Nr. 236 BEILAGE 19. Dezember 193? Das Budi der Yeraditung 1«J»«J* w�-..--- Ein Brite sieht das Dritte Reidi Hitlers Behauptung, er habe Deutsch­ land neues Ansehen in der Welt verschafft, trifft zum mindesten auf den Professor der Universität Sidney, Stephen H. R o- b e r t s, nicht zu. Dieser hat das heutige Deutschland bereist, hat mit Hitler und den kleineren Größen Zwiesprache halten dürfen und hat dann das Ergebnis seiner weit ins Einzelne gehenden gründlichen Untersuchung in einem Buche nieder­gelegt»The House that Hitler built«(Das Haus, das Hitler baute), das kürzlich bei Methuen ia London erschienen ist. Von dem Ansehen, das Deutsehland durch Hit­ ler erworben haben soll, merkt man darin nichts. Heinrich Mann hat ein Buch, das er dem Dritten Reiche widmete,»H a ß« ge­nannt. Hätte Roberts den Titel seines ganz unlyrischen, sehr positiven und sachlich beschreibenden Buches ebenfalls aus der Gefühlswelt geholt, so hätte er es»Ver­achtung« nennen müssen. Der englische Leser wird das vielleicht gar nicht so empfinden, sondern vielmehr den Eindruck einer ganz leidenschaftslosen wissenschaft­lichen Objektivität erhalten. Dem Deut­ schen aber schlägt aus diesem Buch der eiskalte Hauch der Verachtung entgegen. Es heißt darin nicht;»So ist dieser oder jener«, sondern es heißt:»So sind sie alle!« Was in dem kürzlich hier besprochenen Buch A 1 1 1 e e s nur eine beiläufige Be­merkung ist am Ende sei der an mili tärische Despotie gewöhnte Deutsche doch anders geartet als der freiheitliebende Engländer ist bei Roberts das Leit­motiv. Er beurteilt nicht nur die führen­den Personen, die ihm zu Porträt saßen, mit geradezu vernichtender Schärfe(das »Neue Tagebuch« ist wegen der wört­lichen Wiedergabe eines Kapitels in Oester­ reich verboten worden), er dehnt dieses Urteil auch auf das Volk aus, das sich von solchen Herren regieren läßt.»Die Deut­ schen «, sagt Roberts,»sind eine politisch zurückgebliebene Rasse. Sie leben noch im »mythischen« Stadium der Entwicklung«: »Die Deutschen haben niemals die Demo­kratie gewollt, Sie sehnen sich nach Autorität, sie haben Respekt nur vor der Gewalt. Sie haben kein Verlangen nach persönlicher Frei­heit... Die Schöpfer der Weimarer Verfas­ sung glaubten, die Deutschen seien polltisch zu erziehen, wenn sich ihnen Gelegenheit dazu böte. Aber ihre Annahme, die politische Fähigkeit einer klassenbewußten Minderheit sich auf da« ganze Volk übertragen, be­ruhte auf einem Irrtum.« Aehnliche Konstatierungen trifft er auf allen Einzelgebieten. Ruhig stellt er fest, daß die Justiz in Deutschland nur noch ein Herrschaftsinstrument einer Partei­regierung, daß die Idee des Rechts erstor­ben ist Aber die O p f e r dieser Justiz er­wähnt er kaum. Er weiß nichts von den illegalen Kämpfern, die um ihrer Ueber- zeugung willen ins Zuchthaus und auf das Blutgerüst gegangen sind. Mit Spannung blättert man das Kapitel über den Kirchen­kampf an, der doch sonst im protestanti­schen England so viel gefühlsmäßige An­teilnahme gefunden hat Aber man findet auch hier nur mitleidlose Ueberobjektivi- tät. Der Reichsbischof Müller? Ein ehemaliger Militärpfarrer! Und sein be­rühmter Antagonist Martin Niemöl- ler? Ein ehemaliger U-Boot-Offizier, noch immer in der alten Kriegsmentalität befangen. Sozusagen nur zwei Militaristen mit Bäffchen. Es gibt nur ein Kapitel des Buches, bei dem man den Eindruck hat, daß bei dem Verfasser das Gefühl durchbricht Das ist das Kapitel über die J u d e n. Hier vermag er seine Entrüstung doch nicht mehr ganz zu bändigen. Aber auch hier wieder findet man dieselbe Methode einer kalten, schein­bar völUg objektiven, aber doch ungerech­ten Generalisierung: »Wer durch Deutschland reist Ist tief beeindruckt von der allgemeinen Ueber- ein. immung der Meinungen, eine solche Verfolgung sei eine gute Sache. Er hätte erwartet, daß viele gesagt hätten, das sei eine unwillkommene Notwendigkeit, aufge­zwungen durch die Propaganda oder durch den Druck der Ereignisse doch war das keineswegs der Fall. Alle verherrlichten die, Verfolgung, sie waren stolz auf ihre Durch­führung und sahen erwartungsvoll dem Tage entgegen, an dem auch nicht ein ein­ziger Jude mehr in Deutschland leben würde..... Die Idee der Rassenverfolgung wurde von jedermann gebilligt.« Wie erklärt sich die Entstehung dieser Auffassung, die zu unseren Berichten aus Deutschland in so schroffem Gegensatz stehen? Offenbar doch daraus, daß kein Reichsinländer es für ratsam gehalten hat, einem Herrn, der von Hitler empfan­gen wurde, sein Herz auszuschütten. Die Deutschen sind schweigsam geworden-r- gegenüber Fremden, die unter behördlicher Obhut stehen, erst recht. Daß das deutsche Volk zu schwach war, die Schmach, die ihm angetan wurde, abzuwehren, ist leider eine unbestreitbare und höchst unglücküche Tatsache. Die Be­hauptung aber, es trüge diese Zustände in allen seinen Teilen mit innerer Zustim­mung, ja beinahe mit einer gewissen Wol­lust, tut ihm bitter unrecht Man hüte sich, die überspitzte Rassentheorie, die die Nazi gegen die Juden erfunden haben, nun gegen die Deutschen anzuwen­den. Die Vorstellung, daß es auf der einen Seite Nationen gebe, die zu Freiheit und Kultur bestimmt sind, auf der anderen Seite aber andere, die, unerziehbar und unbelehrbar, immer wieder in die Barbarei zurücksinken, müßte für die ganze Menschheit zu den furchtbarsten Konse­quenzen führen. Wären die Deutschen wirklich so, wie Roberts sie sieht, dann wäre für alle absehbare Zeit das Leben vielleicht gerade noch in Australien er­träglich, aber bestimmt nicht in Europa , und keine Friedens- und keine Kriegs­politik könnte den unglücklichen Weltteil von diesem Uebel befreien. Es gibt aber außer dem heute herr­schenden, im Vordergrund aufdringlich lärmenden Deutschtum noch ein anderes, besseres. Jenes Deutschtum, das aus Goethe , Schiller und Beethoven , aus Kant und Fichte seine beste gei­stige Kraft gezogen hat, lebt noch. Eis in seinem unendlich schweren Kampf zu er­mutigen und zu stärken, ist das einzige noch denkbare Mittel, den drohenden Zu­sammenbruch aller menschlichen Kultur aufzuhalten. Roberts rechnet mit dem Krieg, wie mit einem mathematisch berechenbaren I Ereignis, und er zweifelt nicht daran, daß dieser Krieg zur Vernichtung des jetzigen Deutschland führen wird. Er sieht die wirtschaftlichen Schwächen, die sozialen Schäden des Systems, die mit den gegen­wärtig angewandten Mitteln niemals aus­zufüllenden Lücken der Kriegsvorberei­tung, den Bankrott der Agrarpolitik, den Lebensmittelmangel. Er glaubt nicht, daß Hitler im Ernstfall auch nur auf einen einzigen zuverlässigen Verbündeten rech­nen kann. Die Gegner Deutschlands hält er aber für außerordentlich stark. Das gilt besonders von der Tschechoslowa­ kei , deren Heer er rühmt und deren jetzt befestigte Grenzgebirge ihm unübersteig- bar scheinen. Von der Mährischen Pforte sagt er, der Versuch, durch sie einzudrin­gen, würde mehr Opfer kosten als der ver­gebliche Kampf um Verdun . Wenn aber Deutschland noch einmal geschlagen wird, was dann? Dies ist die letzte Folgerung, mit der Roberts sein in­haltsreiches, aufwühlendes, oft zur Zu­stimmung, aber auch oft zu entschiedenem Widerspruch herausforderndes Buch ab­schließt: »Das ists, was die Lage Deutschlands so tragisch macht. Die Nation ist genarrt und auf einen Weg gestoßen worden, der nur ins Unheil führen kann. Die Nation mag wiedergeboren werden, es mag ein »neues Deutschland « kommen, aber wenn dieses neue Deutschland nicht lernt, in internationalen Dingen die Gewohnheiten der politischen und ökonomischen Zusam­menarbeit anzunehmen, dann steht diese Nation vor dem letzten Ruin, der letzten Enttäuschung.« Wie man sieht, wird der schwache Schimmer eines Optimismus, der schließ­lich doch von einem»neuen Deutschland « spricht, gleich wieder durch Wolken des Zweifels verdunkelt, ob ein neues Deutsch­ land überhaupt möglich sei. Wir aber möchten fragen, ob der schlimmere Fall, mit dem Roberts offenbar rechnet, nur das deutsche Volk vor das letzte Elend und die letzte Verzweiflung stellen würde und nicht etwa auch alle übrigen Völker des weißen Kulturkreises. Man käme dann da niemand diese Frage verneinen kann zu Feststellungen von alleräußerstem Pessimismus nicht nur für Deutschland , sondern auch für die ganze übrige Welt. Kein siegreicher Krieg gegen Deutsch­ land wäre ein gewonnener Krieg, wenn er Deutschland in seinem gegenwär­tigen Zustand beließe oder es gar noch tiefer in die Barbarei hineinstieße. Ein solcher Krieg würde schließlich auch für die Sieger ein immer wieder verlore­ner sein. Die Politik der anderen gegenüber Deutschland hat nur dann einen Sinn, wenn sie gegen das Deutschland kämpfen, wie es heute ist, für das Deutsch­ land , wie es sein soll und sein wird. Für dieses Deutschland zu kämpfen sei es auch auf die Gefahr hin, als verlachter Illusionist ins Grab steigen zu müssen ist tausendmal besser, als trübsinnig über eine Zukunft der Menschheit zu philoso­phieren, die durch ein unverbesserliches deutsches Volk ewig verdorben bleiben wird. Wer die Gefahr eines neuen Weltkriegs mit hoffnungslosem Ausgang vor sich sieht, der müßte schließlich auch ein letz­tes versuchen, um das drohende Verhäng­nis abzuwenden: den Appell an das deutsche Volk selbst, über die Köpfe seiner Beherrscher hinweg. Roberts Buch enthält, neben manchem Anfecht­baren, sehr viel unerbittliche Wahrheit. Eis zeigt auch in jenen Partien, in denen man ihm nicht zustimmen kann, mit schonungsloser Deutlichkeit, in welchen Ruf das deutsche Volk geraten ist, welche Verachtung, welche Feindschaft es auf sich geladen hat, und welchen Gefahren es entgegengeht. Eis wäre ein letzter Ver­such, den Frieden der Welt zu retten, wollte man einmal Wahrheit und Warnung mit solcher Kraft über die Grenze schreien, daß das ganze deutsche Volk sie h 5 r e n m ü ß t e. F. St. Reidisprcssedief contra Kant Persönlidikeit und Parfeibudi Im letzten Jahre hat sich im Dritten Reich die Diskussion um Begriffe wie Indivi­dualität und Persönlichkeit ge­steigert. denn unter solcher Tarnung kann sich die Sehnsucht nach Freiheit unauffällig hervorwagen. Es mußte etwas geschehen. Die Verherdung läßt sich auf die Dauer nicht romantisieren, also mußte die Nazi­presse behaupten, daß die nun einmal vom »größten Deutschen « als höchstes Glück ge­feierte leidige Persönlichkeit auch im totalen Staat gedeiht. Das sollte am 3. Dezember der Reichspressechef Dr. Dietrich auf einer»Kundgebung der deutschen Studenten« in der Berliner Universität mit einer Rede über»Persönlichkeit und Gemeinschaft« näher erklären. Wie erschlägt der richtige Nazi oppositio­nelle Forderungen? Er unterstellt dem Geg­ner unsinnige Auffassungen.»Dem individua' listischen Denken liegt die irrige Voraus­setzung zugrunde, daß der Mensch ein Einzel wesen sei«, während sich sein Leben in Wirk­lichkeit doch in der Gemeinschaft abspiele. Welch eine funkelnagelneue Entdeckung! Selbst Robinson wußte das noch nicht und seine Leser hatten es offenbar wieder ver­gessen. D« Marxismus , der Gegner des freien Spiels der wirtschaftlichen Kräfte, ist für Dietrich»eine Spätform liberalistischen Den­kens.« Und was ist es mit der von Mek- kerern wieder ersehnten individuellen Frei­heit? Wir zitieren nach dem Bericht des »Völkischen Beobachters« vom 10. Dezem­ber:»Der individualistische Freiheitsbegriff will Befreiung des Einzelnen von Pflicht gegenüber der Gemeinschaft.« Wo steht das? Welcher Vertreter des Uberalis­mus hat je solchen Blödsinn gefordert? Der Pressechef hat Belege nicht nötig, was Libe­ralismus ist, bestimmt er. Und so konstru­iert er sich nach Belieben einen verbrecheri­schen antisozialen Individualismus, einen mär­chenhaften Uberalismus, einen noch nie ge­hörten Marxismus , um diese»falschen Denk­systeme« zum allgemeinen Staunen seiner Zuhörer mit tönenden Banalitäten tot zu schlagen. Er fragt:»Wie ist Persönlichkeit, wie ist persönliche Freiheit innerhalb gemeinschaft­licher Gebundenheit möglich?« Jahrtau­sende haben darauf bisher nur eine Ant­wort gegeben; Durch soziale Demokra­tie. Nein, sagt Dietrich, nur durch den Na­tionalsozialismus, denn der wolle auch Frei­heit, allerdings eine andere, als sich die Kri tikaster vorstellen und nun wird der Mann endlich wesentlich durch das, was er gesteht; »Freiheit wozu, Freiheit zum Schaffen im Sinne des National­sozialismus braucht man bei uns nicht zu fordern, denn sie ist vorhanden. Wenn trotzdem bei uns irgendwo der Ruf nach Freiheit ertönt, dann kann er nur von Menschen kommen, die einem Wesen gemäß handeln wollen, das nicht mit dem Wesen unserer nationalen Gemeinschaft übereinstimmt, sondern ihr entgegengesetzt ist. Was sie fordern, ist nicht Freiheit zu gestaltender Mitarbeit, sondern zu zerstö­render Gegenarbeit. Was sie fordern, ist nicht Freiheit der Persönlichkeit, sondern entartete Freiheit, jene Freiheit, die wir als Freiheit der Miesmacher und Stänkerer bezeichnen.« Welch eine einfache Lösung des»jahr- hunderte alten Problems«! Schreibe für Hit­ler, rede für die NSDAP und du darfst reden und schreiben so viel du willst. Was Göbbels , Rosenberg usw. dem Ausland in den letzten Jahren immer wieder vernebelt haben, wird durch Dietrich wiedermal offen ausgesprochen; Bei uns gibt es nur eine braune Gedankenfreiheit! Denn unsere Weltanschauung ist so universal, daß sie noch nicht in unsere Köpfe geht:»Was der Genius des Führers aus begnadeter Schöpferkraft dem deutschen Volke gab, Ist so groß und gewaltig, daß wir es in seiner Ganzheit als geschlossenes Denkgebäude heu­te noch gar nicht erfassen können.« Wieder eine Wahrheit: niemand konnte dieses»Denkgebäude« bis heute kapieren, denn es beruht»in einer völlig neuen Er­kenntnis«, in der»rassischen Bedingtheit aller Werte«, deren energischster Vorkämp­fer der osteuropäische Mischling Alfred Ro­ senberg ist:»In der Idee der Rasse die Grund­lage unseres Denkens und Handelns erkannt zu haben, ist die große epochale Ent­deckung des Nationalsozialis­mus, die keine Vorläufer hat...« Der im Irrsinn gestorbene Dreschgraf P ü c k- 1 e r und andere Väter des deutschen Anti­semitismus rotieren im Grabe, denn sie haben den Rassenmumpitz schon erfunden, ehe Hit­ler geboren wurde, ja sie wußten sogar, daß diese neue Entdeckung seit Jahrtausenden bei den Wüden praktiziert wurde, insofern bei ihnen die Rasse relativ klar erschien und jeder als Feind oder verdächtig galt, der an­deren Blutes und Volkes war. Was sie immer­hin nicht hinderte, ab und zu nach B 1 u t- auffrischung durch rassenschänderische Vermischung mit Angehörigen fremden Blu­tes zu trachten. Aber da geraten wir schon in die Wissenschaft, also weit weg von Diet­rich, der sich von Kant abwendet, weil»ihm jene große Entdeckung fehlte«, nämlich die vom germanischen Rassenmythos. Sonst könnte Kant heute anders dastehen. Wie also wird Persönlichkeit gezüchtet? fragt der Redner zum bitteren Schluß.