Nr 253 BEILAGE NEUER VORWÄRTS 24. April 1938 Gesehiehie als Lehriiieisterlu Arthur lto*$eiiher$;« 9 Demokratie und Sozial!« uiu« ««• * * h" Unter den Büchern der letzten fünf Jahre, die man kennen muss, um unsere Zeit zu verstehen, ist das neue V%n Arthur Rosenberg eines der wichtigsten. Es heisst:„Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre" und ist im Verlag Allert de Lange in Amsterdam erschienen. Geschichte müsste eigentlich, alle paar Jahre, und besonders immer nach grossen Ereignissen, neugeschrieben *aerdeu. Denn obgleich die histori- s«hen Tatsachen an sich unveränderlich bleiben, bieten sie doch dem Betrachter je nach seinem Standort über- •schend wechselnde Ausblicke. Es ist *ie bei einer Gebirgswanderung: die Berge bleiben unbeweglicb, und doch Rheinen sie nach jedem Stück Wegs, «las man zurückgelegt hat, immer wieder ganz anders. Auch die Zeit seit dem amerikani- sehen ünabhüngigkeitskampf und der französischen Revolution zeigt den Menschen von heute wesentlich andere i�üge, als denen vor.dreissig Jahren. Bin Bild dieser Zeit zu schaffen, wie Kie sich dem Auge eines politisch und historisch geschulten Betrachters von heute darstellt, war eine notwendige Aufgabe. Rosenberg hat sie in trefflicher Weise gelöst. Wer sein neues Buch liest, der wird allernächst lernen, die Zeit von 1789 bis heute als ein Ganzes zu begreifen. Vor etwa 150 Jahren hat die Auflösung der alten staatlichen und gesellschaftlichen Formen begonnen, Und damit hat eine Bewegung eingesetzt, die bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist. Aufstände, Volkskriege, allgemeines Wahlrecht, Molksabstimmungen, die Vielfälligkeit *er nationalen und sozialen Probleme geben der Zeit ein völlig neues Gesicht. Es ist das Zeitalter der Republiken, �er Cäsaren, der Kaiser und Könige, «he ins Exil gehen, der Tagelöhner, die 'u Selbstherrschern ihres Volkes aufzeigen, das Zeitalter der Streiks, der Weltwirtschaftskrisen, der sozialisti- Z'hen Massenbewegungen, der Planwirtschaft, der Bolschewiken und der Faschisten. Es ist das Zeitalter der Elektrizität, der Autos, Flugzeuge, Fanks, Giftgase, der Rotationsmaschi- "en und des Rundfunks. Mit betäubender Wucht und Schnelligkeit sind «üe grossen Ereignisse auf die letzten Generationen eingestürmt. Eine ungeheuere Verwirrung aller geistigen und ältlichen Werte ist die Folge. Wie wird das alles enden? Die junge Arbeitergeneration von 1900, die sich 1111 Darwin und Marx schulte, glaubte den Fortschritt. Sie glaubte, dass hie Aufwärtsentwicklung der Menschheit ein ganz neues Tempo angenommen habe, und dass diese Bewegung ,ehr bald in der Bildung einer sozia- '■stischen Gesellschaft ihren Rulie- hünkt finden werde. Heute dagegen meinen viele, dass die Bewegung mrangsläufig zum Faschismus führe ',nd in ihm für lange Zeit völlig er- Zerren werde. Bosenberg kann den schönen Glauben an die unmittelbare Nähe des so- Znlistischen tausendjährigen Reichs mcht aufrechterhalten und nicht verteidigen. Aber auch dem Schreckgespenst der tausendjährigen Naziherr- schaft leuchtet er mit dem Licht der historischen Forschung gründlich heim. Faschismus und Nazismus sind Gewächse unserer Zeit. Das will aber nicht besagen, dass die Demokratie zuvor in Europa ein leichtes Leben gehabt und nichts als Siege heimgetragen hätte. Das gerade Gegenteil ist die Wahrheit; allen Aufstiegen der Demokratie sind jähe Abstürze gefolgt. Der Zustand, der dadurch eintrat, bat immer länger gedauert als die Demokraten gehofft hatten. Docii ist er niemals ein endgültiger gewesen. Nach längeren Erschöpfungspausen setzt der Vormarsch innner wieder ein. Staatsform. Die Demokratie als politi sehe Bewegung versucht Rosenberg einzuteilen und zu klassifizieren als bürgerliche, soziale, sozialistische, liberale, imperialistische, legale und revolutionäre Demokratie, wobei, wie es nicht anders sein kann, die Grenzen nicht selten fliessend werden. Wir möchten aber gerne erfahren, was an diesen verschiedenen Sorten von Demokratie das Gemeinsame ist, und das eben erfahren wir nicht. „Die Demokratie als ein Ding an sich, als eine formale Abstraktion", so schreibt Rosenberg,„existiert im geschichtlichen Leben nicht." Das ist zweifellos richtig, aber ebenso richtig ist, dass„formale Abstraktionen" unentbehrliche Mittel der Erkenntnis In geruhsamen Zeiten hatten wirjsind. Es gibt in der Wirklichkeit keine uns gewöhnt, die neueste tieschichte � abstrakten Zahlen: es gibt drei Aepfel, bei den grossen Utopisten beginnen zu oder drei Sterne, oder drei Häuser, lassen und sie mit Marx und der Zwei- aber es gibt keine Drei als„Ding an ten Internationale abzuschlicssen. Ro-jsich". Wer wollte daraus schliessen, senberg zeigt sie uns als eine Zeit auf- j dass wir ohne Zahlen auskommen wühlender Kämpfe non Robespierre können? Es gibt auch keine„Demo- über Marx bis Lenin . Den demokratischen und sozialistischen Bewegungen der Vergangenheit wird an Kritik nichts geschenkt. Aber die Kritik, die Rosenberg übt, ist niemals fraktionell- kratie an sich", sie hat immer einen Inhalt, und dieser Inhalt kann sehr verschieden sein, aber deswegen ist die Form noch nicht gleichgültig. Das alles wird Rosenberg gewiss gehässig, sondern stets von allgemei-i nicht bestreiten, aber er hat es bei seinen höheren Grundsätzen getragen.|ner Arbeit für unbeachtlich gehalten, Ueber manches lässt sich streiten, aber und das ist ein schwerer pädagogigerade die Kritik, die an der deutschen scher Fehler. Es können dadurch Miss- Sozialdemokratie und der Zweiten In- 1 Verständnisse entstehen, die gefährlich teruationalc geübt wird, trifft im grossen Ganzen den Nagel auf dem Kopf. Wo so viel Licht ist, kann es auch nicht an Schatten fehlen. Die Schwäche des Buches liegt in der souveränen Nichtbeachtung, mit der alle staatsrechtlichen Probleme beiseite geschoben werden. Rosenberg behandelt die Demokratie als politische Bewegung — und das ist sie zweifellos auch— ausserdem aber ist sie auch eine Idee und eine auf dieser Idee beruhende sind. Denn so unendlich verschieden die sozialen Inhalte einer Staatsform sein können, so eng ist doch andererseits die Zahl der möglichen Slaatsfor- men begrenzt. Im Grunde sind es einige wenige Typen, die im Laufe der Jahrtausende immer wiederkehren, für einen von ihnen muss sich der handelnde Politiker entscheiden. Das Spiel mit den Worten„formale Demokratie",„bürgerliche Demokratie" usw., die Suche nach einem staatsrechtlichen Wolkenkuckucksheim, einer unmöglichen Staatsform, die die Herrschaft des Proletariats und den Sieg des Sozialismus garantieren sollte, hat vor zwanzig Jahren den furchtbarsten Schaden angerichtet, und der Gedanke ist grauenhaft, dass eine revolutionäre Bewegung der Zukunft ähnlichen Irrlichtern nachlaufen könnte. Mit Recht warnt Rosenberg vor der Vorstellung, dass mit der Fanführung einer demokratischen Verfassung das Werk der sozialen oder sozialistischen Demokratie schon getan sei— gewiss, es fängt damit erst an; aber anders anfangen kann es eben nicht! Die Erkämpf ung und Erhaltung des allgemeinen, gleichen und freien Wahlrechts, die Freiheit der Meinung, das Recht auf Koalition sind die unentbehrlichen Voraussetzungen für den Aufbau einer sozialen und sozialistischen Demokratie. Im Bürgerkrieg mag es notwendig werden, diese Rechte zu beschränken, aber ein Bürgevfrieden ohne ihre Wiederherstellung ist nicht denkbar. Denn die Demokratie, als Staatsform sowohl wie als Bewegung, beruht auf der Idee vom Wert der Persönlichkeit, vom gleichen Recht aller. Diese ethische Fundierung aller demokratischen oder sozialdemokratischen Bestrebungen wird denen erst recht notwendig erscheinen, die mit Rogenbergs Kritik an der Arbeiterintercssenpolitik der Sozialdemokratie übereinstimmen. Diese kritischen Bemerkungen haben ihren Zweck erst dann erreicht, wenn sie niemanden vom Lesen dieses ungewöhnlich wertvollen Buches abschrecken, sondern im Gegenteil alle dazu ermuntern, es gründlich zu studieren. Bloss in der Absicht, den Wert dieses Studiums zu vermehren, wurden hier einige Bedenken angemeldet. Friedrich Stampfer . Hitler in Nüilamerika Argentinien wehrt sieh/ Von Oda Olherg Bis vor wenigen Jahren war in Argen tinien nichts von einer deutschfeindlichen Stimmung zu spüren. Sogar die lebhafte Propaganda der Entente während des Weitkriegs war erfolglos geblieben, weil die argentinische Bevölkerung, dank ihrer Geschichte und ethnischen Zusammensetzung, nicht zum Fremdenhass neigt. Aber Hitler hat es doch geschafft. Die Regierung hat bereits zwei deutsche Nazi-Schulen im Gouvernement La Pampa geschlossen(Gouvernements sind in Argentinien die Gebiete, die wegen ihrer geringen Bevölkerungszahl keine Sclhstregierung haben, Sondern von der Bundesregierung verwaltet werden) und hat eine Enquete über alle deutschen Schulen der Hauptstadt und der Länder angeordnet. Seil längerer Zeit bekam man hierzulande Kostproben des Eindringens der Nazi: Uebcrfällc auf das antifaschistische„Argentinische Tageblatt" und auf einzelne seiner Redakteure, Angriffe und Roheitsakte gegen Synagogen, Ueberschwemmung mit Hitler- und Goebbelsredcn in spanischer Sprache, die einem durch die Post zugestellt wurden. Die Behörden hatten zuviel mit der Verfolgung streikender Arbeiter und sogenannter„Kommunisten" zu tun, um einzuschreiten. Jetzt hat aber das Zusammentreffen verschiedener Episoden dem Fass den Boden ausgeschlagen, sodass man sich gar nicht zu wundern braucht, wenn etwas wie eine Penetrationspsychose ausbricht. Es gibt schätzungsweise 250 000 Deutsche in Argentinien , von denen sehr viele argentinische Staatsbürger sind. Nach einer nationalsozialistischen Statistik verfügen sie über 203 deutsche Schulen, aber dabei sind kleine Kampschulen mitgerechnet. Lehranstalten mit regelmässigem Unterricht gibt es etwa 80. Der erste offizielle Alarm kam aus dem Gouvernement La Pampa und aus dem südöstlichen Gouvernement Missiones, wo sich geschlossene deutsche Siedlungen befinden. Es bat sich herausgestellt, dass in den dortigen Schulen die Landessprache gar nicht oder nur ganz nebenbei gelehrt wird, sodass vorkommen konnte, dass ein argentinischer Staatsbürger L. von deut schen Eltern in Argentinien geboren, bei der Einberufung zum Militärdienst sich nur durch einen Dolmetscher verständigen konnte! Ausserdem wird dort den Kindern die Naziideologie eingetränkt, die sie dem Lande entfremdet, dessen Bürger sie sind. Eben deshalb hat man bis jetzt, als erste Massnahme, die Schliessung zweier deut scher Schulen in La Pampa angeordnet. Am wichtigsten sind natürlich die Schulen in der Hauptstadt, die alle, bis auf zwei, gleichgeschaltet sind, zu einem deutschen Schulverband unter dem Vorsilz des deutschen „Kulturrats", eines Professors Keiper, zusammengeschlossen. Nicht nazistisch sind die Germania-Schule und die Pestalozzischule. Diese ist vor vier Jahren auf Anregung des„Argentinischen Tageblattes" gegründet worden, um die Kinder antifaschistischer Eltern aufzunehmen. Welch ein Dorn im Auge der Hitler-Deutschen sie ist, geht daraus hervor, dass einem Arbeiter der Firma Siemens bei Strafe der Entlassung bedeutet wurde, seine Tochter aus der Pestalozzi-Schule zu nehmen. Ueber- haupt arbeiten die f/rossc/i deutschen Firmen, im Verein mit der Deutschen Arbeits front , sehr stark mit politischen Massregelungen, wodurch besonders die Neuzugewanderten eingeschüchtert werden. Nach einer in der„Critica " veröffentlichten Artikelserie von Ernesli Giudici, sind die deut schen Nazi-Schulen in Argentinien von rund : 15 000 Kindern besucht. Die Staatszugehö- jrigkeit ist nur für die Hauptstadt festgestellt, und zwar sind 74 Prozent Argentinier , 11 Prozent Deutsche (in Deutschland von deutschen Eltern geboren) und 15 Prozent gehören anderen Nationalitäten an. Es ist nun wohl begreiflich, dass die argeritinische Regierung nicht davon begeistert.sein kann, wenn man ihren heranwachsenden Staatsbürgern ein Lehrbuch in die Hand gibt, wie das„Deulschkundliche Arbeitsbuch" von Garz und Hartmann, in dem sie auf Seite 12 lesen können, dass Deutsch land vor Hitler eine demokratische Repu blik war, wie Argentinien , dass die Menschen auf offener Strasse überfallen wurden, die Häuser verbrannt, der Reichstag angezündet, die Züge durch Attentate zerstört, die Telegraphenstaiigen vernichtet, die Läden geplündert, die Bauken ausgeräumt, usw. Mit diesem Bild einer„demokratischen Republik " dürfte nicht gerade viel für die Erziehung republikanischer Demokraten gewonnen sein. Im„Auslanddeutschen," fordert ein Professor aus Missiones für die dortigen Siedlungen einen Führer,„der fähig sei, dank seiner geisti-
Ausgabe
6 (24.4.1938) 253
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten