Nr. 223 BEILAGE

19. September 1937

Wer will den Krieg?

Eine unpolitisdie Betraditung

Nach den Gesetzen fast aller Länder, in denen die Todesstrafe besteht, ist der Vertreter der Anklage verpflichtet, der Hinrichtung beizuwohnen. Er hat die Todesstrafe gefordert; er soll mitansehen, wie man sie ausführt. Man will dadurch erreichen, daß der Staatsanwalt wisse, was er tut, daß er es wenigstens das zweite Mal wisse. Das Wort»Hinrichtung« soll für ihn Wirklichkeit werden, von lebendigen Menschen ausgeführt, von lebendigen Menschen erlitten. Vielleicht das Ergreifendste in Bernhard Shaws »Heiliger Johanna« ist die Erschütterung des jungen, fanatischen Priesters, der un­erbittlich den Feuertod gefordert hat und dann das Mädchen auf dem Scheiter­haufen sterben sieht.»Man muß es sehen, man muß es sehen«, sagt er immer wieder in fassungslosem Entsetzen. Hier zeigt sich uns die Kluft zwischen dem nur verstandesmäßig Formulierten, dessen lebendiger Sinn in Worte einge­kapselt ist, und der Wirklichkeit, die ohne Worte zu all unsern Sinnen spricht. Wenn es diese Kluft nicht gäbe, wenn etwa all die Schreckensnachrichten, die an einem einzigen Tage die Zeitimg bringt, Uns durch bloße Worte als vorstellbare Wirklichkeit übermittelt würden, wäre uns das Leben unerträglich. Wir verlören den Mut, fröhlich zu sein, wenn die Worte ihren entsetzlichen Inhalt freigäben, uns zur Anteilnahme zwingend mit der Mutter, der ihre fünf Kinder verbrannt sind, mit den Arbeitslosen, die der Hunger zum Selbstmord treibt, mit dem Verurteilten in der Todeszelle, mit all dem vielgestalti­gen Jammer von Mensch und Tier. Eis ist nicht nur begreiflich und entschuldbar, es ist lebensnotwendig, daß wir Worte ge­brauchen und weitergeben, ohne mehr als eine vage und verblichene Vorstellung ihres Inhalts zu haben. Auch der normal­ste Mensch verfiele dem Wahnsinn, wenn er teilnehmend miterlebte, was ein einziger Tag an Entsetz! i ch em bringt. Er läßt die Ereignisse in ihrer Wortkapsel. Wo sie ihr entwischen, weil irgend eine Analogie mit Selbsterlebtem eine Spalte schafft, verdrängt er sie, muß er sie verdrängen. Dieses Schließen der seelischen Augen vor einer Wirklichkeit, neben der wir nicht leben könnten, ist erhaltungsge­mäß; es ist an sich so wenig ethisch oder imethisch, wie die Reflexbewegung, durch

die(De Lider unsern Augapfel schützen. Wenn der Mensch aber handelnd fremde Schicksale mitbestimmt, kann das, was ihm zum Selbstschutz dient, den andern zum Unheil werden. Wenn ich von den Folgen meiner Handlungen für andere keine lebendige Vorstellung habe, so daß sie mir unwirklich bleiben und nicht an mein Mitgefühl appellieren, kann ich mei­nen Mitmenschen genau so gefährlich werden, wie ein Kind, das mit einem Re­volver spielt. Ein großer Teü aller schick­salschweren menschlichen Entscheidungen wird aber ohne Wirklichkeitssinn getroffen, auf Grund von Worten und Zählen, die sich in keine lebendige Vorstellung über­setzen. Für welchen leitenden Staatsmann und»Realpolitiker« besäße z. B. die Wort­reihe»eine Schlacht mit fünftausend Toten« irgend eine plastische Vorstellbar- keit, die seinem Gefühl oder seinen Ner­ven auch nur halb so nahe käme, wie ein Straßenunfall, dessen Augenzeuge er ist, von Leiden und Tod der eigenen Ange­hörigen ganz zu schweigen? Den bekannten Ausruf Wilhelm H. an­gesichts der Schrecken des wirklichen Krieges:»Das habe ich nicht gewollt«, kann man ihm glauben. Was der Krieg an Qual und Entsetzen gebracht hat, hat sicher keiner gewollt es liegt soweit über jeder menschlichen Fassungskraft, wie die Wassermenge des Meeres über der Aufnahmefähigkeit unserer künstlichen Behälter. Wer* will den Krieg? Viele wollen ihn. Kein einziger will ihn. Als daä, als was er erlebt wird, als unermeßliche Summe von Qual und Jam­mer will ihn kein Mensch, weil er in kei­nem menschlichen Gehirn, in keiner Vor­stellungskraft Raum hat. So wenig der Blindgeborene sagen kann: ich will diese Farbe, die ihm kein Sinn vermittelt, so wenig kann ein Mensch sagen: ich will den Krieg. Aber als Wort, dessen Gehalt sie nicht kennen, wollen ihn viele. Die Waffenfabri­kanten und Schieber, um Geld zu machen, die Diktatoren, um ihre Macht zu festigen, die Diplomaten, weil ihre Verhandlungen keinen anderen Ausweg lassen, junge Heißköpfe, um Abenteuer zu erleben. Was aber an blutiger Wirklichkeit dahinter­steckt, das kann keiner wollen, kaum der Teufel, wenn es einen gibt. Auch die

Schwerindustriellen, denen er Millionen trägt, würden sich für das Geschäft be­danken, wenn ihnen mit dem Geld das Todesröcheln,«De verzerrten Züge und zerfetzten Glieder, der Gestank von Blut, Eiter und Fäulnis hörbar, sichtbar, riech­bar würden. Aber nicht nur die UnzulängDchkeit unserer Vorstellungsgabe macht aus der Wirklichkeit»Krieg« eine ganz handliche Angelegenheit. Er spielt sich so fem von denen ab, die das Ja oder Nein zu sprechen haben! Sie brauchen nur auf den Knopf zu drücken, um den ganzen Mechanismus in Gang zu setzen, so daß die Wirklichkeit des Geschehens nicht nur vom seelischen Filter zurückgehalten wird, sondern rein räumüch außer Blickweite bleibt. Und dabei reserviert sich die Zentralstelle, die ankurbelt, alle Verantwortung. Das ist ihre allerwichtigste Aufgabe. Ohne dieses Mo­nopol der Verantwortimg käme der Mecha­nismus schnell ins Stocken. Denn bei der Leitung des Kriegswillens vom Zentrum zur Peripherie wird die Wand der Unwirklichkeit immer dünner, bis sie schließlich ganz wegfällt; Schale um Schale, wie bei der Zwiebel, kommt das tränentreibende Innerste heraus. Vom Diplomatentisch zur Generalstabskarte, vom Kommando des Armeekorps zu dem der Brigade , von der Etappe zum Gra­ben schält das Wort»Krieg« eine Hülle nach der andern ab, bis es in seiner bluti­gen Wirklichkeit dasteht. Nicht mehr als Nationalehre, Grenzlinien, Absatzmärke oder Rohstoffquelle, nicht mehr als Zif­fern von Menschenmaterial, Geschützen, Tanks, als Ausfallslinie, Einkreisungs- plan usw., sondern als lebendige Menschen, die man ernähren, vor der Witterung schützen, kampfwillig machen muß, bis herab zum Einzelnen, der tötet und sich töten läßt Und diese lebendigen Menschen, denen die Wirklichkeit»Krieg« in alle Sinne dringt, erhalten den Mechanismus in Tä­tigkeit. Wo ihn der ungeheure Widersinn des Ganzen anbrüllt, das er in Gang halten muß, sagt sich der Einzelne: ich bin nicht verantwortlich. Keiner der Erlebenden ist verantwortlich. Man hat den Mechanis­mus sorgfältig so gefügt, daß die Verant­wortung nie auf dem ruht, der das Einha­ken des nächsten Zahns ermöglicht. Sie

ist immer weiter oben. Die einen ha­ben die Wirklichkeit des Krie­ges, ohne die Verantwortung, die andern die Verantwortung ohne die Wirklichkeit. Das ist ein Streich, den uns gewissermaßen die Welt­geschichte spielt, um aus den Menschen mehr Böses herauszuholen als in ihnen drin ist. Wer den Auftakt gibt, weiß nicht, was er tut; der es weiß, führt nur Befehle aus oder gehorcht einer durch fremde Befehle geschaffenen Zwangslage. Sein sittlicher Einspruch ist ausgeschaltet. Die Verant­wortlichen sind oben, wo der Krieg in Wor­ten, Ziffern, Linien existiert, nicht als zer­fetztes Fleisch und angstgehetzte Kreatur. Aber die Verantwortlichkeit selbst ist ein leeres Wort. Vor wem verantworten sich denn die Herren? Wo wäre das Ge­richt, das ihnen Decharge gibt oder ver­weigert? Jedem Ausführenden hat man die Verantwortung genommen, die wie Sand im Mechanismus gewirkt hätte, hat sie wegeskamotiert und durch Phrasen er­setzt. Auf dem Weg nach oben ist sie ver­dunstet. Die Geschichte läßt ihre Zahlun­gen oft lange anstehen. Darum sind die »Herren der Völker« so überbereit, Ver­antwortung zu übernehmen, in der frohen Zuversicht, daß der Zahltag noch recht fem liege.»Ich übernehme jede Verant­wortung« sagen alle Diktatoren. Wahr daran ist nur, daß sie sie den andern nehmen. Verwirklicht sich nicht aber gerade auf diese Art der große Plan der Welt­geschichte, vor dem der Einzelne und sein bißchen Dasein nichts ist und nichts sein darf? Könnte ein Mensch, mit der ganzen Last der Wirklichkeit beschwert, gelähmt durch Teilnahme und Erbarmen, jene Ent­scheidungen treffen, die über Jahrhunderte hinausgreifen? Muß er nicht»leichten Hauptes und leichter Hände« mit Men­schenschicksalen spielen dürfen? Auf diesen Einwand, der die Menschen scheidet in Künstler und Ton, wobei der Künstler um so größer wäre, je fühlloser ihm der Ton scheint, ist mit einer Vor­frage zu antworten. Sind jene»Männer des Schicksals« selbst nur ein Teil eines außer­menschlichen Mechanismus, oder weisen sie der Weltgeschichte schöpferisch den Weg? Sind sie Glied einer Kette, deren Ausgangs- und Endpunkt sich mensch-

Es regnet Der Redner:»Wir brauchen ein stählernes Geschlecht, das allen Stürmen trotzt.« Der Redner zwei Stunden später.