JOURNAL ANTIHITLERIEN Journal social-democrate destine aux refugies de langue allemande EN AVANT! Hebdomadaire en langue allemande Redaktion und Verlag: 50, Rue des Ecoles, Paris -5. Telephone: Odeon 42-58 Nr. 330 SONNTAG, 15.. Oktober 1939 Aus dem Inhalt: Die Internationale und der Krieg Krieg ohne Eisen? Der Grossadmiral Prix: Ars. I.&O Kein Hitlerfrieden fl�er für Frieden und Freiheit in Furopa Als Hitler in Deutschland zur Macht tarn, standen einer rational geführten deutschen Politik und Handelspolitik �he Wege in die Welt offen— sie brauchte sich diese Wege nur nicht selbst zu versperren. Das Hitlersystem bat die Wege Deutschlands in die Welt versperrt. Heute ist Deutschland eine belagerte Festung, um die sich der Ring immer enger schliesst. Hinter der �eichtagsrede Hitlers stand die Furcht vor dieser Tatsache, noch mehr aber die Furcht, dass das deutsche Volk diese Lage erkennen könnte. Der �leisterlügner Europas bemüht sich Verzweifelt, durch seine Reden und durch seine Propaganda die wuchtigen Schritte des Schicksals zu übertönen, das unerbittlich herannaht. Welch ein Zusammenbruch der Machtillusionen! £hen noch schien der Weg frei zu sein ins Mittelmeer und nach dem Nahen �sten; dann, nach dem Abschluss des Perfiden Paktes mit Russland , schien die Herrschaft im Baltikum gesichert— V'nd nun ist das alles vorbei, trotz der 'nilitärischen Niederwerfung Polens . b-ng und immer enger zieht sich der hing um Deutschland . Wir können uns Vorstellen, mit welchem Entsetzen deut sche Nationalisten, die deutsche Expan- s'onszicle im Osten bejahten, ohne da- m Hitlers Methoden zu hilligen, das Vordringen Russlands im Baltikum , in •hilen und gegen Südosten ansehen. Al- 'cs, was dem deutschen expansiven Na- '■onalismus, der der Mntterboden des �'tlersystems gewesen ist, vorschwebte, "Ü von Hitler verspielt worden. Hitler steht mit dem Rücken an der Wand. Diese Wandlung der Situation hat N'ch seit dem Uebcrfall auf Prag vorbereitet. Wir glauben indessen, dass V'e dem deutschen Volke in seiner Ge- Saiutheit noch nicht ins Bewusstsein gekommen ist. Noch wird man im deut- vchen Volke die heutige Lage ansehen wie jene Zeiten der internationalen Spannungen, die immer einem abenteu- erlichen Verstoss Hitlers gefolgt sind, �bne dass sich ernste Folgen ergeben biilten— so nach der Rheinlandbeset- 2üng, nach dem Ueberfall auf Oester- re'ch. nach dem Raub des Sudetenlan - ?es. Das Opfer liegt wieder— diesmal ist es p0ien— die Welt ist in Waf- �eii und in Erregung, aber Hitler wird es schon gelingen, sich mit List durch- Winden bis zu seinem nächsten Vor- stoss. Dem deutschen Volke die Lage 50 darzustellen, ihm zu verbergen, dass in einem ernsten Kriege gegen überlegene Gegner ist, das ist der wahre �'On der Hitlerrede. Es bleibt Hiller nur noch der Ausfall aus der belagerten Festung nach Wes- JpH. Er weiss, dass er nicht, gelingen kann. Was aber den Kanonen nicht ge- 'ngen kann, gelingt vielleicht listigen V�orten? Vielleicht gibt es immer noch ■�ute in England und Frankreich , die sich täuschen lassen? Vielleicht lässt J|ch die englische und die französische Politik durch geschickte Einwirkung "'af die dcfaitislischen Kräfte in beiden J-ändern in Verwirrung bringen? Viel- e'eht, xyenn man alle Register zieht, man heuchlerisch einige Gesichls- Pankte missbraucht, die den demokratischen Kräften teuer sind, wenn man die Magie des blossen Wortes„Frieden" benutzt, kann man die Gegner überlisten, dass sie zunächst einmal die Belagerung aufgeben, und dann kann man weiter sehen? Der Erfolg würde jedenfalls sein, dass das deutsche Volk weiter getäuscht werden könnte. Das ist der Sinn der Hitlerschen Formel:„Die Aufrechterhaltung des Kriegszustandes im Westen ist undenkbar." Sie ist in der Tat für Hitler undenkbar. Sie ist für ihn tödlich. Sie bedeutet zugleich die Aufrechterhaltung der Blockade. Kriegszustand im Westen und Blok- kade bedeuten für Hitler den Zwang zum Material- und Abnützungskrieg, bedeuten die schonungslose Enthüllung der Schwächen der deutschen Scheinautarkie und der unzureichenden Grundlagen der deutschen Kriegswirtschaft. Die Aufrechterhaltung des Kriegszustandes im Westen setzt an die Stelle des deutschen Riesenhluffs die Probe auf die wirklichen Machtverhältnisse. Diese Probe muss desillusionie- rend auf alle wirken, die in Deutsch land der Hitlerpsychose verfallen sind oder die unter dem Eindruck seiner Teilerfolge stehen, deren episodischer Charakter jetzt klar wird. Mit der Auf- rechterhaltung des Kriegszustandes im Westen bricht die gesamte politische Konzeption Hitlers und seiner Bande zusammen. Sie war gegründet auf die Lokalisierung des Krieges, auf eine Aufeinanderfolge von lokalisierten Kriegen gegen Schwächere, auf die Hinnahme der Ergebnisse solcher Aktionen durch die übrigen Grossmächte. Die Aufrecht- erhaltung des Kriegszustandes im Westen bedeutet, dass das kollektive Interesse aller gegen eine Aufeinanderfolge deutscher Angriffe erkannt ist und zur Grundlage der Abwehr wie der Wiedergutmachung gemacht wird. Der Krieg wird somit um die Verwirklichung der Grundgedanken des Völkerbundsstatuts geführt, um eine europäische Rechts- ordnung gegenüber der anarchischen Gewaltpolitik des Hitlersystems. Die Wahrung der Interessen der demokratischen Mächte und des Grundgedankens einer europäischen Rechtsordnung liegt in den Händen der kriegführenden Regierungen in Frankreich und in England. Sie zerreissen durch die Darstellung der wirklichen Lage die Sophistik der Hitlerrede. Kaum eine andere Hitlerrede war so innerlich widerspruchsvoll wie diese, und es könnte locken, diese innere Verlogenheit Punkt für Punkt zu zeigen. Welch ein Thema, dass der Mann, der seit Jahren durch seinen Göring verkünden lässt:„Kanonen statt Butter", nun, wo wirklich geschossen wird, in die heuchlerische Frage ausbricht;„Soll denn das Vermögen der Völker in Granaten verpulvert werden?" Aber das ist nicht das wesentliche. Dus wesentliche ist, dass die Annahme der Hitlerordnung für Ost- jmd Südosteuropa — und das ist seine wahre Friedensbedingung— die Wiederaufrichtung einer europäischen Rechtsordnung auf der Grundlage der Freiheit unmöglich machen würde. ** * Wir richten deshalb unseren Blick auf den Osten und auf die Absichten, die Hitler für jene Gegenden hegt. Er hat in seiner Rede Anspruch darauf erhoben, dass er in diesem Teile Europas i Ordnung geschaffen habe und weiter I Ordnung schaffen werde, dass er dieses Gebiet, soweit er es bereits beherrscht, erst entwicklungs- und lebensfähig gemacht habe, dass nur die Beherrschung dieses gesamten Gebiets im Einvernehmen mit Russland der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Völker, die es bewohnen, den Weg öffne. Er setzt ganz eindeutig der Versailler Ordnung eine Hitlerordnung entgegen. Es geht nicht um die Methoden, mit denen er die Hitlerordnung durchzusetzen versucht hat und weiter versucht, so empörend und verbrecherisch sie auch sind, es geht um das Prinzip und jdie Ergebnisse. Die Versailler Ordnung i beruhte auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Sie ruhte auf freiheitlichen und demokratischen Prinzipien, auf dem Glauben an den Aufstieg der Völker dank ihrer inneren Kräfte, auf dem Wunsche, nationalen Selbständigkeitsdrang zu befriedigen, um die Kräfte der Völker nach innen frei zu machen und eine Ordnung des Friedens in Europa zu gründen. Die nationalstaatliche Organisation des Völker Europas sollte zur Grundlage einer europäischen Verfassung werden. Zu dieser europäischen Verfassung gehörte die Anerkennung des Satzes, dass nicht nur Grossmächte Lebensrecht haben, sondern auch die kleineren Stuaten, und dass die kleineren Staaten ebenso zum europäischen Gleichgewicht beitragen wie die Grossmächte. Hitler will an die Stelle dieser freiheitlichen Ordnung die Beherrschung der kleineren Staaten und Völker durch den deutschen Machstaat setzen, an die Stelle der freien Entwicklung dieser Völker das Diktat des Eroberers, der nicht nur in die staatliche Ordnung und die Wirtschaft dieser Völker dirigiernd, Wie leben Im ersten Monat des ersten Weltkriegs fiel der Führer der Sozialdemokratischen Partei Dr. Ludwig Frank. Nach dem ersten Monat des zweiten Weltkrieges sind die Führer der Nazis sämtlich noch lebendig. Man versteht jetzt, warum sie das 1 schlichte' Denkmal, das die Stadt Mann heim ihrem Abgeordneten Ludwig Frank errichtet hat, zerstören Hessen . Kein Eiorbeer Hitler hat sich in seiner Reichstagsrede seiner humanen Kriegsführung in Polen gerühmt. Die Verlogenheit dieses Selhst- lobs schreit gen Himmel. Einwandfreie neutrale Zeugen haben bekundet, mit welcher Grausamkeit dieser Krieg geführt worden ist. Der frühere polnische Generalkommissar in Danzig , Herr Chodacki, hat in einem Aufsatz seine Erfahrungen bei Kriegsausbruch in Danzig geschildert. Sein diplomatisches Personal ist von SS -Banditen so misshandelt und gefoltert worden, wie deutsche politische Gefangene in deutschen Konzentrationslagern. Aus einem eigenen Bericht, der uns zugegangen ist, sehen wir, dass 35 polnische Postbeamte, die nach der Kapitulation der polnischen Hauptpost in Danzig gefangen genommen worden sind, von SS -Leuten sofort erschossen worden sind. Warum hätte man auch annehmen sollen, dass sie im Kriege weniger grausam sein würden als vor dem Kriege? „Das deutsche Soldatentum"— so sagte Hitler —„hat sich den Lorbeerkranz wieder fest ums Haupt gelegt. Das bindet fester als jede staatsrechtliche Konstruktion." Der Lorheerkranz von Polen scheint uns eher ein brennender Reif der Schande zu sein. Noch niemals aber hat Hitler so klar zu erkennen gegeben, was die eigentliche Verfassung seines Systems ist. Die Gemeinsamkeit des Verbrechens hält ihn und seine Bande zusammen— und das bindet in der Tat fester als jede staatsrechtliche Konstruktion. Ein Argument Die deutsche Propaganda bemüht sich, die Schuld am Kriege auf England zu wälzen. Sie sagt dem deutschen Volke:„Was hat England mit Polen zu tun? Warum kann England uns nicht in Ruhe lassen?" Dieses Argument— so lesen wir in der „Times"— hat in Deutschland selbst bei Gegnern des Nazisystems einigen Eindruck hervorgerufen. Wäre diese Mitteilung der„Times" richtig, so wäre es um so notwendiger, dem deutschen Volke zu sagen, dass es ganz andere und schwerwiegendere Argumente gibt, als machtpolitische und geographische. Die Propaganda des Hitlersystems hat sieh seit sechs Jahren bemüht, im deut schen Volke alle rechtlichen und moralischen Erwägungen zu töten. Dass die Freiheit, sowohl die, Freiheit des deutschen Volkes wie(He Freiheit und das Selhst- bestimmungsrecht aller Völker, nicht ein reiner Nützlichkeitswert ist, sondern ein übergeordneter Wert an sich, dass das Recht nicht eine Sache des Nutzens ist, sondern eine Sache der privaten wie der internationalen Moral, das ist es, was das deutsche Volk wieder lernen muss. Solange es zusieht, wie seine Regierung über Recht und Freiheit hinwegschreitet, solange es nicht erkennt, dass der Rechtsbruch, der Meineid, und der Raab internationale Verbrechen darstellen und niemals mit wahrhaft nationalen Interessen identisch sein können, solange ist auch eine Wiedereingliederung des deutschen Volkes in die Gemeinschaft einer europäi schen Rechtsordnung nicht möglich. Es ist deshalb zwecklos, mit der deut schen Propaganda zu diskutieren auf der Ebene des machtpolitischen Anspruchs des Hitlersystems und seiner Auffassung„Recht ist, was dem deutschen Volke nützt". Gegenüber dieser Propaganda gilt es, die Heiligkeit des Rechts und der moralischen Werte zu betonen. Man kann damit keine subversiven brutalen Machtinstinkte entfesseln— aber man kann den Prozess der geistigen Gesundung fördern, ohne den ein wahrer Frieden nicht möglich sein wird. Diese Propaganda des Rechts und der Moral muss allerdings unerbittlich sein, so dass das deutsche Volk begreift, dass sich jede Schuld auf Erden rächt, und dass, wer zur Gewalt gegen das Recht greift, durch die Gewalt umkommen wird.
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7 (15.10.1939) 330
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