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1. Beilage zumVorwärts" Berliner VoMlatt. Ur. 47. Donnerstag, den 33. Februar 1893. 9. Jahrg. Ans Italien. *) 19. Februar 1892, Fortsetzung des Berichtes über den Maiprozeß in Rom . Die Angeklagten Conti und Mascardi sind nach dem 1. Mai in ihren Wohnungen verhaftet worden. Sie beklagen sich über die Brutalität, mit der nicht nur sie selbst bei der Berhaslung behandelt wurden, die unter Leitung von Geheimpolizisten teschah, sondern die Rohheit erstreckte sich auch auf die Art, wie dachen, die gar nichts mit der Anklage zu thun haben, in ihrer Wohnung mit Beschlag belegt wurden. So wurde Mascardi eine Uhr abgenommen. die sich bis heute noch nicht wiedergefunden. Der Vertheidiger Martini verlangt, daß die in Beschlag genommenen Gegenstände hier vorgezeigt werden. Der Präsident läßt das Bündel öffnen und es findet sich darunter, außer einer alten verrosteten Pistole ein rother Fez mit Troddel, ferner zwei kleine Säbel aus Blech. Der Angeklagte Mascardi ruft: Das sind Kindersäbel l sie gehören meinen kleinen Knaben, die noch heute weinen, daß man sie ihnen genommen.(Bewegung und Heiterkeit.) Ter Verlheidiger Martini sagt: Dies Alles sind Dinge, un würdig eines Kulturvolkes! Als Zeugen erscheinen der Hauptagent der Polizei Millen und ein ihm Untergebener Brigadier Pietro Varoni. Sie hatten die Anarchisten in Rom zu überwachen und über ihre Versammlungen zu berichten. Etwas Bestimmtes über Unterscheidungsmerkmale der Anarchisten- von anderen Arbciterversammlungen und über Beschlüsse solcher Versammlungen können beide nicht angeben. Auf die An zeige des Varoni ist unter Andern der Angeklagte Melinelli nach- träglich verhastet worden, als Einer, der am Tumult vom 1. Mai Theil genommen. Auf Andringen der Vertheidigung giebt der Zeuge zu, daß diese Angabe ihm von einem untergebenen Agenten zugekommen sei. Auch der Verhaftete Agricola ist auf seine An- zeige verhastet worden und zwar als Anarchist wegen Betheiligung an einem Verein der Maurer. Die Vertheidigung weist nach, daß diese Vereinigung rein fachmännisch sei und nicht das Ge- ringste mit dem 1. Mai oder dem Anarchismus zu thun habe. Von dem vielgenannten Mezzetti giebt der Zeuge zu. daß er ihn als Mitglied von Anarchisten� Versammlungen kenne; von der Eigenschaft des Mezzetti als Ge> hcimagent der Quästur weiß er nichts. Die Vertheidiger von Agricola und SMinelli, welche letztere durch diesen Zeugen seit 10 Monaten im Gefängniß sind, erheben sich und verlangen noch mals einen Beschluß des Gerichtshofes, daß alle auch die untersten und letzten Polizei-Agenten, auf deren Angaben allein sich die hier erschienenen Zeugen stützen, in öffentlicher Audienz vor geladen werden. Der öffentliche Ankläger widersetzt sich erregt diesem Verlangen und der Gerichtshof weist nach kurzer Berathung den Antrag der Vertheidigung zurück. In der folgenden Sitzung erscheint als Zeuge der Polizei Agent Giovanni Rossini. Von dem Vorhandensein eines bestimmten anarchistischen Bundes kann er nichts angeben. Er war beaustragt, am 1. Mai insbesondere Cipriani und das Komitee zu überwachen. Er erklärt, gesehen zu haben, wie der Angeklagte Binaco Steine warf. Brnaco ruft auS dem Käfig: Das ist eine Lüge, Du Kanaille! Der Präsident läutet heftig und droht, de» Angeklagten abführen zu lassen. Der Zeuge giebt zu, daß er außer Binaco durch seine Angaben die An- geklagten Belloni, Cesari, Trabalza, Latini, Savaia und Meli nelli habe verhaften lassen, er selbst aber hat an diesen Ver Haftungen nicht Theil genommen.(Bewegung.) Die Vertheidigung bezweifelt, ob der Zeuge alle die durch seine Angabe Verhafteten auch nur persönlich gekannt habe. Im Verlaus des Verhörs erklärt Zeuge, auch den Angeklagten Troca, den er sehr gut kenne, überwacht zu haben. Es erhebt sich ein Angeklagter aus dem Käfig und ruft dem Zeugen zu: Da Ihr so gute Personenkenntniß habt, so kennt Ihr vielleicht auch mich? Der Zeuge antwortet: Ja ge- wiß, Ihr seid Mancini! Bravo! ruft der Angeklagte. Herr Präsident, ich bin eben der Troca, den dieser Polizei-Agent über- wacht hat und den er so genau kennt!(Heiterkcit und Bewegung. Es macht sich eine erregte Stimmung im ganzen Saale bemerkbar.) Als nächster Zeuge tritt der Polizei-Aaent Camilla Jriani vor. Durch ihn wurde am I. Mai aus dem Platze der Angeklagte Angiuli verhaftet und mit diesem zugleich der berüchtigte Mezzetti. Daß letzterer Geheimagent der Quästur war und später frei- gelassen wurde, weiß Zeuge Nicht. Er erklärt, gesehen zu haben, wie Angiuli aus dem Platze mit einem Messer bewaffnet, einen Stoß gegen eine Wache mit Namen Vincenzo Onorato geführt und ihm die Uniform zerschnitten habe. Auf die Anfrage des Präsidenten erklärt Angeklagter Angiuli diese Aussage des Polizei- agenten als eine grobe Lüge; aber das Schönste sei. diese Aus- inge sei ganz neu und ganz verschieden von der Aussage desselben Igenten in der Voruntersuchung. Derselbe Jiriani hatte auf dem Platz den Angeklagten Scutilli verhaften lassen. Er erklärt heute, die Verhaftung sei geschehen, weil Scutilli revolutionäre Rufe ausgestoßen habe. Auf die Anfrage des Vertheidigers Martini, ob Scutilli vielleicht Steine geworfen, erwidert der beeidete Zeuge: Nein! Die Verhaftung erfolgte nur wegen der Rufe. Darauf dringt die Vertheidigung auf Verlesung des Protokolls der Vor- Untersuchung. Der Präsident läßt die früheren Aussagen von Jriani aus dem beglaubigten und vom Zeugen unterschriebenen Protokoll verlesen, und es geht daraus hervor, daß Jriani er« Üärt hat, Angiuli und Scutelli feie» von«hm verhastet worden, »veil sie Steine geworfen haben. Eine große Alisregung be- inächtigt sich hieraus des Publikums im Saal. Die Vertheidi- gung verlangt mit erregten Worten vom öffentlichen Ankläger die sofortige Verhaftung des Agenten wegen falschen Zeugnisses. Der östenttiche Ankläger Vico be- streitet s-lne gesetzliche Verpslichtung zu solchem Vor- gehen Die Vertheidigung verlangt nun einen Beschluß des Gerichtshofes. Bevor dieser sich zurückzieht, ruft der Zeuge: Ich erkläre, daß ich mich nicht mehr genau der Sache ermnere! Der Gerichtshof verkündet nach einer Berathung von 20 Minuten den Beschluß, daß die Widersprüche in den Aussagen des Zeugen »war beklagenswerth seien; mit Rücksicht auf die letzte Erklärung des Zeugen, daß er sich nicht mehr genau erinnern könne. fei von einem Vorgehen gegen ihn Abstand zu nehmen und die Ver- Handlung fortzusetzen. Laute Rufe der Entrüstung erfolgen hierauf von Seiten der Angeklagten. Bardi und Crprian« rufen: Wir lassen uns nicht mehr vertheidigen. Wir ver- theidigen uns nicht mehr! Dies ist kein Gerichtshof! Dies«st keine Gerechtigkeit! Es ist ein Possenspiel! Die Vertheidiger suchen zu beruhigen. Der Präsident läutet heftig, und der offent- liche Ankläger, Staatsanivalt Vico, fordert mit gellender Stimme den Präsidenten auf, die protestirenden Angeklagten abführen und den Saal räumen zu lassen. Der Präsident erklärt die Sitzung für aufgehoben und bis morgen vertagt. S. Nr. 33. 38 und 39. Vttrlsnrsnkslrevichke. Deutscher Reichstag . 179. Sitzung vom 24. Februar, 1 Uhr. Am Tische des Bundesraths: von Bötticher, vcn M a l tz a h n.> Präsident von Levetzow: Heute vor 25 Jahren, am 24. Februar 1367, wurde der erste norddeutsche konstituirende Reichstag eröffnet. Ich beschränke mich darauf, hieran zu er- innern und bin überzeugt, daß meine Bemerkung patriotische Ge- fühle und Erinnerungen wachrufen wird.(Zustimmung.) Hinzu- fügen ,vill ich noch, daß von den gegenwärtigen Mitgliedern des Hauses fünf, nämlich die Herren Abgg. Dr. Bennigsen, Graf von Honipefch, Richter, Freiherr von Stumm und Freiherr von Unruhe-Bomst an der Eröffnungssitzung vor 25 Jahren theilgenommen haben. Unmittelbar darauf sind noch in das taus eingetreten die Abgg. Bebel(dessen Platz mit einem lumenstrauß geschmückt ist) am 2. März, von Forckenbeck am 12. März und Dr. Reichensperaer am 5. April 1867, sodaß aus jener ersten Zeit gegenwärtig 8 Abgeordnete noch Mitglieder dieses Hauses sind. Von dem Beamtenpersonal des Hauses, also Beamten und Unterbeamten aus jener Zeit, sind heute nochimHausebeschäftigt: Zunächst der Vorsteher des stenographischen Bureaus, Herr Kanzleirath Schallopp, der damals Stenograph war, der Bote» meister Riftow und ein Hilfs-Kanzleidiener Koch. So sehr hat sich die Sache seit 25 Jahren verändert! Auf der Tagesordnung steht die zweite Berathung des von den sozialdemokratischen Abgeordneten Auer und Genossen vor- gelegten Gesetzentwurfes, betreffend die Abänderung des Zoll tarif-Gesetzes vom 15. Juli 1879(Aufhebung der Zölle für Getreide, Fleisch und Vieh). Abg. Bock(Soz.): Wir haben für die Handelsverträge gestimmt, weil sie eine Ermäßigung der Kornzolle und andere Verkehrserleichterungen brachten. Trotzdem können wir den unausgesetzten Kamps auf Beseitigung aller Zölle auf Nahrungs mittel nicht aufgeben und müssen daher auch bei der gegen- wältigen Situation unseren Antrag aufrecht erhalten. Noch vor einem Jahre schien es aussichtslos, an den Zöllen rütteln zu wollen; der Reichskanzler rühmte sich, er werde gegen den Strom schwimmen, er hat es aber leider mit geringen, Erfolg gethan, wie es jedem geht, der gegen einen Strom schwimmt: er schwimmt, aber er kommt nicht vorwärts. Wir sind darauf gefaßt, von der rechten Seite des Hauses dieselben Gründe gegen die Aufhebung der Zölle zu hören, die schon gegen ihre Ermäßigung vor- gebracht wurden. Sogar der Reichskanzler leugnete damals einen Nothstand, und Ober- Bürgermeister von Forckenbeck sekundirte ihm. Herr von Huene aber sagte: nur nicht ängst lich, noch haben wir die Macht, und wir werden von ihr Gebrauch zu machen wissen. Das ist offen und ehrlich, und ich wünschte, daß seine Freunde im Lande diesen Machtstandpunkt vertreten möchten; wir erkennen ihn an, aber haben für unferen Antrag Wahrheit und Recht auf unserer Seite. Ein wirklicher. grausamer Nothstand ist in vielen Gegenden vorhanden und im Zunehmen begriffen, wie zahlreiche unverdächtige Zeitungsberichte beweisen. Deshalb sind wir vollberechtigt, unseren Antrag aus recht zu erhalten, auch trotz des Einwandes, daß wir die Wirkung der Zollermäßigungen erst hätten abwarten sollen. Wenn wir von Nothstand sprechen, nennt man das sozialdemokratische Hetze. Aber auch Gegner, auch Landräthe, die, wie z. B. der für den Kreis Johannisburg, Aufrufe erlassen, geben ihn und grauen Haftes Elend zu. Die Gctreidezölle haben der Landwirlhschaft und ihren Arbeitern nicht geholfen, und in gewerblichen Kreisen ist es nicht besser. Im Gothaischen Wahlkreise sind Löhne von 57 Mark pro Woche bei vierzehn- bis fünfzehnstündiger Arbeitszeit konstatirt worden, und zwar von nationalliberaler Seite. Mit de» Getreidepreisen steigen auch die der anderen Nahrungsmittel, besonders der Kartoffeln. In den letzten Debatten haben die Agrarier schon nicht mehr die alten Redensarten vor- gebracht, wie: das Ausland trägt den Zoll, oder: die Bäcker sind an der Vertheuerung schuld. Der Zoll vertheuert vielmehr die Lebensmittel genau um den Betrag, der an der Grenze erhoben wird. Das beweisen die Klagen und Petitionen der Bäcker und Fleischer von der böhmischen Grenze: der Staat solle dagegen einschreiten, daß die arnien Leute in unseren Grenzdistrikten sich das billige Brot und Fleisch von jenseits der Grenze holen. Der Unterschied beträgt nach einem nicht sozialdemokratischen Blatte, für sechs Pfund Mehl 30 Pf., für sechs Pfund Brot 20 Pf., für zwei Kilo Speck oder Fleisch 40 Pf. Dabei blüht der Schmuggel, der stete treue Begleiter der Schutzzöllner, alsAusdruck der Empörung des arme» Volkes gegen die Gesetze, welche unwissende Regierungen ihm auserlegen. Eine weitere Folge der Schutzzölle ist die Zunahme des Pserdefleischkonsums. Zwar haben fich die Herren vor vier Monaten das Vergnügen gemacht, in Berlin ein großes Roßfleisch- essen zu veranstalten.(Gelächter rechts.) Ich meine nicht das Roßleber-Diner", an welches Sie wohl im Augenblick denken, sondern das Roßfleischessen im Zentralhotel, an welchem sich Millionäre betheiligt haben, um dem armen Volke zu beweisen, daß selbst reiche Leute, auch Agrarier, einmal Roßfleisch essen können. Allerdings die Speisekarte war auch danach. Der Champagner hat auch seine Wirkung gethan, und wenn das arme Volk das alle Tage zu Mittag hätte, so könnten wir heute zum Theil auf unseren Antrag verzichten. Eine Reihe städtischer Behörden läßt sich von den Kommunen hohe Kredite bewilligen, um die Roth zu lindern. I» Dresden mußten zwei neue Gerichts- Vollzieher angestellt werde», iveil die Zahl der Pfändungen sich um 7000 vermehrt hat. Verschiedene Lehrer haben in ihren Schulen konstatirt die Nachricht stammt nicht aus unserer Presse. daß von 60 Schülern 15 hungrig in die Schule geschickt werden. Die Zunahme'der Eigenthumsverbrechen, der Verrohung, steht mit den hohen Lebensmittelpreisen im engsten Zusammen- hange. Roth ,st immer die Mutter der Verbrechen, und es ist lehrreich für die Herren Agrarier, daß gerade in ihrer Domäne, ,n Ost- und Westpreußen . Pommern und Schlesien , in den letzten Jahren der größte Prozentsatz an Diebstählen vorgekommen ist, d,s zu 50 pCt.. während er im Westen bis auf 10 pCt. in West- salen fällt. Die Gefängnisse können die Gefangenen gar nicht mehr fassen. Bei der Landwirthschaft ist am ivenigsten von einer Nothlage die Rede. Sie erinnern sich wohl Alle der Bauern- Hochzeit im Brandenburgischen, von der letzthin die Zeitungen berichteten. Ueber die beiden moralisch verunglückten Pastoren in Schleswig-Holstein schrieb der Stöcker'sche.Reichsbote": Beide Pastoren wurden durch das üppige Leben der reichen Bauern ihrer Gemeinden in Versuchung geführt.(Heiterkeit bei den Sozial- demokraten.) Das zeugt auch nicht von grausamer Roth der Bauern. Vor kurzer Zeit ging durch die Presse die Schilderung einer Bauernhochzeit, auf welcher 170 Theilnehmer ein Rind, mehrere Schweine und viele Zentner Karpfen ver- zehrten. Der Pachtertrag der preußischen Domänen hat sich in den letzten 30 Jahren um das Dreifache erhöht; beweist das alles einen landwirthschaftlichen Nothstand? Die Lage der Arbeiter aber ist durch die landwirthschaftlichen Zölle in keiner Weise verbessert worden, wie man in Aussicht stellte. Der Reichs- kanzler von Caprivi hat besonders betont, daß der Staat an der Familie des landwirthschaftlichen Arbeiters einen festen Unter. grund habe; aber wenn man mit eigenen Augen zusieht» wird man finden, daß diese Familien nicht geeignet sind, die Zukunft des Staates zu garantiren. Im Gothaischen und dem angrenzen« den Bezirk der Provinz Sachsen beträgt der Tagelohn für ver- heirathete Leute 40 Pf. und die Kost, in einem Dorfe nur 30 Pf. und Kost. In der Ziegenhalser Gegend wird den Knechten der horrende Lohn von 66 M.pro Jahr gezahlt, außerdem noch einige Mark zu Fleisch und Butter. Mit der Ermäßigung der Kornzölle von 5 M. auf 3,50 M. haben sich die Agrarier nicht sehr weh gethan. Ich möchte den Herren vom Zentrum dringend ins Gewissen reden, daß sie sich mit dem Stifter der christlichen Religion aus« einandersetzen, welcher der Zöllnerei sehr feindlich gesinnt war. Man hat uns früher in Aussicht gestellt, daß, wenn wir Sozial- demokraten auf das Land gingen, die Bauern uns schon heim- leuchten würden. Aber sie begreifen sehr gut, daß ihre Lage durch Ihre Mittel nicht nennensiverth verbessert würde. Gerade die kleinen Bauern haben mir ohne Unterschied erklärt, daß sie von den Getreidezöllen keinm Nutzen hätten, weil sie kein Getreide verkaufen könnten. Ein Bauer, der 23 Acker Land bewirthschaftet, theilte mir mit, daß er nur bei günstiger Ernte einige Zentner Getreide zu verkaufen hätte. Die Zahl der Bauern in Deutschland , die 28 Acker Land besitzen, ist aber verschwindend klein. Die Einfuhr von ausländischem Getreide hat trotz der Zölle nicht ab-, sondern zugenommen, die Korn- produktton in Deutschland tritt immer mehr in den Hintergrund. Für die Zölle auf amerikanischen Speck, auf Fett, Käse, Butter, Oel haben Sie dieselben Gründe ins Feld geführt wie für die Getreidezölle, Fürst Bismarck wollte die deutschen Arbeiter vor dem amerikanischen Speck bewahren, weil der deutsche Speck schmackhafter sei. Er brachte es dahin, daß der deutsche Arbeiter überhaupt keinen Speck mehr essen konnte. Das Verbot der Ein- fuhr amerikanischen Specks ist in neuester Zeit aufgehoben, aber nicht der Zoll auf Leinöl und Rüböl, welches im Erzgebirge , in Thüringen und Oberbayern ganz besonders als Zusatz zur Km- tostel dient. Dort können die armen Leute sich überhaupt nur noch Kartoffeln anschaffen und vielleicht für 5 Pfg. Rüböl zu der Mahlzeit für e,ne ganze Familie. Wenn die Agrarier diese Mahlzeiten ansehen würden und in ihnen noch ei», Gewissen steckt, dann würden sie auf ihre Einnahmen aus den Zöllen ver- zichten. In Berlin sind in letzter Zeit mehrfach Leute plötz- lich Hungers gestorben, und eine grobe Zahl von Leuten stirbt langsam Hungers, weil sie infolge der theuren Nahrungs- mittel thatsächlich jeden Tag Hunger leiden müssen. Viele der terren im Reichstage kennen die Roth des Landes nicht. Auch ollege Richter, der schon in seinen Zukunftsbildern seuie Unkennt- niß der thatsächlichen Verhältnisse bewiesen hat, hat gezeigt, daß er die Roth des Volkes nicht kennt. Er führte aus, daß die Miß- ernte in Kartoffeln so groß sei, daß vielfach Kartoffeln zum Konsum kommen würden, welche sonst nur als Schweinesutter Verwendung fänden. Dieser vom Abg. Richter erst befürchtete Zustand besteht seit einer Reihe von Jahre,«; in zahlreichen Familien, die trotz des Nothstandes noch ein Schwein zu halten demüht sind, werden aus dem Topf Kartoffeln, der die Mittags- mahlzeit der Familie bildet, die kleinen für das Schwein heraus- gesucht. Herr Richter kennt das eben aus eigener Anschauung nicht. Die Herren hier sind im Allgemeinen von frühester Jugend an nicht in der Lage gewesen, einmal hungern zu müssen, daher sind sie auch nicht in der Lage, hier im Reichstag die Roth und das Elend des Volkes so zu kennzeichnen, wie sie thatsächlich bestehen. Industrielle Unternehmungen freilich, die bis zu 40 pCt. Divi- dende gebe», lassen die Bethelligten keine Roth leiden. Schutz- zöllnerische Blätter selbst schreiben, die Handelsverträge könnten keinen Schaden bringen, 1879 habe man sein Schäfchen ins Trockene gebracht. Das arme Volk leidet aber sehr unter den Zöllen, z. B. die Nothleidenden, die von der Gemeinde Magde- bürg täglich 1,40 M. beziehen. Die Regierung erklärt immer. für die Bessernng des Familienlebens eintreten zu wollen; sie kann es am besten durch Abschaffung der Lebensmittel-Zölle. Alle. die ein Herz für das Wohl des Volkes haben, bitte ich, unserem Antrage zuzustimmen.(Beifall bei den Sozialdemokraten.) Abg. von Manteuffel(dk.): Ich bitte den Antrag ab- zulehnen, weil wir uns bei Berathung der Handelsverträge ein- gehend über die ganze Frage unterhalten haben. Ich will aber doch auf einige Ungeheuerlichkeiten und Unglaublichkeiten ein- geben, welche der Vorredner vorgebracht hat. Die Handels- vertrage bringen keine Beseitigung der Schutzzöllneeei, sondern wir hoffen, daß der Schutz für die Landwirlhschaft bestehen bleiben wird, denn ohne die Landwirthschaft würde der Staat bald Schaden leiden.(Zuslinimung rechts.) Die einzelnen Mittheilungen des Vorredners über den Nothstand lassen sich nicht kontrolliren. Der Nothstand ist«ine Folge der schlechten Ernte, aber nicht eine Folge der Gctreidezölle. Der Vorredner hat nicht einmal den Beweis geliefert, daß durch die Beseitigung der Gelreidezölle das Brot billiger wird. Das Roßfleischessen ist doch kein Beweis für den Nothstand. Daß die Löhne der ländlichen Arbeiter nicht gestiegen sind, ist unwahr; ich behaupte, sie sind mit allen Zuwendungen in Naturalien ,c. um 50 pCt. gesttegen.(Widerspruch links.) Nicht nur wenige Personen haben Vortheile von den Getreidezöllen, sondern große Kreise der Bevölkerung; denn wenn die Landwirlhschaft kein Geld hat, leidet Handwerk, Handel und Industrie. Von der Aufhebung der Getreidezölle haben aber nur sehr wenige Per- sonen Vortheil und das sind sozialdemokratische Agitatoren. (Zustimmung rechts; ironisches Bravo bei den Sozialdemokraten.), Abg. Buhl(natl.) bestreitet, daß die kleineren Grundbesitzer f gar keinen Vortheil von den Getreidezöllen haben; er habe sich namentlich in Süddeutschland darüber unterrichtet und ermittelt daß die kleineren Besitzer«inen großen Vortheil von den Getreidezöllen haben. Die hohen Kartoffelpreise sind nicht mit den Getreidezöllen in Zusammenhang zu bringen, ebenso wenig kann man den Nothstand in den Weberbezirken des Eulen- gebirgeS und so werter mit Getreidezöllen zusammenbringen. Ich werde gegen den Antrag Auer stimmen und meine Freunde mrt mw. Ich habe für die Handelsverträge gestiinmt, aber in der Hoffnung, daß man zum Gedeihen der Landwirthschaft den noch verbleibenden Schutz ausrecht erhalten wird. Abg. Graf Behr: Was wollen die Sozialdemokraten mit ihrem Antrage eigentlich erreichen? Einen Erfolg können sie doch garnicht erzielen. Ich will auf die Einzelheiten nicht ein- gehen. Was soll man denn dazu sagen, daß Sie behaupten, die Löhne sind nicht gestiegen? Das ist eine Verneinung offenkundiger Thatsachen. Daß die Getreidepreise nicht von den Zöllen ab- hängen, ist oft genug nachgewiesen; wer sich nicht überzeugen lassen will, mit dem kann man nicht mehr verhandeln. Die Sozialdemokraten wollen nur die landwirthschaftlichen Zölle auf- heben, nach Ihren Anschauungen müssen Sie doch auch die in- dustriellen Schutzzölle aufheben!(Zustimmung bei den Sozial- demokraten.) Warum bringen Sie nicht einen dahingehenden Antrag ein? Abg. Bamberger (dfr.): Im Auftrage meiner Freunde er- kläre ich, daß wir für den Antrag stimmen werden. Wir stehen wie bei Einbringung des Antrages auf dem Boden desselben Daß er heute erst zur Berathung und Abstimmung kommt, ist eine Eigenthümlichkeit unserer Geschäftsordnung, sonst würden die Sozialdemokraten wohl kaum den Antrag für so dringend gehalten haben, ihn jetzt einzubringen. Sollte der Antrag zur dritten Lesung kommen, so würden wir auf die Modalitäten zurückkommen, die wir in unserem Antrag, der zugleich mit