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gründete dieses seltsame Urtheil damit, daß die Feuilleton- Ausgabe infolge der Billigkeit der Zeitungen dem großen Publikum zugänglich sei, wohingegen die theuere Buch-Aus- gäbe nur von Wenigen und Gebildeten gekauft werden könne, auf welche die Lektüre nicht demoralisirend wirke. Der Pariser Gerichtshof ist also der Meinung, daß an der zahlungsfähigen Moral der Reichen undGebildeten" nichts mehr zu verderben ist, daß aber das arme und ungebildete Volk eine Moral habe, an der noch etwas verdorben wer- den kann. Stimmt übrigens so ziemlich. In ähnlicher Weise, wenn auch nicht mit ganz so scharfer nnsreiwilliger Spitze, wurde seiner Zeit unter der Herrschaft des Bis- marck'schcn Sozialistengesetzes jede billige Schrift über die soziale Frage verboten, während dasKapital" von Marx, nicht seines Inhalts der ja denkbar gefährlich sondern seiner Theuerkeit halber unbehelligt blieb. Aus Belgien  . Mit rührender Einhelligkeit gehen die europäischen   Regierungen gegen die Kundgebungen der Arbeiter vor. In Preußen, in Italien  , in Frankreich  , in Belgien   ist dieselbe Walze auf der Leier. Jetzt ist auch rn Lüttich   der Umzug der Arbeiter für den l. Mai ver- boten worden. Ter am 17. April abgehaltene Kongreß der fortschrittlichen Föderation des Verbandes der Links- liberalen beschloß, daß die Fortschrittspartei mit den Demo- kratcn an der Mai-Demonstration zu Gunsten eines Normal- Arbeitstages theilnehmen soll. Er sprach sich serner dafür aus, daß sich alle progressistischen Kandidaten für die nächsten Wahlen zur Annahme des allgemeinen Wahlrechts als Grund- Prinzips verpflichten muffen. Die bulgarische Note. Am 15. April hat die bul- garische Regierung eine sehr energische Note an die hohe Pforte gerrchtet. Herr Stambulow liest der Türkei  , die als Suzerän über Bulaarlen die Oberhoheit hat, gründlich den Text. Den türkischen Padischah schlägt, den russischen Zaren meint man. Es heißt in dem mit Fraktur geschriebenen Schriftstück, es stehe fest, daß die bulgarischen Emigranten in Rußland   nicht blos ein Asyl und Straf- losigkeit, sondern auch Unterstützungen finden, die sie in den Stand setzen, Komplotte zu schmieden und Attentate gegen die bulgarischen Staatsmänner vorzubereiten. Alle diese Thatsachen hätten die bulgarische Regierung sehr peinlich berührt und in Bulgarien   einen bedauerlichen Eindruck ge- macht. Sie reihten sich zahlreichen früheren Vorgängen an, bei welchen die russische   Regierung stets ihre wohlwollenden Gesinnungen für die bulgarischen Emigranten und ihre feindselige Haltung gegen die bulgarische Regierung offen- barte. Die Note erinnert an die nach der Ermordung Bel- tschews von Zankow, Rizow, Stantschew, Grueio, Benderew und Luzkanow an Stambulow gerichteten Briefe, in welchen jene erklärten, sie würden weitere Attentate in's Werk setzen, an das Verbleiben Gruews und Benderews in der russischen Armee an die JahreSpension Zankows und an den Empfang Stantschews durch den Minister Giers. Es sei serner eine bekannte Thatsache, daß alle bulgarischen Emigranten, welche sich in der Türkei  , in Serbien   und in anderen Staaten auf- halten, mit russischen   Pässen versehen sind, ohne russische  Unterthanen zu sein. Ja, die bulgarische Regierung habe sogar festgestellt, daß einzelne Räuberhauptleute, die in der Türkei   geboren sind und türkische Unterthanen seien, solche russischen   Pässe besitzen. Abgesehen von dem ihnen von den russischen Behörden gewährten Schutz erhalten die bulgari  - schen Emigranten Subsidien von panslavistischcn Komitees für die Organisiruna und Ausführung von Komplotten gegen die bulgarische Regierung, und außerdem werden ihre Reisen durch die Schiffe der freiwilligen russischen Kreuzer- flotte und der Gagarinschen Dampfschiffsahrts-Gesellschaft erleichtert, so daß sie der Wachsamkeit der russischen Be- Hörden entschlüpfen können. Die Sympathien aller Frei- heitsfreunde gehören Bulgarien  , das seinen Kampf mit einer Zähigkeit führt, die grell absticht gegen die Indolenz der westeuropäischen Mächte. Nusfisches. Tie FinanznothenVäterchens" sind sehr drückend, der Bankrott steht vor der Thür  , und der Zar wird, wie die offiziöse Presse meldet, nach Berlin   kommen, um den deutschen   Kaiser zu besuchen. Dieser Besuch oder die Nachricht von diesem Besuch soll der Vorstoß zu einem Sturm aus die Geldbeutel der deutschen   Spießbürger sein. Eine Pump-Visite, das ist des Pudels Kern. Uebrigens bringt dieNorddeutsche Allgemeine Zeitung"(Nr. IdL vom 19. April) im höheren Auftrag ein schielendes Dementi, wonachbisher" keine Thatsache bekannt geworden sei, welche auf einen solchen Besuch schließen lasse." Erbaulich klingt es, daß die mit Bestechung, Verrath, Meuchelmord arbeitende russische   Regierung ein Gesetz vorbereitet, wonach Derjenige, der einer fremden Macht oder deren Agenten Dokumente oder Nachrichten giebt, die, wie der Betreffende wußte, der Sicherheit des Staates wegen vor einer fremden Macht geheim zu halten waren, unter Entziehung aller Rechte, der Verschickung nach den entferntesten Gegenden Sibiriens   unterliegt, welche Strafe noch durch 6 biS 8 jährige Zwangsarbeit verschärft wird, wenn der Schuldige im Dienste stand. Für die Abnahme, Zeichnung oder Be- schreibung von Festungen und sonstigen militärischen Bauten ohne Vorwissen der Regierung ist Gefängniß von 8 Monaten bis zu 1 Jahr 4 Monaten festgesetzt. Ist jedoch dieses Ver- brechen zu dem Zwecke erfolgt, einer fremden Macht Mit- iheilung zu machen, so steht darauf lebenslängliche Ver- schicknna m entfernte Gouvernements. Der lebenslänglichen Verschicknng in entfernte Gouvernements unterliegen auch Diejenigen, die durch List in Festungen und sonstige militärische Bauten eindringen..Beamte, die auS Fahr- lässigkeit Staatsgeheimnisse verrathen oder(sthemi zu haltende Dokumente verlieren, werden mit Gefängmv be- straft. Einen neuen G e w a l t st r e i ch gegen B>i l- 8 a r i e n, das der Zarismus zu provoziren nicht müde wird, hat soeben mit Hilfe der Türkei   die staatsretterische russische  Regierung ausgeführt. Der Studirende am Odessaer Seminar Knscheleff, welcher die Anstalt wegen der ihm widerfahrenen schlechten Behand- lung verlassen hatte, um über Konstantinopel   nach Bulgarien  zurückzukehren, wurde in Konstantinopel   gezivungen, den Waggon zu verlassen, und von dem anwesenden Tragoman der russischen   Botschaft Stoyanoff ersucht, im russischen Kloster in Galata   abzusteigen, um die Hotelkosten zu er- sparen. Knscheleff gab dieser Einladung keine Folge und war Donnerstag Abend im Begriff, mit der Eisenbahn nach Sofia   abzureisen, als Stoyanoff in Begleitung der Kawaffen der russischen   Botschaft erschien und unter Intervention der türkischen   Polizei Kuschelest verhaftete. Die hiervon m "kUittniß gesetzte bulgarische Regierung beauftragte ihren Agenten in Konstautinopel, Timitroff, bei dem Großvkzier zu protestiren und die Freilassung Kuscheleff's zu ver- langen. Ucber die Ursache der Verhaftung Kuscheleff's, der Bulgare ist, wird dem Londoner  Standard" aus Kon- stantinovel gemeldet, sie sei deshalb erfolgt, weil er nach seiner Ankunft in Konstantinopel   die Mittheilung gemacht habe, daß die beiden Mörder des Dr. Vulkowitsch drei Tage nach Verübung des Verbrechens in Odessa   an Bord eines russischen Dampfers ankamen und von dem früheren russischen Konsul in Philippopel   begrüßt und für ihre That belohnt wurden. Nachschrift. Die türkische   Regierung hat befohlen, den Bulgaren   Kuschelest, dessen Verhaftung durch das russische   Konsulat und spätere Festhaltung seitens der türkischen   Polizei zu einer scharfen Reklamation der bul  - garischen Regierung führte, wieder freizugeben und nach Sofia   abreisen zu lassen. Dieses Opfer wäre den sibirischen Schergen also glücklich entrissen worden. Die Kirche stürzt ei«!" In der Kirche San Dominico in Palermo   riefen am 17. April während des Gottesdienstes plötzlich einige Individuen:Die Kirche stürzt ein!" Eine ungeheure Panik bemächtigte sich der dicht gedrängten Menge. Viele Frauen wurden ohnmächtig und verwundet. Als durch das Einschreiten der Polizei die Ruhe wieder hergestellt war, zeigte sich, daß Taschendiebe falschen Alarm gemacht, um Diebstähle in kolossalem Umfange zu verüben. Zahlreiche Schmucksachen und Portefeuilles sind geraubt worden. Weshalb wir diese Notiz, die unter die RubrikVermischtes" gehört, in der politischen Ueber- ficht veröffentlichen? Weil diese Nachricht ein Symbol ist. Macht nicht jetzt überall die Reaktion falschen Alarm gegen die Arbeiterbewegung, um im Trüben zu fischen, wird nicht eine internationale allen Spießern und Narren die schwachen Hirne zerrüttende Spitzelkomödie aufgeführt, um dem Kapi- talismus Vorschub zu machen? Die Taschendiebe des Polizis- mus sind am Werke und wehmeiern:Die Kirche stürzt ein!"- Die Parlamentsschmanzer. Es ist keine Lüge zn plump und zu dumm, daß sie nicht von unseren Gegnern aufgetischt würde, sobald sie glauben, damit unserer Partei schaden zu können. So hat auch jetzt das Organ der Zuaerbarone, dieMagdeburgische Zeitung", die eiserne Stirne zu schreiben: Bekanntlich haben, weil der Reichstag   in der letzten Zeit seines Beisammenseins an chronischer Beschlußunfähigkeit litt, Erhebungen über die Betheiligung der einzelnen Parteien an den Sitzungen stattgefunden. Es hat sich dabei herausgestellt, daß die Sozialdemokraten wiederholt das stärkste Kontingent von Parla- mentsschwänzern aufzuweisen hatten. Und doch standen gerade in der letzten Zeit fast regelmäßig Fragen zur Verhandlung, die für Arbeiterkreise Interesse hatten, und doch zahlt die sozial- demokratische Partei ihren Abgeordneten Diäten. Man sollte meinen, der wichtigste Parteidienst hätte bei solchen Gelegenheiten der im Parlamente sein müssen. Freilich ist es kein angenehmer nnd leichter Dienst. Es reist sich leichter von Stadt zu Stadt. und wie wohlfeil ist es, gegen Beschlüsse zu zetern, die man durch pflichtgemäße Betheiligung an den Arbeiten des Reichstages viel- leicht hätte verhindern können." Daß der Reichstag   während der letzten Hälfte der langen Session an dauernder Beschlußunsähigkeit laborirte, ist richtig, frech gelogen aber ist, daß die sozialdemokratische Fraktion das stärkste Kontingent von Pqrlamentsschwänzern aufzuweisen hatte. Wir wissen nicht, welcheErhebungen" das nationalliberale Magdeburger   Blatt im Auge hat, auf die es seine Behauptungen stützen will. Uns sind nur zwei Wege bekannt, durch die der Präsenzstand des Hauses, und zwar in Bezug auf die einzelnen Abgeordneten sowohl wie auch in Bezug auf die Gesammtzahl der Anwesenden festgestellt werde» kann, und zwar geschieht dies entweder durch Auszählung mit Nanieiisaufruf oder durch namentliche Abstimmung. Solche Abstimmungen haben nun in der letzten Zeit der Session, d. h. von Neujahr 1892 bis Schluß, sieben stattgefunden und zwei Mal wurde außerdem durch Namensaufruf ausgezählt. Diese amt- lichen Feststellungen der Präsenz des Reichstags ergaben nun in Bezug auf die Anwesenheit der sozialdemokratischen Abgeordneten bei den einzelnen Abstimmungen das nachfolgende Bild, wobei wir bemerken, daß die in Klammern befindlichen Ziffern die Gesammtzahl der jeweilig anwesenden Abgeordneten zeigen. Es gaben sozialdemokratische Abgeordnete ihre Stimmen ab t Am 21. Januar 24(207) Wahlprüsung. 29.23(281) Zollermäßigung. 17. Februar 2«(248) I. Resolution über Militärstrafgesetz. 17.. 26(243) 11,. 29. März 24(286) Kreuzerkorvette K. , 29. 25(271) Tabakzoll. 80. 22(239) W-ingesetz. Die Auseählung durch Rn nensaufruf, wobei beide Male die Beschlußunsähigkeit des Hauses sestgestellt wurde, ergab folgende Zahlen: Am 1. März 14(168) Telegraphengesetz. 2. 15(167) Apothelenantrag. Wie sich aus der vorstehenden Zusammenstellung ergiebt, war die sozialdemokratische Fraktion verhältnißmäßig gut im Reichs- tag vertreten, sicherlich stärker als die meisten der sogenannten Ordnungsparteien, deren Bänke regelmäßig Lücken aufwiesen, wie sie die Sitze der Sozialdemokraten nur an wenigen Tagen zeigten. Was speziell aber die nationalliberale Partei betrifft, deren Organ dieMagdeburger Zeitung ist, so zählt dieselbe einschließlich eines Hospitanten 40 Mann im Reichstag, ist also biS kurz vor Schluß der Session um 5 Mann stärker gewesen, als die sozialdemo- kratische Fraktion. Da erstere Partei, nach der Behauptung ihrer eigenen Organe, eine Partei von Gentleinen und dl« politische Vertretung dFs durchBesitz und Bildung maßgebended Bürger- thums" sein soll, so müßte man, besonders nach den Angriffen ihrer Organe auf die sozialdemokratischen Parlamentsschwänzer, wohl erwarten, daß die Herren Gentlemenj vom ersten Staats- mann der Partei, Rudolph von Bennigsen, bis zum Eßlinger  Weinfabrikanten Weiß, dem letzten Mann im nationallideralen Fraktionsverzeichniß, sich durch besonders starke Parlaments- frequenz ausgezeichnet haben. Wie steht es damit aber in Wirklichkeit? Die Antwort auf diese Frage geben die nachfolgenden Zahlen, welche die bei den einzelnen Abstimmungen in obiger Reihenfolge von den nationalliberalen Abgeordneten abgegebenen Stimmen zeigen. Wir fügen zum besseren vergleich die bei gleicher Gelegenheit abgegebenen sozialdemokratischen Stimmen in Klammern bei. Es haben nationalliberale Abgeordnete ge­stimmt: 21. Januar 28(24). 29. Januar 24(28), 17, Februar, erste Abstimmung 26(26), zweite Abstimmung 26(26), 29. März, erste Abstimmung 31(24), zweite Abstimmung 26(25), 30. März 23(22). Bei der Auszählung durch Namensaufruf: am I.März 23(14), 2. März 21(15). Das also ist die parlamentarische Frequenz der National- liberalen im Vergleiche mit den Sozialdemokraten. Wie die Zahlen ergeben, waren beide Parteien fast immer gleich stark anwesend, eine Thatsache, welche für die nationalliberale Partei geradezu beschämend ist, denn abgesehen davon, daß sie die an Zahl stärker« Partei ist, will doch gerade diel« Part« durch ihre» reichstreuen und staatserhaltenden Charakter sich befonderZ aus« zeichnen. Wir erheben nun gegen die nationalliberalen Abgeordnete» den Vorwurf Parlamentsschwänzer zu sein, nicht; wir wissen, daß es in diesem Punkte bei den Parteien der Rechten und be- sonders beim Zentrum viel schlimmer aussah. Wir weisen aber auch den gegen uns gerichteten Vorwurf als eine verlogene Be­hauptung zurück, deren Aufstellung ebenso unverfroren wie thöricht ist, da gerade während der Zeit der chronischen Be- schlußunfähigkeit des Reichstages zahlreiche und namhafte Blätter der sogenannten Ordnungsparteien die Tbatsach« verzeichneten, daß verhältnißmäßig am stärksten noch du Bänke der Sozial« demokraten besetzt seien. Die Sozialdemokratie hat nie darauf Anspruch erhoben, eine parlamentarische Partei im Sinne derstaats­erhaltenden" Parteien zu sein. Andererseits aber haben unsere Abgeordneten von jeher darauf gehalten, die ihren Wählern gegenüber übernommenen Pflichten auch im Parlamente streng zu erfüllen. Wenn einzelne Organe des MastoürgerthumS dem- gegenüber den Versuch machen, durch unwahre Angaben die öffentliche Meinung irre zu führen, so haben, wie Figur« zeigt, Lugen auch in diesem Falle nur kurze Beine. Vkirkeinttckivirhkim. Ju Sachen wider de» Reichstags- Abgeordnete« Kunert läßt der jetzt vorliegende Beschluß des Ober-Landesgerichts, der die Entlaffung des Genossen Kunert aus der Haft ohne Kaution anordnete, esd a h i n gestellt, ob dringender Thatverdacht vorliege oder ob eventuell die Strafverfolgung ivegen Verjährung ausgeschlossen sei. Denn jedenfalls fehlen die übrigen zur Verhängung einer Untersuchungs« h a f t in§ 112 Str.-Pr.-O. aufgestellten Voraussetzung e n." Der Beschluß setzt in Uebereinstimmung mit den diesbezüglichen Ausführungen der Vertheidigung dann auseinander, daß danach entweder Kollusionsgefahr oder Fluchtverdacht vorliegen müsse, daß aber keine dieser Voraussetzungen zutreffe. Insbesondere läßt sich das Ober-Landesgericht gegen die Annahme des Land- gerichts, es liege so starker Fluchtverdacht vor, daß er selbst durch eine Kaution nicht beseitigt werden könne» dahin aus, daß der Fluchtverdacht keinen thatsächlichen Boden habe, es spreche vielmehr das Verhalten des Beschuldigten gegen die Annahme, daß er sich der Strafverfolgung beziehungs- iveise der etwa gegen ihn zu verhängenden Strafe durch die Flucht entziehen werde. Kunert müsse sich als Reichstags- Abgeordneter und hervorragendes Mitglied der Breslauer sozial- demokratischen Partei sagen, daß durch eine Flucht seine politische Wirksamkeit lahm gelegt würde. Wiewohl Kunert wußte, daß verschiedene Strafverfolgungen gegen ihn schweben, habe er die ihm als Reichstags-Abgeordneten für die Dauer der langen Sitzungsperiode gewährleistete Immunität nicht wahrgenommen, um stch der Verfolgung zu entziehen, sei vielmehr nach Schluß des Reichstages an seinen Breslauer Wohnort zurückgekehrt. Danach sei ein Fluchtverdacht unbegründet. Diese Erwägungen sind durchaus zutreffend und waren bis- lang gegenüber nichlsozialdemokratischen Abgeordneten auch wohl stets von den Nntergerichten anerkannt. Die Entscheidung über diejT ragweite des Artikels 31 der Verfassung ist im Fall Kunert demnach noch aufgeschoben. In allernächster Zeit wird das Reichsgericht sich in dem Prozeß, der die Verurtheilung Kunert's wegen Majestätsbeleidigung zu drei Monaten Gefängniß aussprach und der für die Dauer der Session durch Reichstags- Beschluß eingestellt war, mit dieser Frage zu beschästigen haben. Wir heben übrigens hervor, daß die Einstellung und Ver- jährung des Verfahrens nicht eine Folge der Immunität der Zlbgeordneten, sondern eine Folge der Unterlassung einer zweckentsprechenden Strafverfolgung seitens der Straf- verfolgungs-Behörden ist: in allen Fällen, in denen durch das Gencht innerhalb der Verjährungsfristen der zulässige Antrag auf Genehmigung zur Strafverfolaung beim RöichStog gestellt ist, ist die Strafverfolgung zuläsfig. Zur Maifeier. Die BerÜner Meldung derKölnischen Zeitung  ", wonach die zum 1. Mai von den Arbeitern ge-' planten Umzüge in Preußen und im Reiche mit Ausnahme Ham- burgs und Lübecks überall nicht genehmigt worden sein sollten,- ist unzutreffend. Der Mai-Festzug ist z. B. auch in Düffeldorf ge- nehmigt, �desgleichen hat man dort gegen die Abhaltung einer Versammlung nichts einzuwenden gehabt, welche in Ermangelung eines Saales auf freiem Feld« slaufinden soll. Es liegt auch nicht der geringste stichhaltige Grund vor, den Arbeitern etwas zu versagen, was man den Angehörigen der übrigen Be- völkerungsklaffen gewährt; derjenige soll noch geboren werden, der den Nachweis führen kann, daß durch Nichtgenehmigung der Mai-Festzüge auch'nur Einem Menschen wirklicher Nutzen bereitet wird. In R o st o ck findet daS Fest in der durch einen Umbcm vergrößerten Brunnenhalle statt; als zweites Lokal ist die Warnowhalle gewonnen. Di« beiden größten Rostocker Lokal« wurden den Arbeitern verweigert. In Sonneberg  wird das Fest wieder im Schießhause abaehatten. Die Be- Hörden Meißens verweigerten die Ueoerlassuna öffentlicher Plätze; es stehen jedoch Privatgrundftück« zur Verfügung. Elberfeld. Umzug nicht genehmigt. Die Arberter von Langenbielau  -Weigelsdorf und Umgegend halten das Fest in Benjaminshöhe und im Hnse'schen und Schwert'schen Saale ab. Altona   und Ottensen  . Der Umzug wurde von der Polizei nicht genehmigt; Beschwerde ist eingelegt. Gegen die Festlichkeiten, die in vier Lokalm stattfinden sollen und Sffent« lichen Charakter tragen werden, hat man nichts eingewendet. Für den ganzen 7. b a d i s ch e n Reichstags-Wahlkreis(Offenburg  - Gengenbach  , Zell   a. H., Oberkirch  , Oppenau  , Kehl  ) findet die Maifeier in den Dreikönigs-Sälen zu Offenburg   statt. Das Lokal saßt über 1000 Personen. Gemeiudewahle«. Bei der gestrigen Nachwahl im 1. und 2. Bezirke R i x d o r s s ivurden unsere Genoffen der Putzer Hugo Hahn   mit 76 und der Restaurateur Karl Schulz mit 69 Stimmen von den Wählern der 3. Abtheilung in den Ge« meinderglh geivählt. Die beiden gegnerischen Kandidaten mußten mit 3 und 4, zusammen 9 Stimmen vorlieb nehmen. In Groß-Otters leben wurde Genosse August Hoppe i« die Gemeindevertretung gewählt. »» ReichSläudischeS..Wenn'«» Sozialdemokrat", schreibt die Elsaß-Lothringische Aolksztg." in Nr. 46,das Elsaß zu bereisen wagte, um für sozialdemokratische LiteraturPropa- ganda zu machen", so würde man ihm selbstverständlich den polizeilichen Kolportageschein abverlangen. Einen solchen Schein erhält er aber nicht, wenn er darum nachsucht und der Behörde als Sozialdemokrat bekannt ist. Erst kürzlich ist wieder einem hiesigen Genossen die nachgesuchte Kolportagebesugniß verweigert worden, unter Berufung darauf, daß der Gesuchsteller schcm be- straft sei. Die betreffende Strafe 40 Mark rührte aber just von einer Uebertretung des KolportagegesetzeS her und der Genoff« hatte eben deshalb sein Gesuch gemacht» mu mit dem Gesetz nicht auf's Neue in Konflikt zu kommen. Auf derartige Räsonnements läßt sich jedoch unsere reichsländische Regierungs- weisheit nicht ein. Die Propaganda mit Büchern, Broschüren und Zeitungen mögen andere Parteren ruhig betreiben, für die Sozialdemokraten existirt dieses Recht in der Praxis nicht." Der in Vorstehendem erwähnte Genosse hatte an Nicht- Abonnenlen Zeitungen ohne die vorgeschriebene Erlaubniß des Bezirkspräsidenten vertheilt und war deshalb vom Landgericht Colmar   zu jeuer Strafe verurtheilt worden.