Nr. 234 BEILAGE Dezember 193? Kommunisrnns und Demokratie Von Karl Kautsky Die dänische Sozialdemokratie veröffentlicht demnächst eine Neuauflage des kommunistischen Manifest«. Karl Kautsky hat dazu ein Vorwort geschrieben, aus dem wir das folgende wiedergeben: Eines der auffallendsten Kennzeichen der Kommunisten war ihre Verachtung der Demokratie. Diese Verachtung, die gar mancher von ihnen beeinflußte Sozialdemokrat von ihnen annahm, hat sehr böse Früchte getragen. Sie schwächte das Proletariat, verewigte seine Spaltung, die in so vielen Staaten seit 1918 durch die Kommunisten herbeigeführt worden war und wurde eine der Hauptursachen der vielen und schmerzlichen Niederlagen der Demokratie der letzten Jahre. Doch die Konsequenzen dieser Niederlagen waren so bedenklich für den Sowjetstaat, daß er selbst sich genötigt sah, an die Hilfe der Demokratie außerhalb Rußlands zu appellieren. Er befahl jetzt den Kommunisten aller Länder für die Demokratie einzutreten und zu diesem Zwecke eine Einheitsfront mit den bisher so wütend bekämpften Sozialdemokraten zu bilden. Das wäre an sich mit Freuden zu begrüßen. Doch wird unsere Freude etwas gedämpft durch den Umstand, daß die Wandlung der Kommunisten nicht eine prinzipielle ist, sondern nur eine taktische. Sie verteidigen die Demokratie nur dort, wo sie in der Opposition sind. Sie vernichten sie und üben die grausamste Unterdrückung jeder Volksfreiheit dort, wo sie zur Herrschaft gelangen. Die Verdrängung der Demokratie durch einen gewalttätigen Despotismus in verschiedenen großen Nachbarstaaten des russischen Reichs, bedeutet für dieses eine ernste Gefahr. Jeder dieser Despotismen drängt seiner Natur nach zu militärischer Expansion. Zwei von ihnen, der deutsche und der japanische, bedrohen Rußland von Ost und West. Bloß auf sich allein angewiesen, vermöchte sich die russische Armee kaum der beiden Dränger zu erwehren. Rußland braucht Bundesgenossen, die findet es aber nur in den demokratischen Staaten des Westens. Auch in jedem dieser Staaten gibt es der Demokratie feindliche Elemente. Nicht minder sind sie Rußland feindlich. Nich nur an der Kraft dieser Staaten, sondern auch an der Kraft der Demokratie in diesen Staaten ist die Sowjet-Republik aufs stärkste interessiert. Daher ihr plötzliches Interesse an der Demokratie. Jedoch nur dort Ihr Eintreten für die Demokratie muß von jeder demokratischen Partei willkommen geheißen werden. Doch darf man nicht zu fest auf die russische Hilfe bauen. Sie geht bloß aus der auswärtigen Politik der gegenwärtigen Machthaber Rußlands hervor, und steht in vollstem Gegensatz zu ihrer inneren Politik. Sollte es dazu kommen, daß diese Machthaber sich mit Deutschland und Ja pan verständigen, dann würden die Kommunisten überall zu einer Hilfstruppe des Faschismus werden. Die demokratischen Parteien und Staaten der Welt hätten dann einen furchtbaren Kampf gegen einen antidemokratischen Block von ungeheurer Stärke auszukämpfen. Dabei wären sie allerdings insofern überlegen, als im demokratischen Staate die arbeitenden Massen mit Begeisterung an ihm hängen, bereit sind für ihn die schwersten Opfer zu bringen, indes in der Diktatur die Massen apathisch und verdrossen, oft direkt feindselig der Staatsgewalt gegenüberstehen. Wahrscheinlich ist eine Verständigung Stalins mit Hitler freilich nicht. Sie fände zu starke psychische Widerstände in den Nachwirkungen der bisherigen Agitation hüben wie drüben. Indessen wird in jedem der in Betracht kommenden Staaten die Staatsgewalt von ungeheuren stets wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten bedrängt, die zunehmende Unsicherheit in den herrschenden Kreisen mit sich bringen, sowie steigende Gegensätze und Intrigen in ihren Reihen. Eine solche Situation vermag in einer schrankenlosen Despotie leicht über Nacht ganz unvorhergesehene Wandlungen der Staatspolitik hervorzurufen. Mit solchen haben wir in Rußland wie in Deutschland zu rechnen. Doch die Annäherung der Diktaturen hüben und drüben aneinander ist nur die eine der Möglichkeiten, die aus dieser Labilität der Staatsgewalt hervorgehen. Eher ist es denkbar, daß in Rußland jene Elemente zum Durchbruch gelangen, die in der Gewährung der Demokratie, die einzige Rettung für das in seinem Bestand bedrohte Staatswesen erblicken. Stalin selbst hat sich bereits genötigt gesehen, den demokratischen Gedanken Konzessionen zu machen. Er hat dem russischen Volk an Stelle der bisherigen Sowjetverfassung eine neue gewährt, die er selbst für die beste Demokratie der Welt erklärte. Mussolini und Hitler behaupten allerdings dasselbe vom Faschismus und vom Nationalsozialismus. Stalin hoffte wohl, damit die öffentliche Meinung der demokratischen Staaten für sich zu gewinnen. Dieses Ziel hat er freilich nicht erreicht. Nur politisch naive Elemente haben seine Art Demokratie ernst genommen. Es sind zumeist jene Elemente, die es bisher liebten, von den bestehenden demokratischen Verfassungen in Frankreich , England usw. wegwerfend als bloß»formaler« Demokratie zu sprechen. Wenn es eine Demokratie gibt, für die die Bezeichnung bloß formaler Demokratie zutrifft, dann ist es die jüngste Verfassung Stalins. Nichts von dem gibt sie, was für die wirkliche Demokratie erforderlich ist, keinerlei Bewegungsfreiheit der Massen, keine Freiheit der Rede, der Presse, der Versammlungen, der Organisationen. Ihr Parlament unfrei erwählt, ist eine bloße J asagemaschine. Wie sich das wirkliche Staatsleben unter dieser Verfassung gestaltet, zeigen die famosen politischen Prozesse, die seitdem von der Sowjetregierung in Szene gesetzt wurden und werden. Aber nicht nur den Aus den In den Jahren 1933 und 1934 haben die ersten Berichte aus deutschen Konzentrationslagern das Weltgewiasen alarmiert. Seither ist viel Nichtwiedergutzumachendes geschehen. Den Zeitgenossen mit Fantasie und der Fähigkeit des Mitleidens quälen die BUder zerschossener Städte in Spanien , zertrümmerter Menschenleiber in China . Metzeleien in Abesslnien, Bandenkrieg in' Palästina, Massenersohie- ßungen in Rußland drängen sich vor sein inneres Auge. Und doch besteht auch jenes Leid noch weiter, noch immer werden Menschen festgehalten, gequält, erschlagen in einem bis vor wenigen Jahren recht zivilisierten Lande. Ein Buch, das an dieses Unrecht erinnert, das den Menschen des fran zösischen Sprach- und Kulturkreises erneut ins Gedächtnis ruft, was in Deutschland gelitten wird, muß von uns gebüligt werden, welche Einwendungen auch immer gegen dieses Buch zu machen wären. Es handelt sich um>L a-bas... dans l®8 geöles«, ein Titel, der sinngemäß etwa zu übersetzen wäre mit>1 n d e n K e r- kern... jenseits unserer Grenze«. Darunter steht:»Dreißig Monate Konzentrationslager«. Um es kurz zu sagen, wer einen reinen Tatsachenbericht erwartet, wird enttäuscht. An dem Buch haben zwei Autoren gearbeitet, ein Dr. Peter Martin,— das ist natürlioh ein Pseudonym— und ein Franzose, M. Dutrfeb. Man hat, um den Bericht schmackhaft zu machen, geglaubt, eine romanhafte Einkleidung wählen zu sollen. Das war kein glücklicher Einfall. Es geht dabei nicht ohne Sentimentalisierung ah. Rührende Episoden sind erfunden, von denen man im Interesse der Sache wünschte, daß sie weggeblieben wären. Eine andere Erwägung. die der sozialistische Leser angesichts dieses Buches anstellen wird, ist folgende. Man kann sich sehr gut den Verleger vorstellen, der den Rat gibt, ein Buch gegen die Konzentrationslager»unpolitisch aufzuziehen«. Die Lektüre von>La-bas..• dans les geftles« zeigt indessen, wie wenig damit gewonnen wird. Peter Martin war, wie das Vorwort seines Buches angibt, Redakteur einer katholischen Zeltung und Mitglied der»Liga für Menschenrechte«. Er hat vor Hitler als Ver- summlungsredner für einen unpolitischen Pazifismus geworben, als Frontkämpfer und Schwindelcharakter der»Demokratie« des heutigen Rußlands enthüllen sie. Der Umstand, daß sie nicht aufhören und ihre Opfer in den obersten Schichten des Reichs suchen, bezeugt, daß dieses von einer gewaltigen Unruhe erfaßt ist, die bis in die regierenden Kreise reicht und die trotz der blutigsten Repressionen kein Ende nimmt. Da dürfen wir noch gewaltige Ueberraschungen erwarten. Welche Gestalt immer diese zunächst annehmen mögen, sie verheißen, die Massen in Bewegung zu setzen und dadurch Konzessionen an die Demokratie zu bringen. Das Kommen wirklicher Demokratie in Rußland brächte aber das Aufhören des Gegensatzes zwischen Kommunisten und andern Sozialisten. Es brächte die baldige Wiederherstellung der proletarischen Einheitsfront auch außerhalb Rußlands in der ganzen Welt auf Grundlage weitgehender grundsätzlicher Uebereinstimmung, nicht als taktisches Manöver. Alle die anderen Diktaturen in der Welt werden dann unhaltbar, ein neuer siegreicher Vormarsch der proletarischen Demokratie in der gesamten Internationale beginnt. Die erste Internationale war bereits vom Geiste des KommunistischenManifest getragen gewesen. Doch hatte dieser Geist noch nicht die Arbeitermassen erfaßt. Es war nur die gewaltige Persönlichkeit eines Karl Marx , der den Beschlüssen der ersten Internationale ihren bis heute vorbildlichen Charakter verlieh. Als Marx durch Krankheit geschwächt war und nach der Zerschmetterung der Pariser Kommune der Uebergang der englischen Gewerkschaften ins liberale Lager und der Uebergang vieler romanischer und slawischer Sozialisten ins bakunistische Lager aufs äußerste lähmend wirkte, zerfiel die erste Internationale. Erst sechs Jahre nach Marx " Tode er- Kerkern als Christ. Er führt nun auch den Kampf gegen den Faschismus»unpolitisch«. Das siebt etwa so aus. Man zeigt uns einen alten Arbeiter, einen Dreher, er liest in seinen Musestunden Rousseau , Lassalle, Marx , Engel«. Der Mann ist unorganisiert,— er ist ein»Idealist«. Er wird Opfer de« Hitler- regimea. Muß dieser Arbeiter tatsächlich unorganisiert sein, um die Teilnahrae weiterer Kreise des französischen Lesepublikums gewinnen zu können? Wie ist es denn mit den Menschenrechten? Gehört zu ihnen nicht auch das Recht, sich für eine politische Partei au entscheiden? Ein sympathischer junger Arbeiter wird Kommunist. Mit der Begründung, die er in Martins Buch dafür gibt, hätte er ebenso gut emster Bibelforscher werden können. Man möge doch den deutschen Menschen bis 1933 nicht nachsagen, daß sie derartige Leisetreter gewesen wären. Und abschließend, der Faschismus, man wird nicht darum herumkommen, ist ein politische« Phänomen. Jeder Versuch, ihm »unpolitisch« zu begegnen, dient der Verdunkelung, dient dem Faschismus. M. F. Der Zahn der Zeit Im»Dresdner Anzeiger« vom 20. November 1937 lesen wir: »Die Zeit, in der man den Goldzahn als elegant betrachtete, ist glücklich überwunden. Und nun hat man auch einen Stoff gefunden, der sich mindestens ebensogut wie Gold für Zahnersatz eignet und sich dabei mit seinem schlichten plantinfarbenen Aussehen dem Ton der Zähne anpaßt, ohne Lichteffekte zu erzeugen. Vor allem aber hilft er das für die Devisenwirtschaft so nötwendige Gold sparen. Eis handelt sich um eine Legierung von Silber mit dem seltenen Plantinerz Palladium unter Zusatz von geringen Mengen Gold und anderer Metalle. Diese»weiße Edelmetallegierung« ist in den Laboratorien auf Herz und Nieren geprüft worden. Sie ist gewebefreundlich, verändert sich im Munde nicht, behält ihre Farbe und besitzt sowohl genügend Dehnbarkeit als auch Härte, um Bruchbildung bei Brücken zu verhindern.« Für devisenfreie Zähne wäre also gesorgt. Und nun wäre nur noch das alte Volkslied zu singen:»Lieber Gott, lieber Gott, den wir Vater heißen, wenn du uns schon Zähne gibst. gib uns auch zu beißen!« stand die zweite Internationale. Sie wurde nicht mehr vom Meister selbst geleitet, jedoch waren die Arbeitermassen viel mehr von seinem Geiste, dem des Kommunistischen Manifests erfüllt, als zur Zeit der ersten Internationale. Unaufhaltsam und siegreich marschierte sie vorwärts bis zum Ausbruch des Weltkriegs 1914. Zu den furchtbaren Schädigungen der Arbeiterschaft, die er mit sich gebracht hat, gehört auch die Zerreißung der Internationale, die er veranlaßte. Sie zerfiel nicht wegen des mangelnden internationalen Empfindens der Massen, sondern wegen der Unklarheit über die besonderen Ursachen, aus denen er hervorging. Doch die Zerreißung der Internationale war der schlimmste Nachteil nicht, den der Krieg brachte. Sofort nach seiner Beendigung erstand sie doch von neuem. Viel schlimmer war das Wirken des Bolschewismus, der den Krieg und seine Folgen dazu benützte, jede einzelne sozialistische Partei der Welt zu spalten. Jede zerfällt seitdem in zwei Teile: Einen der sich selbst regiert und einen der von Moskau kommandiert wird. Und dieser jammervolle Zustand dauert bis heute. Er bildet eine sonderbare Illustration des Rufes, mit dem das Kommunistische Manifest endet— des Appells»Proletarier aller Länder vereinigt Euch«. Das Ende des Weltkrieges brachte in verschiedenen Ländern der Sozialdemokratie gewaltigen Machtzuwachs. Aber wo immer gleichzeitig auch die Kommunisten erstarkten, schwächten sie die Sozialdemokratie, ohne selbst irgend ein politischer Faktor von Bedeutung zu werden. Der ununterbrochene Vormarsch der Arbeiterparteien der zweiten, auf dem Kommunistischen Manifest basierenden Internationale, der von 1889 bis 1914 unwiderstehlich vor sich ging, hat seitdem einem wirren Auf und Ab Platz gemacht, außer in den skandinavischen Ländern, die allein noch den stetigen Siegesmarsch der zweiten Internationale von 1914 bis heute fortsetzen und weiter fortsetzen werden. Gelingt es"icr die Demokratie— wirkliche, nicht bloß formale— in Ruß land zum Durchbruch zu bringen, dann wird dieser stetige Siegesmarsch sich auf die Arbeiter aller Länder ausdehnen und vermöge der größeren Massen, über die sie verfügen und der geringeren Widerstände, auf die sie stoßen werden, wird er sich mit vermehrter Wucht und Geschwindigkeit vollziehen. Eine neue Epoche wird dann für die Menschheit heranbrechen. Es hängt vor allem von den Kommunisten Rußlands ab, wann sie kommt. Jetzt schon aber haben wir bei allen Verhandlungen und Diskussionen mit Kommunisten die Pflicht, sie vor allem auf diesen Umstand hinzuweisen und zu zeigen, wie sehr der weitere Vormarsch der Arbeiterparteien der Welt von der Gewährung wirklicher Demokratie in Ruß land abhängt und wie sehr sie den internalen SoziaUsmus schädigen, solange sie dort von einer solchen nichts wissen wollen. Die Literatur der sozialistischen Emigranten ist heute von einem fieberhaften Suchen nach neuen Programmen, nach neuen demokratischen Grundlagen des Sozialismus erfüllt Gar viele glauben, daß die augenblickliche Machtlosigkeit der Sozialisten in den Ländern der Diktatur nur davon herrühre, daß unsere theoretischen Grundlagen veraltet seien. Bei allen diesem Suchen nach Neuem bleiben die Neuerer aber im Grund doch stets auf dem Boden des Kommunistischen Manifestes haften. Und mit Recht. Noch existiert keine neue Theorie, durch die es überholt wurde. Was wir brauchen, ist nicht ein neues grundsätzliches Programm, nicht eine neue Theorie des Sozialismus, sondern einen Machtzuwachs der Demokratie, einen gewaltigen Zuwachs, den nur die Kommunisten herbeiführen können, den sie morgen schon herbeiführen können, wenn ihre Führer es wollen. Kampf für die Demokratie, auch in Sowjetrußland! Das ist die Parole, aus der eine dauernde unwiderstehliche Einheitsfront des Proletariats in der Welt hervorgehen kann.
Ausgabe
5 (5.12.1937) 234
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