/IV* Beilage zum„Vorwärts" Berliner Volksblatt. Kr. 23. Donnerstag, den 28. Jannar 1892. 9. Jahrg. UoKertes. Sit Nothlage der Arbeitslosen wird von den Arbeit- gebern auch noch nach Kräften ausgenutzt. Wenn irgend einer der vor dem Jntelligenz-Komptoir umherstehenden Beschäftigungslosen zu einer Arbeitsleistung angenommen wird, so ist der Ar- beitgeber immer erfreut, endlich eine„billige" Arbeitskraft erwischt zu haben. Was wollen denn die hungernden„Kerls" machen? Sie müssen sich ja glücklich fühlen, wenn sie während eines Tages ein paar Groschen verdienen. Kommen sie an dieses Glück nicht heran, dann müssen sie hungern, sie haben kein Obdach, kurz und gut, für sie bleibt als letzter Weg nur ein Sprung in die Spree. Ehe sie aber den wagen, werden sie nach einer Arbeit grei cn und sei sie auch noch so schlecht bezahlt. Diese Spekulation be- währt sich denn auch in sehr vielen Fällen. Die Menschen hängen so sehr am Leben... Das. ist ihr höchstes Gut und sie werfen es nicht von sich, wenn sie noch einen Ausweg, eine Rettung zu finden wissen. Diese Spekulationen auf billige Arbeitskräste geben sich sehr oft in der kleinlichsten Art. Der Arbeitgeber handelt und drückt auf den Groschen, als ob an demselben sein ganzer Grundbesitz hinge. Ein kleines Beispiel für die unglückliche Pfennigfuchserei der Besitzenden sei hier an- geführt: Zwei Arbeitslose wurden in der Nähe der R.-Straße von einer Frau angesprochen, welche dieselben fragte, ob sie Arbeit haben möchten. Natürlich wurde diese Frage freudigst bejaht. Die Frau wünschte den Bürgersteig ihres Hauses von Schnee gereinigt zu haben, es war eine große Fläche, der Schnee lag fest wie Eisen. Zwei Stunden wurde gearbeitet. daß es eine Art hatte und als es endlich ans Bezahlen kam, sollten zwei Mann zusammen 60 Pf. erhalten, macht also pro Mann und pro Stunde 15 Pf. Das war denn doch etwas zu wenig und deshalb wurde dringend um Mehrzahlung nachgesucht. Und nicht ohne Erfolg, die Arbeiter erhielten eine baare Mark bewilligt. Freilich that die Hausbesitzerin sehr wehleidig, sie meinte, wenn schon die Arbeiter so viel verlangten, wüßte sie gar nicht, was sie eigentlich ihren Miethern abfordern sollte. Die armen Miether! Wahrscheinlich wohnen sie halb umsonst und wenn das wirklich der Fall sein sollte, dann können sie sich auf «ine gewaltige Steigerung gefaßt machen, denn— die Haus- besttzerin hat zwei Arbeitern für Schneeschippen eine Mark bezahlen müssen! Der Moniteur von Spandau , der steisinnige„Anzeiger für das Havelland", hat. wie wir schon in einer unserer letzten Nummern mitlheiltcn, seinen schweren Kummer darüber, daß das friedliche Städtchen Spandau jetzt so oft von„Vagabunden und Strolchen" heimgesucht wird. Die armen Obdachlosen haben es mit dem„freisinnigen" Blättchen so gründlich verdorben, daß dasselbe die Hausbesitzer und Eigenthümer zu einem großen Kampf gegen das„Stromerthum" auffordert. Jetzt hat das Blatt wieder die Entdeckung gemacht, daß diese Obdachlosen„schon häufig die Urheber von Feuersbrünsten gewesen sind" und schreibt von diesem Grundsatze ausgehend: Besitzer von Bauhöfen und ähnlichen Anlagen. welche leicht brennbare Materialien enthalten, müssen jetzt gegen den Besuch obdachloser Personen auf der Hut sein. Die heimlich nächtigenden Individuen sind schon häufig, meist aus Fahrlässigkeit, die Urheber von Feuersbrünsten gewesen. Die betreffenden Eigenthümer lassen denn auch Abends und Nachts ihre Baulichkeiten des Oefteren revidiren. Gestern wurde bei einem solchen Rundgang unter einem Schuppen der Holz- bearbeitungs-Fabrik des Herrn Pcrrin ein verdächtig aussehender Mensch angetroffen, welcher sich zur Nachtruhe niedergelassen hatte. Derselbe führte keine andere Legitimation bei sich als Entlassungsscheine aus Strafanstalten und Arbeitshäusern. Er wurde der Polizei zugeführt und von dieser dem Amtsgericht übergeben. Damit war Spandau vom Untergang gerettet, denn nach dem„Anz. für das Havelland" konnte der verruchte Obdachlose, dieser„verdächtig aussehend« Mensch" nichts weiter im Sinne führen, als den Schuppen in Brand zu stecken und so, wenn irgend möglich, ganz Spandau durch eine Feuersbrunst vom Erdboden zu vertilgen. Daß der arme Teufel nur bezweckte, für die eine Nacht ein Unterschlupf zu finden, deshalb in den Schuppen gekrochen und sich„zur Nachtruhe niedergelassen"— das ist dem freisinnigen Blatt gar nicht denkbar. Ohne den allergeringsten Beweis für die Wahrheit seiner Behauptung zu haben, stempelt es den Obdachlosen flugswegs zum Mordbrenner und Brandstifter, was ihm um so wahrscheinlicher erscheint, als der„Mensch" nicht das geringste Sparkassenbuch als Legitimation bei sich führte, sondern nur Entlassungsscheine aus Strafanstalten und Arbeitshäusern. Das war Beweis genug, daß es sich wieder um ein arges Verbrechen handeln mußte und so wurde der arme Kerl zur Polizei transportirt und diese übergab ihm dem Amts- gericht. Das wird seines Amtes in einigen Tagen walten und aus Grund irgend eines Paragraphen des Strafgesetzbuches den Obdachlosen zu einer längeren oder kürzeren Hajtstrase ver- urtheilen. Derselbe ist dann um einen Entlassungsschein aus einem Gefängniß reicher. Wenn es nach dem berühmten Epandauer Lokalblatt ginge, müßte dem Missethäter wegen ver- suchter Brandstiftung der Prozeß gemacht werden und sein Loos wäre mindestens der Galgen.... Nachdem so der„Anzeiger" den Spandauer Spießbürgern vor den Altentaten der Obdachslosen graulich gemacht hat, entdeckt er plötzlich sein gutes und mitleidsvolles Herz. Direkt unter der Eingangs erwähnten Notiz finden wir nämlich die folgende: Einen mitleidswerthen Eindruck machte ein armer S ch n e i d e r g e s e l l e, der sich in der vergangenen Nacht im Rathhause obdachlos meldete und auch Unterkommen erhielt. Der Mann war öS I a h r e alt und befand sich, da er arbeitslos ist. aus der Wanderung. Er war von Berlin fortgegangen und wollte nach Nauen . In Spandau überfiel ihn jedoch g r o ß e Ermattung, so daß er seinen Weg nicht sortzusetzen vermochte. Heute früh nahm der nur dürstig gekleidete Mann seine Wände- rung wieder auf, bei seinem vorgeschrittenen Alter sicherlich kein beneidenSwerthes Loos. Ja, das ist wahrlich kein beneidenswerthes Loos! Ein alter Mann von 63 Jahren muß im Winter wandern von Ort zu Ort und froh sein, wenn er auf der einen oder anderen Polizeiwache die Erlaubniß erhält, so lange zu rasten, bis ihn, seine Kräfte gestatten, den Wanderstab wieder weiter zu setzen. öS Jahr ist für den Bourgeois das Alter, in welchem er sich von seinen®e- schäften zurückzieht, um frei von Kummer und Sorgen einen behaglichen Lebensabend zu genießen. Er kann sich das lelstcn, denn er hat in der. Zeit genug„verdient", um für den Rest seines Lebens rasten zu können. Wie anders der Proletarier. Eine trostlose Jugend liegt hinter ihm, im besten Mannesalter hat er gerade so viel verdient, daß er nicht zu hungern brauchte, im Alter wird er hinausgestoßen aus die Landstraße, er kann zu- sehen, ob sich jemand seiner erbarmt, geschieht das nicht, dann steht es ihm frei, hinter einer Hecke oder Strauch sein nutzloses Dasein auszuhauchen.— er hat sich's aber so einzurichten, daß der Gemeinde durch den Transport und die Bestattung der„Armenleiche" nicht zu große Kosten erwachsen. Proletariers Ende! Nur keine Ueberstürznngi„Es giebt noch keinen Roth- stand", dekretirte der Magistrat,„und wenn ein solcher wirklich einmal eintreten sollte, dann werden Maßregeln getroffen werden, um ihm wirksam und rechtzeitig zu steuern." Um zu zeigen, daß er nicht blos den Mund vollzunehmen versteht, hat Magistratus denn in der That auch schon einige„Maßregeln" getroffen, wie Erhöhung des Armengeldes, Ueberweisung von Geld an Wohl- thätigkeitsvereine u. s. w. Ob diese Mittel so wirksam sein werden, wie es die von den sozialdemokrattschen Stadtverordneten vorgeschlagenen, aber von der„freisinnigen" Majorität ver- worfenen gewesen wären, wird sich im Laufe des Winters zeigen. Daß mit diesen Mitteln einem Nothstand nicht rechtzeitig gesteuert werden kann, ist schon jetzt und von vornherein für Jeden klar, der den bei der Verwaltung des städtischen Armenwesens und bei den Wohlthätigkeitsvereinen üblichen Büreaukratismus und die vorsichtig- umständliche BeHand- lung der Unterstützungs- Gesuche kennt. Wir haben diese Art der Behandlung schon des öfteren beleuchtet. Neuer- dings ist aber von kompetentester Seite eine noch viel schärfere Be- und Verurtheilung des in der städtischen Armenpflege be- liebten Verfahrens erfolgt, nämlich von Seiten der Armen- kommissions-Vorstcher, welche in dieser Beziehung geradezu als klassische Zeugen gelten können und als Inhaber eines städtischen Ehrenamtes überdies schwerlich in den Verdacht kommen werden, daß sie, dem Beispiel der bösen Sozialdemokraten folgend,„die vortrefflichen Einrichtungen unserer Stadt" nur aus Gehässigkeit und zu Agitationsziveckei, angreifen. In einer Versammlung der Armenkommissions-Vorsteher, deren Protokoll das vom Magistrat herausgegebene„Gemeindeblatt" mittheilt, sind verschiedene Punkte namhaft gemacht worden, welche darauf hindeuten, daß die Langsamkeit, mit welcher die Unterstützungsgesuche erledigt werden,„schon nicht mehr schön" ist, und zwar nicht blos bei der deshalb angegriffenen Armendirektion, sondern, was das Interessanteste dabei ist, auch bei den angreifenden Kommissious-Vorstehern. Die letzteren haben ihre liebe Roth mit den Akten, welche sie nicht mit gewünschter Schnelligkeit von der Armendirektion zugesandt erhalten.„Die Klagen, daß Akten so schwer zu erlangen seien", sagt der Bericht,„werden immer allgemeiner und dringender, weshalb die Armendirektion ersucht wird, Abhilse zu schaffen." Es müßte eigentlich heißen: „endlich Abhilfe zu schaffen"; denn denselben Klagen begegnen wir bereits in der Vorsteher-Versammlung vom Mai vorigen Jahres, wo es in genau demselben dringenden Tone hieß,„hier müsse entschieden Wandel geschaffen werden, um diesen von sämmtlichen Vorstehern empfundenen Uebelstand zu beseitigen." Andererseits ersuchte Herr Magistrats-Assessor Kuno die Armen- kommissionen, die ArmuthSatteste doch recht schleunig auszustellen, damit die Bittsteller vor Schaden bewahrt würden. Auch bei Miethsunterstützungen. wenn Exmission bevorstehe, könnten größere Beträge bewilligt oder deren Bewilligung bei der Armendirektion mitttelst besonderen Berichts beantragt werden, um die betreffenden Personen dem städtischen Obdach fernzuhalten. An einem Spezialfall wurde nachgewiesen, wie durch rechtzeitige Gewährung einer Unterstützung von etwa 30 M. andere Kosten von beinahe 300 M. hätten vermieden werden können. Auch diese Klagen sind bereits in der Mai-Versammlung vorgebracht worden, aber augenscheinlich ebenfalls ohne Erfolg. Angesichts solcher Zustände muß man sich fragen, wie sich denn da der Magistrat die Bekämpfung des Nothstandes„im Rahmen der Wohlthätigkeits- und Armenpflege" eigentlich denkt. Wenn es, laut amtlichem Bericht im„Gemeindedlatt",„häufig noch vor- kommt, daß Gesuche oft nach 2—3 Monaten von einzelnen Armenkommissionen trotz wiederholter Erinnerungen nicht zu er- halten sind", dann hört eben einfach Alles auf. Man wird dabei an das Volkslied„Ach Mutter, Mutter, mich hungert!" erinnert, welches mit den Worten schließt:„Und als das Brot gebacken war, da lag das Kind auf der Todtenbahr'!" Ueber Straßenhygiene in Paris und London bielt am Montag Abend in der deutschen Gesellschaft für öffentliche Ge- sundheitspflege Privatdozent Dr. Th. Weyl. der im Austrage des Berliner Magistrats eine Studienreise nach jenen beiden Städten gemacht hat, einen interessanten Vortrag, in welchem er unter vergleichender Berücksichtigung der Berliner Verhältnisse beson- ders die Fragen des Pflasters, der Bedürfnißanstalten, der Schneeabfuhr und des Verkehrs beleuchtete. Dem Fremden fällt in Paris und London das in großem Maßstabe angewandte Holzpflaster auf. In Paris übernahm 1889 die Stadt selbst die Holzpflasterung, die früher in der Hand von Aktien-Gesellschaften lag. Zu den in Paris bereits»ut Holz gepflasterten Straßen (448 000 Quadratmeter) sollen bis zum Jahre 1393 noch 270 000 Quadratmeter hinzukommen, die auf 800 000 Frcs. veranschlagt sind. In Berlin waren Ende März 1891 im ganzen 70 678 Quadratmeter Holzpflaster vorhanden. Die Besprengung der Straßen geschah in beiden Städten bis vor Kurzem, wie noch jetzt bei uns, mittelst der Sprengwagen, die man dort aber wegen der großen Kosten mehr und mehr auf- giebt. Die neue Methode heißt„k la lance." Aus den Straßen befinden sich in kürzeren Zwischenräumen Hydranten, au die man große, mit einem Ausgußrohr versehene Schläuche spannt. Von einem solchen Hydranten können größere Straßenstrecken aus- kömmlich besprengt werden. Der damit Betraute geht dann zum nächsten Hydranten. schraubt hier seinen Schlauch an und besprengt in gleicher Weise die nächste Strecke. So besorgt ein Mann in derselben Zeit und mit gleicher Wirkung eine Strecke, zu der bei uns zwei Leute, ein Pferd und der schwerfällige Sprengwagen nöthig sind. In der neuesten Zeit benutzt man anstatt der biegsamen Schläuche Metallröhren, die durch Leder- tbeile verbunden sind und auf beräderten Böcken leicht von einem Ort zum andern transportirt werden können. Was die Bedürfniß- anstalten betrifft, so ist die Pariser Art zu tadeln, weil sie vor Allem der Reklame dienen und nicht nachahmenswerth erscheinen; denn meist sind es wenig dezente Dinge, die dort Tag und Nacht durch Transparent sichtbar gemacht werden. Die besten Verhältnisse in diesem Punkte bestehen in London . Dort sieht man keine Bedürfnißanstalten auf der Straße: das wäre dem wenigstens äußerlich zur Schau getragenen Anstandsgefühl der Engländer zuwider. Man hat sie unter dem Erdboden er- richtet, als einmal früher von Unternehmern oberirdische Anstalten erbaut wurden, klagten die Hausbesitzer wegen Entwerthung ihrer Grundstücke und kamen damit durch. So entstanden die„Underground Convenients". Für Benutzung der Anstalt einschließlich Waschtoilette zahlt man 25 Pfg. Aber die Anlagen sind nicht billig: die wohlfeilste kostet 11 900 M., die theuerste(am Picea- dilly-Zirkus) 72 400 M., dieselbe wurde 1391 von 379 742 Per- sonen besucht und brachte einen Ueberschuß von 11 320 M. Die in den ärmsten Gegenden eingerichtete» Anlagen, so im berüch- tigten Whitechapel, sind ganz umsonst. Sämmtliche Anstalten sind mit elektrischem Licht versehen und haben auch sonst viele Bequemlichkeiten. Bezüglich der Müllabsuhr herrschen in Paris die unglaublichsten Zustände. Dagegen muß rühmend hervorgehoben werden, daß es nicht, wie bei uns, gestattet ist, den Müll zu beliebiger Zeit abzuholen. Auch gegen einen zweiten Punkt wandte sich der Vortragende, gegen die Art, wie bei uns die Straßen gefegt werden. In Paris und London kommt es nie vor, daß eine Straße gefegt wird, wenn sie nicht zuvor hin« reichend gesprengt worden ist. Nun leitete der Vortrag zur Schnee-Abfuhr über, die in Berlin ungeheure Summen verschlingt. Die letzte Rechnung betrug 380 000 M. Die Pariser und Londoner haben es billiger. Die an der Seine und Themse ge- legenen Theile werden dadurch gesäubert, daß man Schnee und Schneewasser direkt in die Flüsse befördert; in den anderen Stadtheilen benutzt man die senkrechten, zur Kanalisation führenden Schachte, in die zwei Mann hinabsteigen, um mit Kratzen die hineingeworfenen Massen in der Richtung des Kanal- stroms abzuleiten. Verstopfungen der Röhren sind nirgends vor- gekommen, zumal darin«ine ziemlich gleichmäßige Temperatur von 8 bis 10 Gr. herrscht und die Reinigung in einer Zeit vorgenommen wird, wo von den Häusern möglichst viel warmes Wasser in die Leitungsröhren fließt. Bei uns ist allerdings bis jetzt ein Abladen der Schneemassen, die immer mit Erde vermischt sind, in die Spree nicht möglich; denn diese gehört dem Fiskus, der das der Stadt- Verwaltung nicht erlauben würde, da das Flußbett öfter ge- baggert werden müßte. Schließlich gab der Bortragende noch über den Verkehr in London folgende interessanten Daten: Die Riefenstadt besitzt mit ihren Vorstädten 5 600 000 Einwohner; diese Zahl wächst täglich um 300, die Häuser vermehren sich täglich um 24. Man hat ausgerechnet, daß jeder dritte Londoner einmal am Tage nach der City, dem Herzen Londons , sich be- geben muß. So verweilen dann in dem engen Stadttheil, wo nur 33 000 Menschen wohnen, zur Geschäftszeit nicht weniger als 750 000, und 350 000 halten sich dort den ganzen Tag auf. Dieser außerordentliche Verkehr wird durch dre innegehaltene Ordnung vollkommen beherrscht. Hierzu trägt vor allen Dingen die streng durchgeführte Regel bei:„Links gehen und fahren!" (In ganz England weicht man links aus, auf dem Kontinent be- kanntlich rechts.) Die Straßen sind durch in der Mitte auf- gereihte Laternen, Droschken, kleine Erfrischungsstcllen für die Kutscher, durch Feuerwehr und ihre Requisiten streng in eine rechte und eine linke Hälfte getheilt, so daß ein unregelmäßiges Kreuzen der Straße durch ein Fuhrwerk gar nicht geschehen kann. Der Polizei spendet einer unserer Abonnenten eitel Lob, indem er uns schreibt: Als ich am Sonnabend Abend zwischen 5 und 6 Uhr vor der städtischen Gasanstalt vorüberging und die Prenzlauer Chaussee passtren wollte, wurde ich durch ein Kohlenfuhrwerk aufgehalten, welches nur sehr mühsam vorwärts konnte. Als ich einige Augenblicke stehen blieb, hörte ich ein Wimmern und sah etwa 30 Schritt von mir entfernt auf der Chaussee einen Menschen sich umherwälzen. Ich eilte hinzu und frug einen Jungen, der sich mit dem Stöhnenden zu schaffen machte, was denn los sei. Ich erhielt die Antwort, der Mann hätte das Kohlenfuhrwerk schieben helfen, sei dabei ausgeglitten, hingefallen und überfahren worden. Der Verwundete war im Begriff ge- wesen, nach dem Asyl zu gehen, um dort zu nächtigen und hatte sich bei dem Fuhrwerke behilflich gemacht, weil er gesehen hatte. daß die Pferde durch den hohen Schnee nicht mehr so recht vor» wärts konnten. Ich habe nun ganz deutlich gesehen, daß noch drei Mann bei dem Fuhrwerk waren, der Kutscher , ein Kohlen- träger und noch ein Mann. Diese fuhren ruhig ihres Weges weiter und ließen den Hilflosen stöhnend im Schnee liegen. Das war die Dankbarkeit dafür, daß dieser geholfen hatte, den Wagen vorwärts zu bringen. Wie ich mich bald überzeugte, waren dem armen Menschen die Räder des schweren Kohlen- wagens über einen Fuß gegangen, welcher zerbrochen und zer- rädert war. Vor allen Dmgen hoben wir den Verunglückten auf, brachten ihn von der Chaussee weg und lehnten ihn mit dem Rücken gegen einen Baum. Ich versprach, auf alle Fälle Hilfe herbeizuschaffen und lies nach dem nächsten Polizeibureau, Ecke Wörther- Platz und Weißenburger- straße. Der Lieutenant war gerade auf der Wache, und ihm meldete ich den Vorfall. Ohne Verzug beorderte derselbe einen Wachtmeister und einen Schutzmann, mit mir zu gehen und für den Verunglückten zu sorgen, sowie den Sachverhalt festzustellen. Der Wachtmeister wollte erst noch einige Worte schreiben, aber der Lieutenant duldete daS nicht, das habe bis morgen Zeit, der arme Verunglückte gehe vor» also: Vor- wärts, sofort zu ihm! In einer Minute waren die Leute an- gezogen, und im Lausschritt ging's nach der von mir bezeichneten Stelle. Ich bin gewiß kein großer Freund von der Polizei ans Gründen, die ich hier nicht näher erörtern will. Aber das Vor- gehen des Lieutenants hat mir so gefallen, daß ich mich ver- pflichtet halte, Ihnen den Vorfall mitzutheilen. Ich weiß, daß Sie nicht nur zu tadeln verstehen, sondern auch mit Ihrer Anerkennung nicht zurückhalten, wo dieselbe am Platze ist. Die Polizeimannschaften hatten denn auch in kürzester Zeit dafür Sorge getragen, daß der Verunglückte nach dem Siechenhaus transportirt wurde, wo die Aerzte sofort ihr Möglichstes thaten, um einen regelrechten Verband anzulegen und die Schmerzen zu lindern. Für das Leben des Vernnglückten sollen Gefahren nicht bestehen, vielleicht heilt auch der Beinbruch so aus, daß derselbe vor dem traurigen Schicksal bewahrt bleibt, für den Rest seines Lebens als Krüppel einherhinken zu müssen. Ich verzichte auf jeden Dank, denn ich habe nur gethan, was die Menschlich- keit erforderte, derselbe gebührt also in erster Linie dem folizeilieutenant, welcher die Hilfeleistung so energisch in die and nahm. Ueber Berlin als kosmopolitische Stadt giebt die neueste Nummer der„Statistischen Korrespondenz" an der Hand des Volkszählungs- Ergebnisses vom I.Dezember 1890 Auskunft. Danach leben in Berlin jetzt Reichs- Ausländer im Ganzen 17 704 Personen, davon 10 558 männlich und 7146 weiblich. Bis auf etwa 1500 sind sie sämmtlich Europäer. An ihrer Spitze marschirt Oesterreich in runder Zahl 7300 Seelen, darunter 4500 Männer, eine sehr stattliche Kolonie, die auch in zahlreichen Verbindungen und Wohlthätigkeitsanstalten sich ineinanderschließt und verstärkt wird durch 900 Ungarn . Folgen wir der politischen Konstellation und erwähnen zunächst Italien mit 560 Seelen (440 Männer) und die handelsbefreundete Schweiz mit 740 Seelen Als eine andere Gruppe lassen sich Russen und s sammenfassen. Die ersteren sind immer noch sehr statt! 1358 Männer und 1053 Frauen, während Frankreich uns am 1. Dezember 1S90nur400Stadtgenossenstellt-. HollandmitS00 Seelen hat Belgien überflügelt. Letzteres hat in Berlin nur 160 Staats- angehörige. Dagegen ist die Zahl der Skandinavier im Zu- nehmen begriffen. Wir haben in unserer Mitte ständig 650 Dänen. 220 Norweger und nahezu 600 Schweden . Halbasien ist merk- würdiger Wels« nicht so stark vertreten, als man allgemein glaubte: 5 Bulgaren . 120 Bürger der europäischen Türkei . 240 Rumänen und 12 Serben, das ist Alles. Spanien und ortugal sind mit zusammen 75 Seelen vertreten und nur drei tasten mit gar keiner Seele: Liechtenstein , von dem es nicht wundern darf, denn es kann wahrscheinlich Niemanden entbehren, Bosnie». das uns nur hin und wieder etwas von seiner Schweine- zucht zuwendet, ohne uns mit seinen Bürgern in nähere Be- rührung zu bringen, und Monaco : Desto fleißiger gehen manche Berliner dorthin. Bleibt von Europa noch Großbritannien zu er- wähnen, als Uebergang zu den Amerikanern. Wir haben also nach der letzten Zählung 520 Engländer und 653 Engländerinnen in Berlin — das weibliche Uebergewicht erklärt sich durd, die Vorliebe für englische Gouvernanten. Die Amerikaner sind zahl- Franzosen ttlich vertreten, »u-
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