Nr 241 BEILAGE NEUER VORWÄRTS 30. Januar 1938 Das andere Aiislaiiilsdeiitseliiiiin Emisrranleiibriefe au« fünf Erdteilen Die Grenze zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei ist zwei­einhalbmal so lang wie die Grenze zwischen Deutschland und Frank­ reich . Sie wird auf ihrer gesamten Ausdehnung von waldreichen Ge­birgszügen gebildet, über die hinweg sie an vielen Stellen noch heute ver­hältnismässig leicht ,, schwarz" über­schritten werden kann. Auch von Norddeutschland aus war es für man­chen leichter möglich, nach der Tschechoslovakei zu gelangen als nach Frankreich , Belgien , Holland oder Dänemark . Diese Grenzverhält­nisse im Zusammenhang mit noch an­deren Umständen haben es mit sich gebracht, dass viele politische Flücht­linge auf ihrer Flucht aus dem Drit­ ten Reich sich zunächst nach der Tschechoslovakei wandten, auch wenn ein anderes Land ihr Ziel war. So haben viele Flüchtlinge, die dann weitergegangen sind, in der Tschechoslovakei die erste Zuflucht gefunden. Mehr aber als ein Asyl und die opferwillige Hilfe der Gesinnungs­freunde, besonders der Arbeiterorga­nisationen in der Tschechoslovakei. konnte das kleine, in seinen Industrie­gebieten selbst von der Wirtschaftskri­se schwer bedrängte Land den Flücht­lingen nicht bieten; die Arbeitsbewil- ligung gewährte es ihnen leider nicht. tso ist die Tschechoslovakei das Durch- gangslaud gewesen für viele, die dann nach kürzerer oder längerer Zeit auf der Suche nach einer neuen Heimat, dach Arbeit und selbstverdientem Brot in andere Länder ausgewandert sind. Es war aber schwieriger, das Auswanderungsproblem für politische Flüchtlinge zu lösen als etwa für die jüdische Emigration, die zwar auch zu einem beträchtlichen Teil durch die Tschechoslovakei gegangen ist, für die aber von vornherein Palästina ein fest­stehendes Ziel war. Für die politische Emigration sah es in dieser Hinsicht anfangs nahezu hoffnungslos aus. Das kam deutlich in einem ArtikelAus­wandern, aber wohin?" zum Ausdruck, den derNeue Vorwärts" in seiner Nr. '8 vom 9. Dez. 1934 veröffentlichte und der so gut wie gar keine Aussich­ten offen liess. Glücklicherweise haben sich die Verhältnisse und Möglichkei- " ten dann als weniger ungünstig erwie­sen. allerdings erst nach langwierigen und zähen Bemühungen der mit der Flüchtlingsfürsorge betrauten Stellen, und es sind Erfolge erreicht worden, von deren organisatorischen und fi- Uanziellen Vorbereitungen sich der Fernstehende gar keine Vorstellung machen kann. Es ist im Laufe der letzten Jahre ein, Wenn man es so nennen will, ganz neuesAuslandsdeutschtum" entstan­den, das sich über alle fünf Erdteile �erteilt. Niemand hat 1933 geahnt, auf Welche Entfernungen hin sich die deut­ sche politische Emigration verteilen würde vom fernen Indien bis zu den südamerikanischen Kordilleren. Ver­teilen nicht zerstreuen, denn die gleiche Gesinnung verbindet sie noch �lle als ein unzerreissbares Band. Das ist besonders dann der Fall, wenn mit der Auswanderung zwar die materiel­le, nicht aber die ideelle Betreuung be- endet war. Beredtes Zeugnis dafür legt ein 97 Seiten starkes Heft ab, das jetzt von der sozialdemokratischen Flüchtlings­hilfe in Prag herausgegeben und den Mithelfern bei ihrer schweren und ver­antwortungsreichen Arbeit im In- und Auslande zugestellt worden ist. Es ver­einigt unter dem TitelEmigrcmten- hriefe aus fünf Erdteilen" einige sech­zig Briefe von sozialdemokratischen Flüchtlingen aus 23 Ländern zu einer Sammlung, der über den augenblickli­chen Zweck hinaus ein dokumentari­scher Wert zukommt. Alle diese Briefe sind nach Prag geschrieben worden und in überwiegender Mehrzahl sind es Briefe von Auswanderern, die eini­ge Zeit, viele einige Jahre lang in der hung mit einigen Sätzen abgetan. Eine ganze Anzahl europäischer Länder fehlt in dieser Briefsammlung über­haupt, z. T. aus Gründen, die kaum einer Erklärung bedürfen. Es fehlen Holland , Oesterreich, Rumänien , Ju- goslavien, Italien , Griechenland , Por­ tugal , die baltischen Staaten und auch Russland , die Sowjetunion , dasVater­land der Arbeiter". Die Verhältnisse in den übrigen europäischen Ländern sind zu bekannt, als dass sie hier er­örtert werden müssten. In einzelnen Fällen, so aus Bulgarien , Polen , Un­ garn , berichten die Briefe über Erfah­rungen in besonders gearteten Einzel­fällen. Günstiger als aus dem übrigen Photographien In Zeitungen, Aemtern, Kaffees, Galerien, auf tausend Bildern, auf tausend Schildern: ER. Beim Reden und Schiessen und Stiefelausziehen,. im Stall, in der Stadt, im Gebirge, am Meer, im Frack und in Uniform, tausendmal: ER. ER und im Hintergrunde das Volk. Er, wie er im Kreise der brauen Soldaten verwegen am neuesten Flak-Geschütz dreht, ER, festlich vereint mit den Herren Diplomaten, ER, wie er ergriffen am Totenbett steht, ER, wie er dem Hündchen mit Zuckerbrot schmeichelt, ER, wie er am Berghang ein Märzveilchen pflückt, ER, wie er den Kindern die Blondhaare streichelt, ER, wie er dem Bergmann die Schwielenfaust drückt. ER und im Hintergrunde das Volk. Es fallen die Löhne, es steigen die Preise, zum Brot fehlt das Fett, uitd das Brot ist aus Stroh..... Da bleibt er im Hintergrund. Glücklicherweise ist das nicht sein Fach, und er weiss das nicht so. Was die Giftgasfabriken im Land fabrizieren und was in den Kerkern geschieht, bleibt verhüllt. Der Kameramann muss es wegretouchieren. Zurück bleibt, von stolzem Behagen erfüllt: ER und im Hintergrunde das Volk. Doch brennt erst der Erdball wer stirbt in den Flammen? Er? Hinter Drahtverhauen, in Dreck und Grauen Er? Er schleppte in Jahren den Zündstoff zusammen, doch geht es ans Sterben, dannwollte er's nicht", dann bleibt er im Hintergrund, kleinlaut und schlicht. Im Vordergrund stirbt DAS VOLK. Hugin Tschechoslovakei gelebt haben und die von Prag die Reise in das neue Land angetreten haben. Nach den skandina­vischen Ländern, nafeh England, nach Europa lauten die Briefe aus den skandinavischen Ländern, die für vie­le zu einem ersehnten Auswanderungs­ziel geworden sind. Da sei aber ein Südafrika , nach Indien , nach den j wichtiger Umstand ausdrücklich be südamerikanischen Staaten sind sie ausgewandert, in ein neues fremdes Land und in ein neues Leben, in dem sie in vielen Fällen auch einen neuen Beruf erst erlernen mussten, um ihr Brot zu verdienen. Man kann den Wor­ten in der Einleitung zu dieser Brief­sammlung nur zustimmen, die von den Briefschreibern sagen; Wer diese Briefe liest, wird den Wagemut, die Talenlust, den Lebens­drang, den Zukunfstglauben bewun­dern, mit denen diese Männer, Frauen und Mädchen sich in die ungewohnten Verhältnisse der fremden Welt schik- ken. Es sind tüchtige Menschen, die der Terror der Diktatoren in die ungewis­se Fremde getrieben hat." Unter den vielseitigen Betrachtungen und Rückschlüssen, zu denen diese Emigrantenbriefe anregen, interessiert hier besonders das Auswanderungs- tont: es sei jeder davor gewarnt, etwa die Einreise nach Dänemark , Schwe­ den oder Norwegen auf eigene Faust, gewissermassenillegal" unter Umge­hung der zuständigen Stellen in sei­nem jetzigen Aufenthaltslande und der Organisationen in dem jeweiligen skandinavischen Lande anzutreten. Dünemark gewährt zwar in den an­erkannten Fällen dem Flüchtling die Aufenthaltsbewilligung, die Arbeitsbe­willigung aber ist nur schwer und fast nur in Ausnahmefällen zu erlangen. Günstiger liegen die Verhältnisse in Schweden und Norwegen . Dort ist der Wille, sobald als möglich durch die Arbeit sein Brot zu erwerben, gerade­zu Bedingung für die Aufnahme, wo­für Aussicht besonders für Bauarbeiter und für Spezialarbeiter der Metall­branche besteht. ..Aber auch in vielen anderen Berufen problem. Europa ist in dieser Bezie-/Sf unterzukommen. Man soll sich je­doch in dieser Beziehung keine Illusio­nen machen. Der schwedische Unterneh­mer beschäftigt auch lieber einen jün­geren als einen älteren Arbeiter. Aus­serdem ist die Vorliebe für Deutsche , die früher unzweifelhaft stark war, in den letzten Jahren seit Hitler stark ge­dämpft worden, und es gibt Betriebe, die prinzipiell überhaupt keinen Deutschen beschäftigen." Jeder muss auch damit rechnen, als Ausländer immer nur aushilfsweise Beschäftigung zu finden und bei Ge­legenheit als erster wieder entlassen zu werden. Aber: wer sich als gelernter Arbeiter Mü­he gibt, kann hier Arbeit finden. Natür­lich wird einem die Arbeit nicht auf den Präsentierteller gebracht und man muss sich sein Geld redlich verdienen. Aber man darf arbeiten welch ein Glück für arbeitswillige Menschen, denen jah­relang das Hecht auf Arbeit versagt war." Die übrigeAlte Welt", so geräu­mig sie ist, bietet deutschen Flücht­lingen nur wenig Raum. Aus Indien berichtet ein Auswanderer, dessen Fall obendrein ganz besonders gear­tet war, mancherlei Enttäuschendes. Eine kurze Nachricht aus Australien ist vorläufig nicht mehr als eine Er­wähnung. Ausführlichere Berichte liegen aus Palästina und aus Süd­ afrika vor. Die Briefe aus Palästina aber zeichnen ein nicht gerade ver­lockendes Bild.Wenn wir ehrlich sind, reut es uns, dass wir hier sind", so schreibt ein Flüchtling, der sein Glück in einer ganzen Serie von Be­rufen schon versucht hat. Und ein an­derer gesteht, dass es ihm wirtschaft­lich zwar gut gehe, dass er aber, ob­wohl er schon seit zwanzig Monaten in Palästina lebt, sich dort nicht ein­gewöhnen könne. Weniger pessimi­stisch urteilt ein dritter Briefschrei­ber, dem Palästina als Einwande­rungsland auch für Nichtjuden ge­eignet erscheint. Aus Südafrika berichten die Briefe übereinstimmend von günstigen Mög­lichkeiten für Metallarbeiter, Bau­handwerker und Spezialarbeiter ver­schiedener Branchen, besonders für jüngere Leute. Für kaufmännische und andereStehkragenberufe" aber be­stehen in Südafrika wie nahezu in al­len Ländern so gut wie keine Aussich­ten. Allerdings datieren die günstigen Beurteilungen der Arbeitsmöglichkei­ten für Einwanderer in Südafrika schon aus den Jahren 1935 bis 1937, während der letzte Brief vom Dezem­ber 1937 von gewissen Verschärfun­gen in der Einwanderungsbeschrän­kung berichten muss, Verschärfungen die der faschistischen Propaganda in Südafrika , besonders unter den Buren, zu danken sind. Dazu kommen Be­fürchtungen, dass bei einem mögli­cherweise eintretenden Konjunktur­rückgang die eingewanderten europäi­ schen Arbeiter die einheimischen Weissen von den Arbeitsplätzen ver­drängen könnten. Aus Nordamerika berichten die vor­liegenden Briefe von besonders gear­teten persönlichen Fälle, die keine all­gemeinen Schlüsse zulassen. Immerhin ist es bezeichnend, dass einer der in New York lebenden und arbeitenden Briefschreiber versichern kann:Jetzt kann ich schon sagen, dass es mich nicht mehr reizt, nach Deutschland