Nr. 62. 21. Jahrgang.1. Irilngt des Jotmiitte"{itilintt WIKsdlÄSsnntag, 13. Mär; 1904.Reichstag1 Uhr.56. Sitzung. Sonnabend, 12. März 1904,Am Tische des Bundesrats: v. Einem.Die Genehmigung der Vernehmung des Abg. v. S t a u d y sk.)als Zeuge vor dem Amtsgericht in Posen wird entsprechend demKommissionsantrag o e r s a g t.Darauf wird die zweite Lesung des Militäretatsfortgesetzt bei Kapitel 24„Geldverpflegung der Truppen",Titel 7„Mannschaften".Hier verlangt die Regierungsvorlage 765 neue Unter-Offiziere; die K o m m i s s i o n hat alle diese 766 neuen Stellen ge-strichen; ein Antrag Graf Oriola(natl.) will die Regierungs-forderung wieder herstellen; ein Antrag Dr. Spahn<C.)will 650 neue Unteroffiziere(aber erst vom 1. Oktober 1904 an)bewilligen.Abg. Graf Kanitz(l.):Ueber die überraschende Sinnesänderung, die das Centrmnzu dem Antrag Spahn führte, will ich mich nicht näher äußern. Ichwill nur namens meiner politischen Freunde erkläre», daß wir nichtgesonnen sind, auf den Boden dieses Antrags zu treten. Im Hin-blick auf die sehr viel wichtigere Militärvorlage, dieuns im nächsten Jahre zugehen wird, ist es dringend geboten.daß die Regierung von den Forderungen, die sie im Interesse derWehrkraft für notwendig erachtet, nichts nachgiebt. Wirstimme» daher für den Antrag Oriola.Ein Vergleich mit der ftanzösischen Armee zeigt, daß sie uns ander relativen Zahl und der Soldhöhe der Unteroffiziere weit über-trifft. Erhält doch der ftanzösische Sergeant nach der zweiten Kapitulation620 M. jährlichen Barlohn und fast das doppelte Handgeld und doppelthohe Prämien. Das wiegt der Civilversorgungsschein uicht auf; dennein einziges Vergehen in zwölf Jahren macht die deutschen Unter-offiziere dieses Scheines verlustig. Ein Sergeant von den 12. Ulanen ließsich z. B. im zehnten Jahre seiner Dienstzeit dazu hinreißen, einemManne, der auf Stallwache eingeschlafen war. eme Ohrfeige zu? leben. Er wurde deswegen nicht nur zu Freiheitsstrafe verurteilt,andern es wurde ihm auch der Civilversorgungsschein entzogen under muß jetzt als Tagelöhner kärglich fein Leben fristen. Das istauch ein Beitrag zu dem Kapitel Soldatenmißhandlungen.(Hört!hört! bei den Socialdemokraten.)— Die Aufbesserung, diewir verlangen, würde sechs bis sieben Millionen Markkosten. Das ist bei einem Militär- Etat von 514 Millionensehr gering, nur l'/z Proz. Dafür könnten wir andre un-nütze Ausgaben streichen, so die Millionen fürSt. Louis.(Aha I bei den Socialdemokraten.) Der Grundfehlerunsrer Finanzpolitik ist, daß die Handelsverträge nicht gekündigtworden, dann hätten wir gleich 120—150 Millionen Mehreinnahmen.(Sehr gut! rechts.)Die bisherige Berawng des Militäretats hat ein wenig er-freulicheS Bild geboten. Ich bedaure, daß alle die kleinen Fehler undSchwächen, die ein weit verzweigter Organismus naturgemäß auf-iveist, erbarmimgslos an die Oeffentlichkeit gezerrt worden sind.(Sehr gut l recht«.) Kein französischer Social! st hättedie Armee seines Vaterlandes so bloßgestellt.(Sehr richtig I rechts. Lachen bei den Socialdemokraten.) Durcbsolche Angriste wird dem Auslande der Respekt vor der Tüchtigkeitdes deutschen Heeres nicht erhöht. In keiner Armee der Welt wirdder Soldat so gut und aistmndig behandelt, wie in der deutschenArmee. Deshalb lehnen Sie auch die Mittel nicht ab, die zurAbänderung eines empfindlichen Mangels unsres Heeresorganismusheute von uns gefordert werden.(Lebhafter Beifall rechts.)Zu diesem Titel, Geldverpflegung der Truppen und Mann-schaften:c., liegen noch folgende zwei Resolutionen vor seitens derBudgetkommission:Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, im Interesse derheimischen Landwirtschast dahin zu wirken, daß die Einberufungzu Truppenübungen möglichst nicht während der Erntezeit statt-findet.seitens des Abg. Gröber und Genossen:Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, im Interesse derheimischen Landwirtschaft dahin zu wirken, daß1. denjenigen Gemeinde», welche in außergewöhnlicher Weisevon Einquartierungslast betroffen werden, Zuschläge zu den Ent-schädigungssätzen seitens des Reiches gezahlt werden;2. die Einberufung zu Truppenübungen nicht während derErntezeit stattfindet.Abg. Ledebour(Soc.):Wir lverden, wie schon in der Kommission, für die Resolutionstimmen, die möglich st e Freilassung der Erntezeit beider Einberufung zu militärischen Uebungenfordert. Berechtigten Beschwerden der Landwirtschast werden wirimmer Abhilfe verschaffen. Wir werden niemals Bestrebungen unter-stützen, die die große Masse des Volkes mit neuen Lasten be-lege».(Sehr richtig I bei den Socialdemokraten.)Stehen wir in dieser Beziehung mit den Herren vom Centrumim Einklang, so können wir unser Einverständnis nicht aus-dehnen auf den Antrag des Herrn Dr. Spahn, derden Kommissionsbeschluß, an dem das Centrum hauptsächlich mit-gewirkt hat, wieder umstoßen will, natürlich noch weniger auf demAntrag des Grafen Oriola. Die Gründe, die der Abg. Gröber fürdie veränderte Stellung seiner Partei anführte, können diese Aende-rung durchaus nicht erklären, denn die wünschenswerte Entlastungder Unteroffiziere im Hinblick auf die Mißhandlungen, die er in denVordergrund stellte, ist schon in der Kommission ausführlich behandeltworden und das Centrumhat damals gleichwohl die Forderung abgelehntDieser Grund ist umsoweniger ausschlaggebend, als die Ent-lastung sehr minimal wäre und 600 neue Unter-offiziere bei 30000 vorhandenen jeden Einzelnenum Vjo seiner Arbeit entlasten würden. Mankann sich alle möglichen Wirkungen von dieser Vermehrungder Unteroffiziere versprechen, aber daß fie auf die Militär-Mißhandlungen einwirken könnte, ist undenkbar. Warumhat denn das Centrum die wirksameren Mittel gegen dieMißhandlungen, die wir vorgeschlagen haben, abgelehnt? Offenbarliegen für das Centrum andre Gründe zu semer verändertenStellung vor, es erledigt die parlamentarischen Geschäfte nach demGrundsatze„vo at des!•• Und da der§ 2 des Jesuitengesetzes jetztaufgehoben ist, giebt es der Militärverwaltung den Sperling in dieHand.(Große Heiterkeit.) WenndasganzeJesuitengesetzaufgehoben würde, dann würde das Centrum auch denAntrag Oriola bewilligen und dem Kriegsmini st erdie Taube in die Hand geben, die jetzt noch auf demDache sitzt.(Heiterkeit.) Nach dem kurzen fteundlichen Zwiegespräch,das der Kriegsminister gestern mit Herrn Spahn hatte, wußten dieAuguren, wie diese Frage entschieden werden würde. Auch GrafOnola hatte gar nicht die Abficht, für seinen Antrag eine Mehrheitzu finden. Er wollte nur wieder einmal Sturm gegen die Handels-Verträge laufen und die agrarische Presse befriedigen.(Sehr richtig Ibei den Socialdemokraten.) Graf Oriola hätte sich also die Fragesparen können, die er mit so großer Grandezza(Heiterkeit) an denKriegs-minister richtete, wie er zu dem Antrag Spahn stände. Der Kriegs-min ist er hat sehr befangen geantwortet, ich hättenicht gedacht, daß ein Kriegsminister vor dem Reichstage so zaghaftund bescheiden auftreten könnte.(Sehr gut l bei den Socialdemo-kraten.) Er sprach Herrn Spahn mit der Schüchternheit eines jungenMädchens an, das auf dem Balle ihren heimlichen Geliebten bei derDamenwahl zu einer Extratour auffordert(Stürmische Heiterkeit)und das Kopfnicken des Herrn Spahn beglückte ihn. Der Vorgangist symptomatischfür unsreganzePolitik.(Sehr richtigl beiden Socialdemokraten.)In der Kommission wird nach gründlichster Beratunggerade unter Mitwirkung des Herrn Gröber die Ab-l e h n u n g einer Forderung durchgesetzt. Dann verhandelt manmit der Majorität des Hauses wie mit einer feindlichen Macht. Mansucht sich auf diplomatischem Wege zu überlisten, aber ein eigentlichparlamentarischer Kampf, nach dem die Regierung sich der Mehrheitzu fügen hätte, findet nicht statt. Das w i ch t i g st e wird hinterden Coulissen abgenracht, und das Parlamentwird vor die fertigen Resultate gestellt,(Sehr wahr!bei den Socialdemokraten.)Auf die vorangehende Debatte brauchte ich nicht lveiter ein-zugehen, wenn nicht Graf Oriola wieder eine Attacke aufdie Socialdemokratie geritten hätte. Er that das bei der Unglück-lichsten Gelegenheit, denn von uns hatte noch keiner zu dieser Fragegesprochen und Graf Oriola konnte vorläufig nur ahnen, daß wirans dem Boden des Antrages ständen, den die Majorität an-genommen hatte. Von den„verletzten Gefühlen der Unteroffiziere"hatte ich kein Wort gesprochen. Ich kann mir die Entgleisungen desGrafen Oriola nur so erklären, daß er sich in einer Art vonmediumistischer Trance befand, in der man Sttmmen siehtund Gesichter hört, die in Wirklichkeit gar nicht vorhandensind.(Heiterkeit.) Das ist bekanntlich das parlamentarischeMedium des Militarismus: Sobald irgend ein General einenmagnetischen Blick auf ihn wirft, wirkt er auf ihn hypnotisierend(Heiterkeit), er verfällt in die Bewilligungstrance(Große Heiterkeit) und giebt in verzückten Redewendungen seinerBewunderung für das herrliche Kriegsheer Ausdruck.Graf Oriola meinte ebenfalls, ivenn wir die Mißhandlungenausrotten wollten, müßten wir dieser Vorlage zustimmen. Wirhabe» aber durch ganz genau formulierte Forderungen auf eine Be-seitigung der Mißhandlungen hinzuwirken gesucht. Warum haben Sieunsre Resolution nicht angenommen? Sie haben bewiesen, daßIhnen der Kamps gegen die Mißhandlungen viel weniger ernst ist alsnns.(Sehr richtigl bei den Socialdemokraten.)Graf Könitz hat unsre Kritik der Zustände in der Armeewieder einmal als un patriotisch bezeichnet. Der Reichstagist aber doch dazu da, Schäden zu enthüllen, wir könnendoch darüber nicht bloß hinter geschlossenen Thüren in einergeheimen Kommission verhandeln. Graf Kanitz behauptete, diefranzösischen Socialisten übten eine derarttge Krittk nicht. Aberwar es nicht gerade unser Parteigenosse Jaurös,der nebenZola in der Dreysiis-Campagne an der Spitze desKampfes gegen die Korruption stand? In Frankreich werden dieSocialisten genau so von den französischen„Patrioten", den Nationali st en als Agenten des Auslandesgelästert, wie von feiten der Herren Graf Kanitz,». Oldenburg,Lehmann usw.(Sehr richtig! bei den Socialdemokraten.) Wie un-angenehm Ihnen unsre Kritik ist. beweist am besten die Thatsache,daß Sie überhaupt über keine Frage mehr sprechen können, ohnenach einiger Zeit unwillkürlich in eine socialistenfresserischeRede zu entgleisen. Das zeigt, daß wir auf dem rechtenWege sind. Dieser Weg wird uns zum Siege fuhren!(Bravo! beiden Socialdemokraten.)Abg. Dr. Stockmann(Rp.): Wir stehen in dieser Frage aufdem Standpunkt des Grafen Kanitz. Ich hege immer noch dieHoffnung, daß auch das Centrum sich noch entschließt, auf den Bodender Regierungsvorlage zu treten. Durch unsre Bewilligung derRegierungsforderung präjudizieren wir in keiner Weile unsreStellung zum Quinquennat.Kriegsminister v. Eineui: Die Resolutton Gröber, soweit sie sichauf die Einquartierungslasten bezieht, ist in der Budgetkommissionnicht zur Sprache gekommen. Daß in der angedeuteten Richtungetwas geschehen muß, ist unzweifelhaft. Aber über die Art undWeise, wie abzuhelfen ist, müssen doch eingehende Erörterungenstattfinden, mit denen ich das Haus bei seiner jetzigen Geschäftslagenicht belastet sehen möchte. Will Herr Gröber nicht diesen Ter!der Resolution für jetzt zurücknehmen und in derBudgedkom Mission Gelegenheit geben, die Frage bei G e-legenheit des Servistarifs zu behandeln?Abg. Gröber(C.): Ich entspreche dieser Anregung undbeanttage, den ersten Teil meiner Resolution an die Budget-kommission zurückzuverweisen. Den zweiten Teil meiner Resoluttonziehe ich zurück, da er im allgemeinen mit der Kommissions-Resolutionübereinstimmt.Das Haus beschließt nach dem Antrage Gröber.Abg. Schräder(frs. Vg.):Graf Kanitz kann doch nie eine Rede halten, ohne von derNot der Landwirtschaft zu sprechen. Aber für dieteuren Kavallerie-Regimenter hat es doch niean Offiziersersatz gefehlt, und in diese teure» Regt-menter schicken die Großgrundbesitzer ihre Söhne.(Sehr gut! links.)Auf die gesetzliche Bewilligung der zweijährigen Dienstzeit, von derdie Bewilligung der neuen Unteroffiziersstellen abhängig gemachtworden ist, lege ich jetzt nicht mehr so großen Wert, wie ftüher.Ich möchte den Kriegsmini st er sehen, der esfertig bekäme, jetzt noch die zweijährige Dien st-zeit zu beseitigen.(Sehr richtig! bei der freisinnigen Ver-einigung.) Die Herren Socialdemokraten erklären, daß sie demmilitärischen System, das sie bekämpfen, nichts bewilligen wollten.Aber Herr Bebel hat doch erklärt, daß die Socialdemokraten, wennNot am Manne wäre, die Waffen ebenso zur Verteidigung des Vater-landes ergreifen würden, wie alle übrigen. Damit bat er anerkannt.daß auch er. wie jeder andre, das größte Interesse daran haben mutz.das Heer im guten Zustande zu erhalten.(Abg. Bebel: Ich bitteums Wort.) Die Herren glauben nur, bessere Vorschläge für dieOrganisatton des Heeres machen zu können. Aber vorläufig bestehtkeine Aussicht, daß diese Vorschläge angenommen werden. Die Herrenthäten da am besten, jetzt das zu bewilligen, was unter den gegebenenUmständen zur Verbesserung der Heeresorganisation erforderlich ist.Ich glaube ja nun allerdings, daß weder hiernoch an einer andren Stelle diese meine Er-wägungen durchschlagen werden.(Abg. Singer:Sehr richtigl) Ich begreife auch nicht, weshalb das Centrumhier kleine Sparsamkeitsrücksichtcn walten lassen will, statt einfachdie Regierungsfordcrung zu bewilligen. Offenbar besteht ein kleinerWettbewerb zwischen dem Centrum und den Nationalliberalen, demwir noch häufig begegnen werden.Abg. Kopsch(fts. Vp.):In der Rede des Grafen Kanitz machte sich eine gewisse Polittkder Bosheit bemerkbar, die nicht des pikanten Beigeschmacks entbehrt.Wir haben keinen Anlaß, uns in das parlamentarische Schachspielzwischen Centrum und Konservative einzumischen. Herr Dr. Hermeshat unsren Standpunkt ja bereits dargelegt. Ich habe nur das Wortergriffen, um auf die Konkur r�enz hinzuweisen, die den Civil-musikern von den Militärkapellen bereitet wird.(Rufe rechts: Aber die Geschäftslage!) Bei einer andren Positionläßt sich die Frage nicht besprechen. Der Reichstag hatwiederholt ausgedrückt, daß er diese Konkurrenznicht billigt. Ich frage den Kriegsminister, weshalbdiesen Wünschen des Reichstages nicht Rechnunggetragen wird. Redner führt mehrere Fälle auffälligerReklamen von Militärkapellen an. So hat eine Kapelle annonciert,daß sie in Paradeuniform mit eroberten silbernen Trompeten konzer-ticren würde. Ein andrer Kapellmeister bietet seine Kapelle an undteilt mit, daß sie 300 Mark kosten würde, wenn die Musiker in langengelben Stiefeln, worin sie immer den größten Eindruck machten, er-scheinen würden.(Heiterkeit.) Unter solcher Reklame muß dasAnsehen der Militärkapellen leiden.(Sehr richtigl links.)Generalmajor Sixt von Armin: Es sind in der ThatAusfHreituvgxv vorgelomwev. besonders m ge-schmacklosen Reklamen und Annoncen, die aber mehrvon den Wirten, als von den K a p e l l m e i st e r n ausgegangensind. Inzwischen ist ein a l l e r h ö ch st e r E r l a ß an die Truppen«kommandeure ergangen, worin sie angewiesen werden, die außer-dienstliche Thätigkeit ihrer Regimentskapellen zu überwachen, dieErlaubnis zu außerdienstlichem Auftreten nur von Fall zu Fall zuerteilen und dieses Auftreten selber dienstlich überwachen zu lassen.Auch wird es darin für unstatthaft bezeichnet, über die etatsmäßigeZahl von Hoboisten hinauszugehen. Ich glaube, daß damit Vor-kommnissen, wie sie der Vorredner mitgeteilt hat, in Zukunft vor-gebeugt ist.(Bravo! rechts.).Abg. Bebel(Soc.):Herr Schräder meinte, da auch wir das Vaterland im Falleeines Krieges verteidigen wollen, so müßten wir dieser Vermehrungder Unteroffiziere zustimmen. Herr Schräder versteht immernoch nicht unfern Standpunkt zum Militarismus.Wir haben nicht den allermindesten Grund, diese Forderung zu be«willigen. Was zunächst allgemein die principiellen Gesichtspunkteanlangt, so habe ich unsre Stellung gegenüber dem heutigen Militär-system hier bereits ausführlich erörtert. Die Regierung und dieMchrheitsparteien stellen die Armee immer schärfer als das ersteund mächtigste Bollwerk gegen die Socialdemokratie als den so-genannten inneren Feind hin. Sollen wir ein System unter-stützen, das in dieser Weise als Machtmittel gegen uns aus-gespielt wird? Da würden wir uns ja selbst verurteilen. Auch wirdja kein Socialdcmokrat, und sei er der tüchtigste Soldat, zum Unter-offizier befördert. Dafür habe ich jetzt ein neues Beispiel. DaSBezirkskommando von Leipzig ersuchte den Gemeinde-rat von Groß-Zschocher um Auskunft über eine Persönlich»k e i t, die Aussicht hatte, zum Unteroffizier der Re-s e r v e befördert zu werden. Ter Gemeindevorstand teilte mit, derBetreffende sei gerichtlich nicht bestraft und sein Per-halten sei ohneTadel. Dann heißt es weiter:„In politischerHinsicht glaube ich, daß er zur Socialdemokratie neigt."(Hört!hört! bei den Socialdemokraten.) Daraufhin wurde der Betreffendenicht befördert. Die Armee ist eine durch und durch nndemokratischeInstitution, die noch dazu unterhalten wird durch indirekte Steuernund Lebensmittelzölle. Aber auch in diesem praktischen Fallist die Mehrforderung ungerechtfertigt. Auf je sechsSoldaten, in der Armee kommt ein Unteroffizier. Wieviel mehrSchüler hat ein Volksschullehrer I Was ich von der Ueberlastungder Unteroffiziere gesagt habe, bleibt trotzdem richtig. Aber dieseUeberlastung rührt von den zwecklosen Parademärschen, vomDrill usw. her. Wäre die Armee einzig und allein zur Ver-teidigung des Vaterlandes da, so könnte die ganze AuS-bildung des Dienstes so vereinfacht werden, daß die Unteroffiziere nichtmehr überlastet wären. Aber der Parademarsch strengt die Soldatenauch gänzlich unnötigerweise an; er widerspricht außerdem demanatomischen Bau des menschlichen Körpers. Die Chinesen habengelacht, als sie den ersten deutschen Parademarsch gesehen haben.Wenn Sie(nach rechts) gewillt sind, die Armee wirklich zu re-organisieren, so werden Sie nns als eifrigste Mitarbeiter dabeifinden. Dem Heutigen System aber bewilligen wir keinen Pfennig.—Graf Kanitz hat wieder behauptet, wir leisteten dem Auslande Dienste.Aber die Rede, die ich vor einigen Tagen hier gehalten habe, ist in derchauvinistischen Presse Frankreichs in geradezu niederträchtiger Weifegegen meine französischen Parteifreunde ausgebeutet worden. Soschreibt das«Petit Journal", ich hätte mit einem überschäumendenPatriotismus gesprochen(Lachen rechts); das Blatt wirst dannmeinen französischen Parteigenossen vor. daß sie ganz imGegensatz zu deutschen Socialdemokratie keinen Funken Patriotismushätten. Sie sehen, die französische Bourgeoisie macht es genau so.wie die deutsche Bourgeoisie. So haben auch Sie es getrieben, solange der Reichstag besteht. Fahren Sie nur so weiterfort, es wird unser Schaden auch in Zukunft nichtsein l(Beifall bei den Socialdemokraten.— Ruf rechts: Jetztgeht'srückwärtsl)Damit schließt die Debatte.Die Abstimmung über den Antrag des Mg. Grafen Oriola,auf Wiederherstellung der Regierungsvorlage, bleibt zweifelhast. Esmuß daher durch Auszählung(Hammelsprung) abgesttmmt werden.Es stimmen mit Ja 74(und zwar Konservative. Reichspartei.Nationalliberale und Freisinnige Vereinigung), mit Nein 73(Centtum, Socialdemokratie, Polen und Freisinnige Volkspartei).Das Haus ist also beschlußunfähig, die Sitzung muß abgebrochenwerden.Nächste Sitzung: Montag 1 Uhr.Schluß 3'/. Uhr._■uHbcfeordnetenbaua.40. Sitzung. Sonnabend. 12. März 1004, 11 Uhr.Am Ministcrtische: F r h r. v. H a m m e r st e i n.Die zweite Beratung des Etats des Ministeriums desInnern wird beim Titel: Ministergehalt fortgesetzt.Abg. Fischbeck(frs. Vp.):Dem Bedauern der Vorredner, daß der Landtag nicht stühereinberufen worden ist, schließen wir nns an. Für die Regelung desWohnungswesens sind wir stets eingetreten, erkennen aber an, daßeine Ueberstürzung auf diesem Gebiete nicht am Platze ist. Was dieScherlsche Sparlotterie anbetrifft, so hoffen wir, daß dieRegierung nicht nur zur Zeit, sondern üherhaupt sich vondiesem Plane fernhalten wird.— Ueber ungerechte Be-Handlung haben sich nicht nur die Polen sondern auch andre Staats-bürger zu beklagen.Redner erörtert ausführlich die Nichtbestätigung einesGemeindevorstehers Wenzel im Kreise Liegnitz wegen seinesEintretens für die freisinnige Partei. Im einzelnenbleiben die Ausführungen des Redners auf der Tribüne Unverstand-lich. Möge der Herr Minister dafür sorgen, daß auch seine nach-geordneten Organe den schönen, von ihm proklamierten Grundsatzbefolgen, daß Beamte nur nach ihrer Oualifikatton ohneRücksicht auf politisches oder religiöses Bekennwis angestelltwerden. Der Amtsvorsteher eröffnete den Gemeindeschöffen:Wen» Ihr noch einmal den Wenzel wählt, dann setztEuch die Regierung einen pensionierten Wachtmeister hin, dem Ihrdann 1500 M. jährlich bezahlen müßt.(Hört I hört! links.) Einsolches Borgehen gegen Liberale ist um so unberechtigter, alswir nie einen Zweifel über unsre Vaterlandsliebegelassen haben und als wir durchaus bereit sind, mit den übrigenbürgerliche» Parteien den Kampf gegen die Socialdemokratie zuführen. Freilich darf in der Bekämpfung der Socialdemokratieder Boden des Rechts nicht verlassen werden.Gerade in diesem Augenblick, wo die Socialdemokratiedurch den Dresdener Parteitag und die Angriffe derRegierung und aller Parteien moralisch geschwächt ist,wäre es am verkehrtesten, mit einem Ausnahmegesetz zu kommen,das die Partei wieder zusammenschweißen würde.(Sehr richtigllinks.) Den Borstoß des Herrn v. Heydebrandt gegen den HerrnMinister halten wir für unberechttgt. Der Reichstag hatzweifellos das Recht, eine Interpellation überdi« Fren, denpolizei zu besprechen, die Reichssache ist.Und- es war politisch klug von den Ressortministern, den Social-demokrateu mit dem authentischen Material im Reichstageselbst entgegenzutteten; gerade dadurch ist die Niederlageder Socialdemokratie wesentlich herbeigeführt worden. Wirkönnen uns also»pit dem Vorgehen des Herrn Ministersnur einverstanden erklären. Zum Schluß kann ich denHerrn Minister nur noch mal bitten, auch unsrer Partei gegenüberRecht und Gerechtigkeit zu üben und sich andrerseits nicht von dein