Nr. 296.
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Telegramm Aoresse: ,, Socialdemokrat Berlin".
Redaktion: S. 68, Lindenstrasse 69.
Fernsprecher: Amt IV, Nr. 1983.
Sonnabend, den 19. Dezember 1903.
Expedition: S. 68, Lindenstrasse 69. Fernsprecher: Amt IV, Nr. 1984.
Friede auf Erden!
Das„ Crimmitschauer Tageblatt" meldet: Die königliche Amtshauptmannschaft und der hiesige Stadtrat beschlossen, die geplanten sieben Weihnachtsbescherungen für hiesige im Ausstand befindliche Textilarbeiter und ihre Familien nicht zu gestatten.
Das Verbot wird eingehend damit begründet, daß terroristisches Verhalten der ausständigen Arbeiter gegen die Arbeitswilligen in verstärktem Maße wahrzunehmen gewesen sei. Ferner weist die Behörde darauf hin, daß in den letzter Tage auswärts abgehaltenen Versammlungen und in Flugblättern die Behörden und Sicherheitsorgane unter Nichtachtung jeder behördlichen Autorität weiter angegriffen und verunglimpft worden seien, so daß zu erwarten stehe, daß die geplanten Weihnachtsbescherungen zu ähnlichen Verhegungen mißbraucht würden.
Politik und Wissenschaft.
Man schreibt uns:
Es war auf dem Züricher Arbeiterschutz - Kongreß. Eine große Zahl ernster Gelehrter und gebildeter Politiker hatte sich versammelt, um über Specialfragen des Arbeiterschutzes sachlich zu beraten. Mitten in dieser Versammlung stand ein Mann auf, der eine lange Rede hielt, durch die er die Anwesenden in ein stetig steigendes Er. staunen versetzte. Aber unbeirrt fuhr der Mann fort, bis er endlich mit voller Lungenkraft seiner Weisheit letzten Schluß in den Saal hineinschmetterte:" Mir christlich- sociäul'n Arbeiter glauben net, daß d'r Mensch vom Affen avstammt".
So wurde Hermann Bielohl a wet aus Wien eine europäische Berühmtheit.
Eine ganz ähnliche Scene hat sich jüngst im Deutschen Reichstag abgespielt. Jumitten einer Beratung, in der von den Schäden der gegenwärtigen Staatsordnung fachlich und ernst die Rede war, erhob fich ein Redner, der ohne jeden äußeren Anlaß einen Vers aus einer politischen Fibel herzufagen begann und tausendmal gehörte Banalitäten über den Zukunftsstaat" wiederholte.
beliebigen Privatdocenten der Staatswissenschaften aufnehmen zu Vielleicht versteht es jetzt Kleinmeister Bülow, warum seine
fönnen.
Nodomontaden gegen die Unfreiheit des Zukunftsstaates" gerade auf seiten der oftelbischen Plantagenbefizer den lautesten Beifall auslösten. Sie wollen ihre Arbeiter vor der Knechtschaft des Zukunftsstaates bewahren die Guten!
Wir haben an der bürgerlichen Wissenschaft gewiß viel auszusetzen. Aber wären die deutschen Professoren heute in der Lage, sich unabhängig über die Bedeutung auszusprechen, die den politifchen Auffassungen des deutschen Reichskanzlers zukommen, so würde Indes hat Graf Bülow Autoren wie Lange, Schäffle und es dem Grafen Bülow sicher nicht besser ergehen als Herrn Bielo- Menger weder citiert noch gelobt, was beinahe den ungerechten gelesen. Verdacht erivecken könnte er hätte sie Denn Graf blatet auf dem Züricher Kongreß. Von allen Bülow lobt und citiert nur, was er nicht kennt. Beinlichkeiten feines Auftretens die peinlichste war, wie er mit Herbert Spencers frischer Leiche unging.
Der Reichskanzler hat jüngst über einen der größten.deutschen Geistesrevolutionäre, über Fichte, ein paar abgestandene Phrasen der Begeisterung hergesagt. Hat er ihn auch gelesen? Weiß er, daß dieser Fichte neben Plato , Bacon , Morus zu den größten socialistischen Utopisten gehört?
In der Vorrede zu seinem„ Geschlossenen Handelsstaat" hat Fichte alle Bülows vorausgeahnt. Er wendet sich mit größter Schärfe gegen einen Politiker, der„ ilberhaupt feinem Begriffe und Kalkül, fondern nur der Bestätigung in unmittelbarer Erfahrung vertraut": Es ließe sich ihm( einem solchen Staatsmanne) gegenüber eine vielleicht lehrreiche historische Untersuchung anstellen über die Frage, ob mehr lebel in der Welt durch gewagte Neuerungen entstanden sei, oder durch träges Beruhen bei den alten, nicht mehr anwendbaren Maßregeln.
Dieser Bielohlawet des Reichstages war der Reichskanzler Graf Bülow. Hätte er seine Rede in einer ernsten wissenschaftlich geschulten Versammlung gehalten, sie möchte so bürgerlich und professoral wie immer gewesen sein, so hätte er damit nur Heiter- Strieg gegen den Marrismus sie sich auch befinden mögen, sind lange teit gemischt mit Entsetzen hervorgerufen. Daß er in der gesetz gebenden Versammlung des deutschen Volkes nach einer solchen verblüffenden Leistung mit Beifall überschüttet werden konnte- die Thatsache enthüllt eine der schmerzlichsten Wunden unsrer Zeit.
Hört man und liest man, was die Gegner des Socialismus an Argumenten zur Bekämpfung einer ihnen verhaßten und gefährlichen Denkrichtung vorzubringen haben, so könnte man wohl auf den Gedanken kommen, daß die ganze ungeheure Geistesarbeit, die die Vertreter der politischen Wissenschaften in den letzten zwei Jahrhunderten geleistet haben, völlig vergeblich gewesen sei. Während einerseits die Socialdemokratie fich nicht genug thun fann in der Betonung der wissenschaftlichen Grundlage ihrer Politit, keinen Schritt unternimmt, ohne ihn auf sein Verhältnis zu jenem Boden der grundsätzlichen Erkenntnis mit peinlicher Gewissenhaftigkeit zu prüfen und auftauchende Streitfragen der Theorie mit einem bis zur Leidenfchaft gesteigerten Eruste behandelt, scheinen zwischen der bürgerlichen Politik und der Wissenschaft nunmehr endgültig alle Brüden abgebrochen zu sein.
Wenn sich Graf Bülow jüngst über den Hochmut und den Dinkel der socialdemokratischen Führer beklagte, so that er das sicherlich in der berechtigten Empfindung, daß ihm in der Rede Bebels ein unendliches Gefühl der Ueberlegenheit entgegengetreten war. Und doch hat Bebel noch ein gewisses Wohlwollen. walten lassen, als er für die unendliche Verständnislosigkeit, mit der der Neichskanzler und seine Claque den ernstesten Problemen tveiteres unsrer Zeit gegenüberstehen, ohne den Klassenstandpunkt feiner Gegner als mildernden Umstand gelten lassen wollte. Das geheiligte Recht auf Ignoranz mag man für einzelne politisch nicht aktive Mitglieder der herrschenden Klassen ruhig gelten lassen; es gilt aber nicht für ihre leitenden Politiker, die die ihnen anvertrauten Interessen schlecht wahrnehmen, wenn sie es nicht einmal für notwendig halten, sich über das Wesen und die geistige Art ihrer Gegner zu unterrichten. Was würde man von einer Heeresleitung halten, die einen Einfall ins feindliche Land unternimmt, ohne über die Geographie, die Sprache, die Zustände dieses Landes mehr zu wissen als ein paar abergläubische Geschichten, die in der Spinnstube erzählt werden!
Heißt es ernstlich die Interessen des heutigen Klassenstaates wahrnehmen, wenn man den gefürchteten inneren Feind mit Juys bomben überschüttet, Die gerade noch als Scherzartifel für einen bürgerlichen Herrenabend gelten mögen, wenn sie selbst auch da den Reiz der Neuheit seit etwa dreißig Jahren verloren haben. Darf man als Reichskanzler über Dinge reden, die man nicht versteht?
Wenn Graf Bülow die geläufigsten Namen der Weltgeschichte mit einander verwechselt, so mögen sich barüber die Gymnasiallehrer die Haare ausraufen. Für die Politik ist es noch immer nicht schlimm, wenn der Kanzler der Neuromantik in seiner Kenntnis der Geschichte der Kreuzzüge unter den Erfordernissen der Reifeprüfung steht. Aber so viel könnte man doch von dem führenden Politiker eines großen Retches verlangen, daß er in seiner eignen Fachwissenschaft, der politischen, soweit zu Hause ist, um es mit einem
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Gewiß, Spencer war ein Gegner des Socialismus. Aber warum? Weil er sehr zu Unrecht fürchtete, daß der Socialismus einen Triumph jener Staatsidee bedeute, die Graf Bülow in Deutschland als Erster zu vertreten berufen ist. Er bekämpft am Socialismus nicht das, wodurch er sich vom preußischen Gegenwartsstaat unterscheidet, sondern vielmehr das, was er seiner irrtümlichen Meinung nach mit der gegenwärtig in Preußen herrschenden Zuchthaus- Ordnung gemeinsam hat. Das System wirtschaftlicher Bevormundung und geistiger Unterdrückung, das sich in Bülows antisocialistischem socialen Königthum" verkörpert, fällt mit viel größerer Bestimmtheit unter Spencers allgemeines Verdammungsurteil wider die Allmacht der Staatsgewalt als irgend ein noch nicht erfaßbarer, erst im Reim vorhandener Gesellschaftszustand.
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Aber auch die modernen bürgerlichen Gelehrten, in so lebhaftem Graf Bülow ist auf dem Gebiete Socialwissenschaft ebenso nicht einfältig genug, bei jeder auftauchenden grundsäglichen Zukunfts- glücklich, wie auf dem Felde der Geschichte. Herbert Spencer ist und forderung zu fragen: Wie macht man das? Geben Sie ein genaues bleibt sein„ Peter Arbuez", der ihm den Kreuzzug gegen den Socia Programm, Herr Bebel." Solche Leute fertigt der ehemalige Minister lismus predigt. b. Schäffle folgendermaßen treffend ab: Es wäre leichtfertig, folche peinliche und im solidarischen Ein Bild des wirklichen Entwicklungsganges der nächsten Interesse deutscher Geistesfultur- beschämende Erscheinungen einfach volkswirtschaftlichen Zukunft darzustellen, den wirklichen Verlauf mit Scherzen abthun zu wollen. Graf Bülow ist nicht bloß ein„ beeiner weitausholenden Zukunft voraus anzugeben, ist kein Sterb- dauerlicher Einzelfall" sondern eine typische Erscheinung der bürgerlicher im Stande, noch im Jahre 1789 wußte niemand, was aus lichen Politik. Die eklektischen Tifteleien ängstlicher Universitätsder liberal bürgerlichen Neuerung sich entwickeln sollte. Nur professoren reichen als Waffen gegen den Socialismus nicht mehr eine Vorstellung des Möglichen, vom Wert diskussionsfähiger aus. Kann man aber bürgerliche Politik nicht mehr mit der Thefen kann man gewinnen... Es ist zwar eine ganz neue Wissenschaft machen, so macht man sie ohne sie und gegen sie. Das Welt, in die man sich hineindenken muß und nur sehr schwer Fleisch der bürgerlichen Gesellschaft überlebt ihren Geist. hineindenken kann. Indessen dem Fürsten , Ritter, Bürger und Bauer der Feudalzeit ist die liberale Volkswirtschaft, die jetzt bolle Wirklichkeit ist, ebenso schwer denkbar gewesen. Und sie kam doch!"
Ganz ähnlich führt F. A. Lange aus:
Die Mitverantwortlichkeit der Vorgesetzten für Soldatenmißhandlungen. Der Fall Breidenbach beschäftigte am Freitag zum siebentennial das Kriegsgericht. Diesmal handelte es sich um eine Verhandlung vor dem Oberkriegsgericht, die durch Einlegung der Berufung durch den vom Kriegsgericht wegen mangelnder Beaufsichtigung der Unteroffiziere zu 4 Wochen Stubenarrest vers urteilten Hauptmann Grolmann, den Vorgesezten Breidenbachs, notwendig geworden war.
Wir lassen uns nicht durch die Kleinmeister stören, die uns altflug predigen, was wir uns längst an den Kinderschuhen abgelaufen haben: daß zu allen Zeiten Adel und Reichtum und Stände gewesen, daß die Massen immer nur zum Beten und Arbeiten, zum Dulden und Gehorchen dagewesen, und daß alle Idealisten Plato mit seinem Vernunftstaat an der Spike( hören Sie, Kleinmeister Bülow!) stets in der Praxis schmählich Schiffbruch gelitten hätten. Wir verstehen die Geschichte besser als diese Kleinmeister.. Wir wissen..., daß alles Große in der Abermals fand eine umfangreiche Zeugenvernehmung statt, auch Geschichte stets von Trägern einer Idee ausging, die weit Breidenbach selbst erschien als Zeuge vor den Schranken. Das über die bisherige Erfahrung hinausgriff... Wir wissen Resultat der Verhandlung war, daß zwar auch das Oberkriegsgericht aber endlich auch, daß niemals, nie seit den Anfängen der zu der Ueberzeugung gelangte, daß Hauptmann Grolmann nicht die Geschichte, die Gesamtheit. der geistigen und materiellen durch die Umstände gebotene Aufsicht über die Mannschaftsausbildung Bedingungen des Wölferlebens eine so große innere Umwandlung geübt habe, da sonst unmöglich Breidenbach Tausende von gröb erlitten hat, als in den letzten hundert Jahren. Daß früher oder lichsten Mißhandlungen habe berüben können daß die 1200 später diese Umwandlung der Geister sich auch ihr Recht in den gerichtlich festgestellten Roheitsakte der Zahl der wirkGestaltungen des Lebens erringen wird, ist außer Zweifel. Unfre lich verübten Bestialitäten lange nicht entspreche, daß es aber trotzEpoche ist mehr als irgend eine bisherige dazu angethan, hohen lärte ja selbst der Auflagevertreter dem Idealen eine gewisse Geltung im Leben zu erkämpfen." das Strafmaß auf 14 Tage Stubenarrest herabsetzte. Ueber das Gerede vom 8uchthausstaat" schreibt einer Und schon das von der ersten Instanz verhängte Strafmaß war so der berühmtesten Juristen der Gegentvart Professor Ant. Menger niedrig, daß es der Vertreter der Anklage für notwendig erachtete, gegen die in der Deffentlichkeit verbreitete Ansicht in seiner, Neuen Staatslehre": Verwahrung einzulegen, daß Hauptmann Grolmann überhaupt nur verurteilt worden sei, um der aufs tiefste erregten Deffentlichkeit eine Konzession zu machen!
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In der That wird fast ausschließlich der Zustand der Reichen ins Auge gefaßt, wenn man im volkstümlichen Arbeitsstaat ( Bulunftsstaat") eine wesentliche Minderung der ökonomischen Freiheit voraussetzt..." Die heutige persönliche Freiheit", sagt mit Recht Rodbertus , ist für die meisten nichts als eine fortwährende Abhängigkeit von fremdem individuellen Willen und fremder individueller Moral, Abhängigkeit von dem Willen und der Moral der Grund- und Kapitalbesiger, Dienst, Botmäßigkeit." Für die großen Massen des Volkes wird es deshalb zweifellos eine Vermehrung der ökonomischen Freiheit bedeuten, wenn die Erwerbsgelegenheit, die ihnen jetzt der Zufall und die Not auf drängt, von den Organen des volkstümlichen Arbeitsstaates planmäßig zugewiesen werden."
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In der That muß das Strafmaß befremden. War das Gericht einmal von der Schuld des Angellegten überzeugt, so hätte es auch mester das dürfte wohl die Ansicht in ester Streife sein- ein energischeres Strafmaß wählen dürfen. Begehn Tage Stubenarrest sind für die große Masse überhaupt keine Strafe.
Offenbar hat das Oberkriegsgericht die Unterlassungen Grolmanns in sehr mildem Lichte gesehen. Grolmann hätte seiner Auffassung nach ja eine schärfere Kontrolle üben können, schließlich auch üben müssen, allein er war nun einmal ein vertrauensvolles Gemüt