»r 110. 2!. Inftrgin;. j Atilllgt lltS„U0WKltS" KtlliM NlllliSllllltt. km.«-..7.90iReichstag.SS. Sitzung. Donnerstag, d en 16. Juni 1S04,mittags 1 Uhr.Am Bundesratstische: Dr. N i e b e r d i n g.Erster Punkt der Tagesordnung ist die Interpellation Auer(Soc.)und Genoffen betreffend oen preußischen Gesetzentwurf über denKontraktbruch landwirtschaftlicher Arbeiter und des Gesindes.Sie lautet:„Seitens des Herrn JnstizministerS, des Herrn Ministers fürLandwirtschaft, Domänen und Forsten und des Herrn Ministersdes Innern des Bundesstaates Preußen ist am 6. Mai 1904 dempreußischen Abgeordnetenhause ein„Gesetzentwurf betreffenddie Erschwerung des Vertragsbruches landwirtschaftlicherArbeiter_ und des Gesindes" vorgelegt worden. Dadieser Gesetzentwurf im Widerspruch zu Vorschriften der Reichs-gcsetzgebung, insbesondere der ReichSvcrfassung, des Freizügigkeits-gesetzes, der Gewerbe-Ordnung, des Bürgerlichen Gesetzbuches unddes Strafgesetzbuches Vorschläge enthält, welche landwirtschaftlicheArbeiter und Dienstboten, die vermeintlich einen, Arbeitgeber zulandwirtschaftlicher Arbeit oder zu», Gesindedienst noch der-pflichtet sind, in Verruf zu erklären geeignet sind, die-jenigen mit Strafe bedroht, welche mit solchen landwirt-schaftlichen Arbeitern oder Dienstboten irgend einen Dienstvertragschließen oder für solche Arbeiter einen neuen Dienst vermitteln,und so Arbeitswillige hindern, in Arbeit zu treten, so fragen wir:iv as gedenkt der Herr Reichskanzler zu thun, umdem Bundes st aat Preußen gegenüber die Reichs-gesetzgebung zur Geltung zu bringen?Staatssekretär Dr. Nieberding erklärt sich bereit, die Jnter-pellation sofort zu beantworten.Z» ihrer Begründung erhält das WortAbg. Stadthagen(Soc.):Der Gesetzentwurf, den die preußische Regierung dem Ab-geordnetenhause vorgelegt hat, will die landwirtschaftlichen Arbeiterund das Gesinde in einer Weise in Verruf erkläre», die im Wider-spruch steht nnt allem, was sonst in Deutschland und Preußen rechtensist. Mit zahllosen Bestimmungen der Strafgesetzgebung steht dieserEntwurf schon seinem Wortlaute»ach in unauflöslichem Widerspruch.Aber selbst wenn das nicht der Fall wäre, würde doch dgr Reichstag dasgrößte Jntereffe daran haben, gegen einen Eitzwurf zu protestieren,der den, ganzen Geist unsrer Verfassung Hohn spricht: der Gesetz-entwurf will auch die Arbeitgeber, besonders Kleinbauern,die vermeintlich kontraktbrüchige Arbeiter in den Dienst nehmen,mit Strafe belegen. Und was gilt in Preußen alles als Kontrakt-bruch l Wir haben es ja erlebt, daß selbst Peitschenhiebe nicht fürein ausreichender Grund erklärt wurden, das Dienstverhältnis zulösen, und daß die Verführung der Mägde durch den Inspektor diesenicht berechtigte, den Dienst zu verlassen. Wenn ein Arbeiter durchOuälerei, Rechtlosigkeit und jammervollen Lohn zum äußerstengetrieben seinen Dienst verläßt, so soll jeder Arbeit-geber bestraft werden, der ihm einen Bissen Brot giebt.Das Gesetz will ferner die Gesindevermittler bestrafen, die Vermittlerfür landwirtschaftliche Arbeiter, wenn sie einem dieser Unglücklicheneine Stelle nachweisen, obwohl auch dies Gewerbe reichsgesetztichgeregelt ist. Das Gesetz will drittens jeden bestrafen, der denArbeiter verleitet oder zu verleiten unternimmt, widerrechtlich seinenDienst nicht anzutreten oder ihn zu verlassen. Wenn also ein Arbeiterzum andern sagt, wir brauchen unS diese Mißhandlung nicht weitergefallen lasten, wir wollen auf und davon gehen, so wird er bestraft:wenn ein Vormund das körperliche oder sittliche Wohl seines Mündelsfür gefährdet erachtet und es vom Dienste wegnimmt, so wird erbestraft. Wenn das Gesetz überhaupt eine Folge haben wird, sokönnte es nur die haben, daß die Arbeiter»och viel stärker i» dieIndustrie abströmen, daß Treu und Glaube» veruichtrt und daß Un-moral und Unsitte geradezu mit einer Prämie ausgestattet werden.Schon im Juni ISOO, als wir andre Verstöße gegen die Reichs-gcsetzgebung hier rügten, wollte der Sekretär im Reichsjustizamtnicht anerkennen, daß die Verrufsgesetze gegen ländliche Arbeiter inBraunschweig, Anhalt usw. und jene» Gesetz, welches in Lübeck gegendas Streikpoftenstrhen erlassen wurde, Reichsgesetze verletzen. Unterder Gefahr bestraft zu werden, hat damals mein ParteigenosseMolkenbuhr, indem er öffentlich zum Ungehorsam gegen das Gesetzaufforderte, die Entscheidung des Reichsgerichts herbeigeführt, daß eSungültig sei Schon damals regte Herr Spahn die Schaffung einerInstanz an, die weiteren Einbrüchen in das Rrichsrecht entgegentretensollte. Die Gerichte sind dazu nicht ausreichend, weil sie bald so,bald so entscheiden und nur durch Zufall eine Sache an das Reichsgerichtgelangen kann; dann, weil auch dieses verschiede» urteilen kann undgeurteilt hat. Vor allem aber widerspricht es dem Gedanken einestHechtSstaates, daß einzelstaatliche Gesetze sich als Eingriff in dieReichSverfassung darstellen, denn die Beamten haben einen Eid aufdie Verfassung geleistet und jeder VerwaltungS- und richterliche Be-amte, der ein der Reichsverfassung widersprechendes Gesetz zur An-Wendung bringt, begeht einen, wenn auch straflosen Meineid. Aberviel schlimmer, als be» jener Streikpoftenvcrorditung ist, daß bei demGesetze gegen die ländlichen Arbeiter und im vollen Bc-wußtsein des Verstoßes gegen Verfassung, Reichsgesetze seitAnsang der Wer Jahre als Ausnahmegesetze geschaffen werden.Von der ganzen Rechtswissenschaft ist übereinstimmend der allgemeineGrundsatz ausgesprochen worden, daß die partikulare Gesetzgebungsolche Gegenstände nicht begreifen kann, die entweder dem Wortlautoder der ganzen Richtung nach bereits von der Reichs-Gefetzgebungin Angriff genommen find, lieber diesen Grundsatz herrscht absoluteEinigkeit unter allen Juristen. Ob mittelbar oder umnittelbar, durchSchweigen oder durch Anordnung, ein Gebiet durch Reichsgesetz inAngriff genommen ist, Treu und Glauben verlangt, daß dir Einzel-staaten sich von ihm fernhalten. ES bedarf nicht einmal einer ausdrücklichenRegelung im Gesetz. Es genügt, daß der Reichstag die Einführungeiner entsprechende» Bestimmung abgelehnt hat und daß der Geistder Reichsgesetzgebung dem Sinn der Partikulargesetze widerspricht.Da ist nicht die Ueberschrist. sondern die Auslegung nach Treu undGlauben entscheidend. Einen dieser allgemein anerkannten Grund-sätze hat der Justizminister im Abgeordnetenhause geleugnet. Ermeinte, weil das Strafgesetzbuch diese Materie nicht ausdrucklichregelte, könnte partikulares Strafrecht eingreifen. Aberdiese Auffassung ist vom Reichsgericht bei der Beihilfeund Verleitung zum Selbstmord, bei der partikularen Ausdehnungdes groben UnfugSparaaraphen entschieden abgelehnt worden. Freilich.wenn man nach dem Prinrip des Fürsten Bismarck nur Richter aus-sucht, die erkennen, wie er will, dann wird auch die Gefahr starker.daß auch derartige Gesetze für gültig erklärt werden. Dieses Gesetz.das ein System der Aushungerung und Verrufserklärung gegen dieArbeiter einführt, widerspricht dem Standpunkt der persönlickenFreiheit, der Gleichheit aller vor dem Gesetz. Wo innerhalb derpreußischen Gesetzgebung steht es, daß die preußischenGroß-grundbesitzer ausgehungert werden sollen, wenn fie ihrenArbeitern die Kontrakte brechen?....Die Großgrundbesitzer sehen sich offenbar gezwungen, mit diesemGesetzentwurf in die persönliche Freiheit der Landarbeiter einzugreifen,weil fie eS durch ihre schlechte Behandlung und schlechte Entlohnungdahin gebracht haben, daß die italienische Regierung und dergalizische Landtag und auch die russischen Behörden ihre einheimischenArbeiter auf das dringlichste davor warnen, nach Deutschland inArbeit zu gehen. Da» ist der Hauptanlaß, warum versucht wird,ein derartige» Gesetz zu machen. Man hat die Lage der ländlichenArbeiter so jammervoll gestaltet, daß selbst italienische und galizischeArbeiter davonlaufen. Ich werde Ihnen nachweisen, daß dieses Gesetzso offenbar gegen verschiedene Reichsgesetze verstößt, daß selbstein Justizmimster darüber Inicht im Zweifel sein konnte. In derLerfassung heißt eS: Das Reich ist ein Bund zum Schutze des inner«halb desselben geltenden Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrtdes Deutschen Reiches. Femer wird darin bestimmt, daß Reichsgesetzvor Landesgesetz geht, und daß Bestimmungen über Freizügigkeit,Gewerbebetrieb, über das gesamte Bürgerrecht und Strafrecht derRegelung durch das Reich vorbehalten sind. Gegen diese Verfassungs-bestirnmungen verstößt das preußische Gesetz offenbar, indem es sichanmaßt, in ein Gebiet hineinzukommen, das ausdrücklich dem Reichevorbehalten ist. Warum kommt man nicht mit dem Entwurf an das Reich?Ich will es Ihnen sagen: weil das Reich Ihnen einen derartigen Gesetz-entwurf vor die Füße werfen würde. sSehr richtig! bei den Social-demokraten. Unruhe rechts.) Im Landtage haben ja dieCentrumsherren Herold und Klose für den Gesetz-entwurf gestimmt, sie haben ihn gefordert- Herr Klose hat noch be-sondere Vertragsbruchstrafen gegen Arbeiter verlangt. In derkatholischen Presse aber ist das Gesetz auf dieselbe Stufe mit derZuchthausvorlage gestellt worden.(Lebhaste Zustimmung bei denSocialdemokraten. Unruhe rechts.)Ich kenne kein Gesetz, das derartig in der schlimmsten Weisedem Arbeitswucher Vorschub leistet, der in so hinterlistiger Weisedenselben Erfolg zu erzielen sucht wie das Leibeigenschaftsgesetz.(Lebhafte Zustimmung bei den Socialdemokraten; Unruhe rechts.)Wehe dem Arbeiter, der sittlich und menschlich genug ist. einenArbeiter in Schutz zu nehmen, der der Knute seines Herrn davon-läuft. Er verfällt dem Kontraktbruchgesetz. Wollen Sie etwa, daßdas in der Verfassung ausgesprochene Wohlwollen des Reiches auf-hören soll für den ländlichen Arbeiter? Das Gesetz widersprichtauch offenbar dem Princip der Freizügigkeit, wonachjeder Deutsche das Recht haben soll, sein Brot zu suchen,wo er es findet. Der Großgrundbesitzer darf ungestört fortgesetztSchulden machen, wenn aber sein Arbeiter ausgerissen ist, weil erseine sittliche Würde wahren wollte(Lachen rechts.)...— Nun, ich werdeIhnen nachher Beispiele geben und ich nehme an. daß sie sovielsittliche Würde haben, daß Sie in diesen Fällen selbst den Arbeiternden Rat gegeben hätten, das Arbeitsverhältnis zu fliehen.Weiter werden Grundsätze der Gewerbe-Ordnung durch das vor-liegende Gesetz verletzt. Es ist eigentümlich, daß der Justizministerdes größten Staates in Deutschland nichts davon hat entdeckenkönnen, ß 1 der Gewerbe-Ordnung sagt, der Betrieb eines Gc-werbes steht jedermann frei, soweit nicht durch dieses Gesetz Ans-nahmen oder Beschränkungen vorgesehen sind.§ 41 desselbenGesetzes bestimmt, daß in Bezug auf Zahl und Ort der von einemGewerbetreibenden anzunehmenden Arbeiter keinerlei Be-schränkungen festgesetzt werden dürfen außer den inder Gewerbe- Ordnung selbst enthaltenen. Nun hat impreußischen Abgeordnetenhause ein Nationalliberaler Abgeordnetererklärt, der§ 144 der Gewerbe-Ordnung rechtfertige dasKontraktbrnchsgesetz. Wie lautet nun dieser Paragraph? Esheißt dort: Inwiefern, abgesehen von den Vorschriften über dieEntziehung des Gewerbebetriebes. Zuwiderhandlungen von Gewerbe-treibenden gegen ihre Berufspflichten außer den in diesem Gesetzerwähnten Fällen einer Strafe unterliegen, ist nach dem bestehendenGesetz zu beurteilen. Ich hänge diesen Paragraphen niedriger, umes zu kennzeichnen, daß einer Ihrer Freunde im Landtag diesenParagraphen, der absolut nichts damit zu thun hat, heranzog, umdas Kontraktbruchgesetz als berechtigt hinzustellen. Eine solcheHinderung Arbeitswilliger, in Dienst zu treten, ist empörendund niederträchtig.(Zurufe rechts.) Ich weiß wohl, daß eineverwirrende Presse es so darstellt, als ob sich das Gesetz garnicht gegen die Arbeiter richtet, aber ich sehe ganz ab von der lieber-schrist„zur Erschwerung des Kontraktbruches ländlicher Arbeiter".Wer will behaupten, daß sich die Hungerstrafe der Verrufserklärungnicht gegen die Arbeiter richte? Das hieße sie geradezu verhöhnen.Gegen eme solche Presse, die flir gute Bezahlung den Interessen derGroßgrundbesitzer dient und schreibt, was sie selbst nicht glaubt, lohntes sich überhaupt nicht mehr ein Wort zu verlieren.(Ironische Zu-stimmung und große Heiterkeit rechts.)Der ganze Gesetzentwurs steht ferner im Widerspruch zu den§§ 35 und 38 der Gewerbe-Ordnung, die die gewerbsmäßige Ber-nnttelung von Arbeitsstellen ausreichend und erschöpfend regeln.Auch für sie gilt 8 1 des Gesetzes in vollem Umfange. Noch imJahre 1899 hat der LandwirtschaftSminifter Freiherr v. Hammersteinim Landtage sich auf eine reichsgesetzliche Regelung dieser Frage be-rufen, und im Jahre 13<X) ist auf Antrag besonders des Herrn Gampeine Bestimmung hierzu in die Gewerbe-Ordnung eingefügt worden.Damals, 1899 und 1900, erklärte der ganze Reichstag einmütig,daß ausschließlich die Reichsgesetzgebung für diese Frage zuständigsei. Jetzt sollen parttkularrechtlich die Stellenvermittler bestraftwerden, die angeblich Vertragsbrüchigen Arbeitern neue Stellen ver-schaffen. Die Verteidigung, die Justizminifter Schönstedt dieser Be-stimnumg hat zu teil werden lassen, wird weder dem Wort-laut noch den» Princip der Gewerbe- Ordnung, weder derJuristerei noch dem gesunden Menschenverstände gerecht. Ge-wiß erlaubt die Gewerbe- Ordnung der Landes- Central-behörde, über den Umfang der Befugnisse und Verpflichtungender Gewerbevermittler Bestimmungen zu treffen; über den Umfang,nicht aber erlaubt sie ihr Beschränkungen oder Versagung der Stellen-vermittelung festzusetzen. Herr Schönstedt meinte, es handle sich umeine allgemeine Drohung, die jeden, nicht nur die Stellenvernnttlertreffe. Aber wie nennt man den; der auS Gewinnsucht Stellenvermittelt, anders als Stellenvermittler? UebrigenS istdas ganze Kontraktrecht, soweit seine strafrechtliche Seitein Betracht kommt, im Strafgesetzbuch erschöpfend ge-regelt. Das ist z. B., als der Kontraktbruch der Schiffer unterStraf« gestellt wurde, ausdrücklich anerkannt. Es ist ausdrücklichbetont worden, daß nur ein jüngeres Reichsgesetz solche Strafenfestsetzen könne. So wenig der Kontraktbruch direkt bestraft werdendarf, darf er indirekt durch Bestrafting des Arbeitgebers, der einenKontraktbrüchigen in Dienst nimmt, unter Strafe gestellt werden.Wollte ein Minister vorschlagen, den Kranken zu bestrafen,der einen Arzt in Anspruch nimmt. der andern Krankengegenüber seinen Verpflichtungen nicht gerecht gewordenist, man würde ihn für unzurechnungsfähig halten. Aber die länd-lichen Arbeiter unterstehen ebenso gut der Gewerbe-Ordnung. wiedie Aerzte. Nebenbei bemerkt widerspricht der Entwurf auch demGesetz über den unlauteren Wettbewerb. Nach der Behauptung derAgrarier soll eS ja eine Art unlauterer Wettbewerb sein, wenn derKleinbauer einen Arbeiter in Dienst nimmt, der seiner schlechtenLöhnung und Behandlung entlaufen ist. Aber auch diese Materie istin dem genannten Gesetz erschöpfend geregelt und kann im Wege derParttkulargesetzgebung nicht ergänzt werden. Zweifellos verstößt dasGesetz, indem es das System der schwarzen Liste» und die Verrufs-erllärung von Arbeitern aufstellt, gegen dir gute» Sitten. SelbstHerr v. S t u m n» hat zugegeben, daß schwarze Listen einen Verstoßgegen die guten Sitten bedeuten. Der preußische Justizminister be-ruft sich auf ein Urteil des Kammergerichts vom Jahre 1902, dasin Meiningen und Anhalt die Bestrafung des Kontraktbruchs fürberechtigt anerkannt habe. Die Sache liegt aber nicht so,daß ein Gesetz deshalb rechtmäßig erlassen ist, weil sichbestimmte Richter gefunden haben, die das Unrechtmäßigedesselben nicht zu erkeimen vermochten. Ich erinnere auch daran,daß der bekannte Kammergerichtsrat Havcnstcin Anfang 1902 widerseinen Willen deswegen von dem Beisitz beim Straffenat des Kammer-gerichts entfernt wurde, weil er wiederholt für die Ungültigkeitserklärungvon Polizeiverordnungen mit Erfolg plädiert hat. Ich erinnere auchan die jetzt herausgegebenen Aufzeichnungen des früheren Staats-sekretärS des Reichs-JustizamtS Bosse. Er erzählt, wie Fürst BismarckeS verstanden hat, nur politisch durchaus zuverlässige Leute in diehöheren Richterstellcn zuzulassen. Unter solchen Umständen hatdie Berufung des preußischen Justtzministerö auf das Urteil desKammergerichiS wenig wert. Das Kammergericht kann ja sogarso zusammengesetzt werden, daß es die Aufhebung der Reichsverfassungfür vollkommen legal erklärt.(Lachen recht».)Ich habe neulich gesagt, Miguel habe am 4. Februar 1900 gesagt, die ganze Frage gehöre zur Kompetenz deS Reichstages.(Hört!hört! links.) Dabei höbe ich mich geirrt.(Aha I rechts.) Es warnämlich am 10. Februar 1899.(Große Heiterkeit.) In dem Protokollderselben Sitzung des sogenannten preußischen Abgeordnetenhauses(Große Heiterkeit) hat sich der Landwirtschaftsminister ihm voll-kommen angeschlossen. Und jetzt nach fünf Jahren sagt der Landwirt-schastsminister: Was wir brauchen, müssen wir haben.Wenn die Mehrheit will, warum denn nicht? Ob noch ein paargeschworene Verfassungen darunter zu Grunde gehen— unterKameraden ist das janz ejal.(Große Heiterkeit links.) Und weilnun die Arbeiter so schlecht bezahlt, so schlecht behandelt werden,daß sie trotzdem weglaufen, beanttagt jetzt das Ministerium, fie zubestrafen. Das ist ja das Charakteristische, daß Preußen sich heraus-nimmt, Gesetze, die im Reichstage unmöglich angenommenwerde» könnten, auf dem otlmwege einzelstaatlicher Gesetze zurGeltung zu verhelfen, daß es systematisch das Reich miyachtet.Und als wir im Juni 1900 hier im Reichstag diese Frage behandelten,erklärte Herr Bassermann, und mit noch mehr Energie Herr Spahnvom Centrum. daß die Bestrafung des KontraktbrucheS ausschließlichvom Reich festgesetzt werden könne. Selbst Herr Dr. Oertel sprachsich gegen das Vorgehen seiner Parteifteunde aus. Nur wenn dieStellung der Landarbeiter gehoben würde, die jetzt immer noch alSArbeiter zweiter Klasse behandelt würden— wohl allerdings da, wodie Gesinnungsgenossen des Herrn Dr. Oertel Arbeitgeber sind— werdedie Landflucht abnehmen.(Sehr wahr! links.) Diese Gleichstellungsei eine Fordenmg der Gerechtigkeit, der man sich auf die Dauernicht werde entziehen können.Wir wenden uns an die verantwortliche Stelle; was gedenktder Reichskanzler gegen diese Untergrabung des Reichs und der be«stehenden GeiellschaftSordnung zu thun? Denn die bestehendeGesellschaftsordnung beruht; auf Gleichheit deS Einzelnen vor demGesetz. Hier aber sollen Heloten. Sklaven gezüchtet werden. DieLandarbeiter haben Anspruch auf Schutz, sie haben Anspruch darauf,daß diesem Einbruch in die Reichs-Gesetzgebung entgegengetretenwird von der Stelle, die dazu da ist, von feiten des Reichskanzlers;sie haben Anspruch auch auf den Schutz aller Parteien des Reichstages. Am meisten hat mich gewundert, daß das Centmm im Abgeordnetenhause für das Konträttbruchgesetz eingetreten ist. Noch 1864erklärten die Reichensperger derartige Bestimmungen für einenSchlag ins Gesicht der Gerechtigkeit, der im Widerspruch stehemit der persönlichen Freiheit der Arbeiter. Jetzt haben Sie denEinbruch in die Reichsgesctzgebung gutgeheißen, jetzt wollen Sie denbestrafen, der der Sittlichkeil und der Familienordnung entsprechendeRatschläge giebt, jetzt wollen Sie die Landflucht den Arbeiternwehren. Einzelne Leute gehen ja weiter und hoffen, daß diekujonierten Landarbeiter zu Gewaltniaßregeln greifen werden. Ichdenke, die Landarbeiter werden klug genug sein, wenn sie zu Gewalt-maßregeln greifen, die Hoffnung auf Gegenschläge zu nichte zu machen.Sie spannen den Bogen so scharf, daß Sie den Einzelnen zu Ge-walttnaßregeln geradezu aufreizen, zu Gewaltthätigkeiten gegen die-jenigen, die ihm solche Ausnahmestellung zuweisen. Ich habe Ver»träge von Saisonarbeiter», Schnittern usw. gelesen, die nach Formu«laren der brandenburgischen und fchlesischen Landwirtschaftskammerabgeschlossen waren. Ich will sie Ihnen nicht vorlesen, nur das einewill ich sagen, daß einem beim Durchlesen die Schamröte ins Ge-ficht steigt.(Lachen rechts.) Auch darüber, daß jetzt die Landwirt-schaftskammern sich Mühe geben nachzuweisen, wie man denArbeiten, noch schlechteren Lohn und noch schlechtererechtliche Stellung zuweisen könnte. Sie empfehlen Ber-träge, die von keinem gerechten Richter als zu rechtbestehend anerkannt würden, weil sie Wucher-, AuSbeutungs-, Hmiger«Lohnverträge sind. Aber die ländlichen Arbeiter haben ja keineGewcrbegcrichte und das Gesinde steht noch unter einem besonderenAusnahmegericht: und da wollen Sie jetzt der Unsittlichkeit, derZerreißung der Familienbande, der Bestialität noch weiteren Vorschubleisten.Ich will Ihnen nur in wenigen Fällen zeigen, was aus demLande möglich ist. Einem Hütejungen in, Kreise Neumark, der in-folge des Mangels an Schutzvorrichtungen im Betriebe verunglückte,wurde der Lohnbetrag für die Dauer der Krankheit vorenthalten;als er sich darüber beschwerte, schlugen ihn die Besitzer derartig mitder Reitpeitsche, daß er acht Tage arbeitsunfähig war. Sie wurdenmit Geldstrafen, 60 Mark, belegt. Sollen da die ländlichen Arbeiternicht Gelegenheit suchen, ihr Recht selbst zu nehmen?— Rednerträgt dann eine weitere Reihe solcher Fälle vor. Undwer gegen diese Ausbeutung, diesen Betrug, diesenWucher die Ausgebeuteten aushetzt, der soll bestraft werden?In einem Fall wurde ein Mädchen, das nach dem Zeugnis desArztes typhuskrank war, von seinem Gutsherrn und dessen Frau, dieerklärten, die Krankheit sei nur Faulheit, schwer mißhandelt. Sieverließ nachts 3 Uhr das Gut. erhielt aber trotz des Zeugnisses desArztes eine Verfügung des Amtsvorstehers wegen„widerrechtlichenVerlassen des Dienstes". Erst innerhalb Jahresfrist gelang eS seinerMutter durchzusetzen, daß die Verfügung aufgehoben wurde. Wennjemand diesem grausam mißhandelten armen Mädchen raten würde:Geh doch nicht zu diesem Unmenschen zurück, waS auch kommen mag,so wird er nach dem Kontraktbruch-Gcsetz bestraft.Ich glaube gezeigt zu haben, daß der Entwurf einen Einbruchin die verschiedensten Reichsgesetze darstellt. Ich frage den HerrnReichskanzler. waS er zu thun gedenkt, um solchen Verstößen gegenRecht und Gesetz, gegen Reichsgesetze und Verfassung, ja gegen jede»nienschliche Recht entgegenzutreten.(Lebhaftes Bravo! bei denSocialdemokraten.)Staatssekretär Dr. Nieberding:Auf die Uebertreibunaen deS Herrn Vorredner? gehe ich nichtein. ebensowenig auf seine persönlichen Spitzen gegen denpreußischen Richtcrstand und preußische Minister. Wenn er insbesonderegesagt hat, daß die Minister in Preußen mit Bewußtsein einen Ein-bruch in das Reichsrecht gethan hätten, indem sie dieses Gesetz ein-brachten, so richtet sich dieser Vorwurf nach meiner Meinung in denAugen dieses hohen Hauses von selbst.(Sehr richtig I rechts undUnruhe bei den Socialdemokraten.) Der zweite Teil der Jnter-pellation stellt Betrachtungen an über die eventuellen Wirkungen desKontraktbruch-GesetzcS. Hierüber steht dem Herrn Reichskanzler indiesem hohen Hause ein Urteil nicht zu.(Sehr richttg I rechts.) Fürihn kommt allein in Betracht die Frage, ob der Entwurf ein Reichs-gesetz verletzt. Ich muß zunächst den Inhalt des preußischen Gesetzentwurfs klarstellen, was der Herr Interpellant nach meiner Meinungnicht gethan hat.(Sehr richttg! rechts.) Der Entwurf desPreußischenGesetzeSist schwer zu verstehen.(Große Heiterkeitund Zustimmung bei den Socialdemokraten.) Er ist nur zu ver-stehe» im Zusammenhang mit den Ausführungen, die im Abgeordneten-hause bei der ersten Lesung gemacht worden sind. Er will lediglich.daß Strafe eintreten soll erstens, wenn jemand einen Arbeiter, derbis dahin zu landwirtschaftlichen Zwecken oder im Gesindedienstbeschäftigt war und von dem er weiß, daß er aus seinembisherigen Bertragsverhältnis gesetzwidrig, unter Kontraktbruchausgeschieden ist— wenn er einen solchen wiederum zu landwirt-schaftlichen oder Gesindezwecken verwendet. ES ist nicht die AbsichtdeS Gesetzentwurfs, die Beschäftigung solcher Leute bei andern außer-halb der Landwirtschaft oder des Gesindewesens stehenden Betriebenmit Strafe zu belegen. Das geht aus dem Wortlaut des Gesetzesnicht s» klar hervor.(Lebhaftes Hört! hört! bei den Socialdemo-traten.) Der Gesetzentwurf wird nach der Richtung hin z» ver-bessern sein. Wenn aber die Herren ernst sein wollen, so müssen fieauch die Motive und die Verhandlungen de» Abgeordneten-Hauses in Betracht ziehen und den Gesetzentwurf nichtbeurteile»»ach dem foimcllen Wortlaut.(Große Heiterkeitbei den Socialdemokraten.) Weiter werden durch den GesetzentwurfVermittler der vorbezeichneten Arbeiter bestraft und drittens Per-jonen. die solche Arbeiter zum Kontrattbruch verleiten. Die Auf