Ausdruck gekommen sind. Noch vor kurzem hat die kommunistische Presse in allen Ländern gegen den chinesischen Generalissimus Tschang-Kai-Scheck in üblicher Kominternweise getobt— gegen den »Bluthund« und»Kommunistenschlächter«. Die Sowjetunion hat nunmehr mit China , d. h. mit Tschang-Kai-Scheck einen fünfjährigen Nichtangriffspakt abgeschlossen.
Die Terrorwelle in Rußland Die Terrorwelle in Sowjetrußland geht weiter. Kein Tag vergeht ohne Nachrichten über neue Erschießungen und Prozesse. Man hört von Männern, die Wasserleitungen vergiften wollten, um ganze Belegschaften zu ermorden, von Frauen, die die Kinder eines Kinderheims vergiften wollten, von Saboteuren, die Lagerhäuser in Brand stecken woll
ten, von»Trotzkisten«, die Soldaten der Roten vergiften wollten. Die Bezeichnung ist überall die gleiche: Trotzkisten, das Ergebnis auch: Erschießung, Eis offenbart sich ein Geisteszustand des Regimes, der an die Zeit mittelalterlicher Hexenverfolgungen, oder an die Märchen über Brunnenvergifter und Goldautos aus dem Beginn des Weltkrieges erinnert. Diese Krankheit von Wahn und Massenwahn strahlt über die rassische Grenze aus. Mit einer Flut von Verleumdungen, von aus den Fingern gesogenen echten GPU-Verdäch- tigungen werden alle jene in den demokratischen Ländern Uberfallen, die sich angesichts dieser grauenhaften Terrorwelle kritisch zum System Stalin verhalten. Auch sie nennt man »Trotzkisten«, auch gegen sie möchte man den Massenwahn entfesseln. Hier aber wird die Verlogenheit dieser Methode sofort durchsichtig, und sie führt nur zu der Schlußfolgerung: so wenig wie die Hetzlügen der Komintern gegen die Kritiker des Stalinregimes in demokratischen Ländern wahr sind, so wenig sind die Anklagen gegen die Opfer des Stalinterrors in Rußland wahr!