Staatsbürger, und russische Gesetze gehen uns gar n t chts an. In dem Strafantrag vcrbürgi die russische Ne- gierung dem Deutschen Reiche die Gegenseitigkeit und das genügt uns. Ei» Teil der Politischen Presse ist mit der ganzen Sache bereits fertig und ist der Ansicht, daß die Anklage zusauuncnfallcn wird. Ich beneide die Herren um die Schnelligkeit ihrer j u r i st i s ch e n Exegese. Es handelt sich nun darum, ob die Gegenseitigkeit ein Thatbestandsmerkmal oder eine Bedingung der Straf- barkeit ist. Das Reichsgericht hat in einem Falle entschieden, daß sie eine Bedingung der Strafbarkeit ist. Diese Entscheidung ist aber auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, iveil die Frage nur nebenbei erwähnt worden ist, so das? wir sagen können, das Reichs- gericht hat noch nicht entschieden. In den Motiven zur Novelle zum deutschen Strafgesetzbuch ist gesagt, das; die Bestimmungen, welche früher die Gegenseitigkeit der Verträge verlangten, nicht mehr dem Völkerrecht entsprächen; jede Regierung habe ein eignes Interesse daran, Leute, die gegen einen fremden Staat konspirieren, zu be- strafen. Diesen Ausführungen hat sich der Reichstag angeschlossen. In dem Kommissionsbericht heißt es, daß die Kommission der Ansicht sei, es verstehe sich von selbst, daß der fremde Staat einen Strafantrag stelle oder das Aus- wärtige Amt bei dem fremden Staate anfrage, ob er die Be- strafung der betreffenden Personen wünsche, weil er von dem Ver- brechen vielleicht keine Kenntnis habe. Der Berichterstatter der Kommission sagte:„Ich weiß sehr wohl, daß die Grundsätze, die wir bisher in dieser Beziehung in unserm Strafgesetzbuch gehabt haben, nämlich, die Bestrafung von der verbürgten Gegenseitigleit abhängig zu innchen, nicht mehr de» völkerrechtlichen Ver- Hältnissen entsprechen. Eine Reihe von Staaten hat zwar solche Gegenseitigkeitsverträge abgeschlossen, aber ich weiß auch, daß eine ganze Reihe von Staaten sich auf solche Verträge gar nicht einläßt. Diese Staaten geben sich damit zufnedeii, daß bei jedem einzelnen Fall die Gegenseitigkeit versprochen wird." Daraus geht hervor, daß man die Gegenseitigkeit nicht zur Vorbedingung der Strafbarkeit machen wollte. Damit fallen alle Einwendungen gegen die Zulässigkeit des Strafantrages zusammen. Ich glaube ja aller- dmgS, daß die Verteidiger bemüht sein werden, falls das Gericht sich ihren Ausführungen nicht anschließt, die Entscheidung des höchsten Gerichtshofes herbeizuführen. Nun zur Frage des Hochverrates. Die Tonart in den hier behandelten Schriften ist im Grunde überall dieselbe, hier etwas milder, dort schärfer. Man kann ihren Inhalt in die Worte zusammenfassen: Nieder mit dem Zaren! Es lvird zwar immer geschrieben: Zarismus, aber wenn ich jemand ins Gesicht schlage und dann sage: Ich habe dir gar nichts thun wollen, sondern ich wollte nur Deinen Stand treffen, so wird dieser auch nicht sagen: Ich habe gar keinen Anlaß, mich beleidigt zu fühlen. Ich loerde mich hierin mit den Ausführungen der Herren B n ch h o l z und D i e tz in Widerspruch setzen, nicht weil ich in ihre Aufrichtigkeit den geringsten Zweifel setze, sondern weil ich sie als Angehörige einer der Richtungen nicht für ganz objektiv halte. Es ist gesagt worden, daß die Parteiverhältnisse so liegen, daß es eine socialistische Arbeiterpartei mit einem Programm und eine socialrevolutionäre Partei ohne Programm giebt. Sind denn die Parteiverhältnisse sin Rußland wirklich schon so abgeklärt? Wir haben gesehen, daß diese Parteien viel zusammen arbeiten. Zwar ist die Partei der„Jskra" schon mit einem Programm, ähnlich dem Erfurter Programm, hervorgetreten, aber man weiß ja nicht, ob die revolutionären Parteien nicht das- selbe Programm haben und nur in der Taktik verschieden sind. Auch unter den deutschen Parteien, bei den Nationalliberalen in der Schulfrage und bei den Socialdemokraten anläßlich der Bernsteinschen Schriften kommen Differenzen vor, und wir sehen, daß die beiden genannten russischen Parteien sich gegenseitig unterstützen, wenn eine von ihnen angegriffen wird. O u e s s e l hat ja auch gesagt, daß die Gliederung der Parteien einfach die sei: Socialdemokraten mit und ohne Terror. Die äußerste Form ist: der Terror als Kampf- mittel. Es fragt sich, ob man Burzeff zu einer dieser Gruppen rechnen kamt. Herr D i e tz sagte, Burzeff werde von allen als kompletter Narr betrachtet, er ist rein pathologisch zu beurteilen. Die Gefährlichkeit seiner Schriften wird aber dadurch nicht kleiner. Es ist anch nicht erwiesen, daß Burzeff keine Gruppe hinter sich hat. Der Einfluß Burzeffs ist ganz unberechenbar. Wenn Sie noch be- denken, daß die Russen im Auslande sehr zusammenhalten und daß sie für revolutionäre Schriften sehr empfänglich sind, so können Sie die Gefährlichkeit der Burzeffschen Schriften, auch der angeblich rein historischen, ermessen. Bemerken möchte ich noch, daß die social-revolutionäre Kampf- organisation den Attentäter Balmafcheff und andre für sich in An- spruch genommen hat. Darin liegt überhaupt kein Unterschied zwischen den Socialdemokraten und den Socialrevolutionären, daß diese den Terror als offizielles stampfnnttel aufnehmen. Ist denn das wirk- lich eine Frage von so fundamentaler Bedeutung, die eine endgültige Trennung verlangt? Da sind viele Uebergänge, vor allen die Gruppe Radeschdins. Nadeschdin soll seinen früheren Standpunkt modifiziert haben. Principiell hat er seinen Standpunkt überhaupt nicht geändert. Im Hauptblatt seines„Echo" giebt er sich als Socialdemokrat, im Beiblatt steht er zum Terror ganz anders. Da spricht er sich zwar auch nicht socialrevolutionär aus, verlangt aber von der Socialdemokratie, daß ihre Parteileitung den Terror als Kampf- mittel organisiert. Damit komme ich zur letzten Stufe der russischen socialdemo- kratischen Arbeiterpartei. Gewiß hat die„Jskra"- Partei zahllose antiterroristische Artikel veröffentlicht, aber doch immer nur mit dem Zusatz:„gegen den exzitativcn Terror" oder„gegen den Terror als Kampfmittel". Da liegt die Erklärung einer südrussischen Partei- gruppe vor, die jedem freistellt, sich zu stellen, wie er will: es sei Sache des Temperaments: der eine antworte ans Peitschenhieve mit Selbstmord, Vera Sassulitsch mit einem Schuß. Nicht der politische Verzweiflungsmord, sondern der Terrorismus als Vergeltung wird empfohlen. Es soll gerade auf die späteren Zeiten eingewirkt werden. Die Regierung soll erschreckt werden, so will es anch die„Jskra". Nirgends wird jeder politische Mord klar und scharf verurteilt, nirgends für tief unsittlich und verwerflich erklärt. Was gegen den Terrorismus' spricht, ist mehr der Kauf- mann, der da sagt:„Was wird aus meinem Geschäft werden, wenn meine Konkurrenz mit dem zwar unsittlichen. aber sehr lockenden Mittel handelt?"„Ein großer Teil der Socialdemokratie erkennt den Terrorismus an und unterivirft sich nur dem Parteizwange", sagt Nadeschdin wohl mit Recht, und so bleibt es jedem einzelnen überlassen, Terrorismus zu üben. So haben sich die Angeklagten in einer vollständigen Täuschung befunden, wenn sie glaubten, die russische socialdemo- kratische Partei stehe mit ihrer Litteratm auf dem Standpunkt der deutschen Partei! Eine ungeheure Selbsttäuschung! Die deutsche Socialdemokratie betont unaufhörlich'durch ihre berufenen Vertreter, daß derartige Mittel ihr verhaßt seien, daß sie lediglich auf gcsevlichem Wege siegen will. Bei der russisch- socialistischen Litteratur kann es ganz dahin- gestellt bleiben, welcher Richtung die verbreiteten Schriften ange- hörten. Denn schon dadurch, daß die Angeklagten russisch-svcialistische Schriften in Rußland verbreitet haben, haben sie sich im Sinne des tj 102 schuldig gemacht. Herr Professor v. Ä e u ß n e r hat uns über die staatsrechtlichen Zustände Rußlands unterrichtet. UnS hat er nichts Neues gesagt. Wie kann ina» in Rußland auf friedlichem Wege die erstrebte Republik herbeiführen wollen, wenn es dort nicht einmal ein Petitionsrecht giebt? Da ist von vornherein nur Kämpf möglich. Sie werden doch nicht an- nehmen wollen, daß eines Tages der Zar unter dem Eindruck der socialdcmokratischen Lehren vom Thron steigt und nur Bürger unter Bürgern sein will? Es kann in Rußland nur die Frage sein, wer der Stärkere ist. Ich erinnere Sie nur an die merkwürdige Redensart vom„Blutvergießen". Sämtliche Angeklagte sind unzweifelhaft schuldig, die Verfassung des russischen Reiches haben ändern zu wollen, denn sämt- liche Angeklagte haben in bewußt willensinäßiger Thätigkeit social- demokratische Litteratur eingeführt. Beifügend habe ich nur noch zu bemerken, daß die Kenntnis hoher Beamten von ihrem Treiben die Angeklagten nicht entschuldigen kann; auch hochgestellte Personen können irre». Ich gehe zum Schluß auf die Zarenbeleidigungcn über. Objektiv vorliegend sind sie. Das beweisen deutlich die so zahlreichen und groben Beleidigungen. Trotzdem bin ich nicht in der Lage, deswegen Strafantrag zu stellen, weil in dieser Beziehung das rechtliche Material nicht vorliegt.(Bewegung.) Auch die Erwägung, daß sie in Schriften verwandter Art häufig vorkommen, würde nicht hinreichen, um den Angeklagten zuzurufen: Ihr mußtet wissen, was darin steht! Vor allem fehlt der objektive Thatbestand der Verbreitung der Schriften, die Majestätsbeleidigungen enthalten. Ich beantrage demnach, die Angeklagten ans Grund der 8§ 102 und 128 zu verurteilen und»ach§ 103 auf Einziehung der Schriften zu erkennen. Erster Staatsanwalt Dr. Schütze: Ich kann mich den ausführlichen Darlegungen meines Kollegen nur anschließen. Er hat meine gedrängten Ausführungen über Hoch- verrat treffend ergänzt. Ich füge thatsächlich noch hinzu, daß der Angeklagte Mertins nicht nur das Telegramm an Weßmann ab- gestritten hat, sondern auch, daß er die Pakete als Schuh- waren deklariert habe, loas ihm durch das Zeugnis Grieschkats nachgewiesen worden ist. Kugel und Kögst sind, wie uns Herr Dr. Rost mitgeteilt hat, in dem in Tilsit im Saumus-Prozeß beschlagnahmten Buch mit je 12 M. Belohnung als Schmuggler ein- getragen. Auch hinsichtlich der Majestätsbeleidignngen schließe ich»sich meinem Vorredner an." Ich bemerke aber, daß auf Einziehung der Schriften mir erkannt werden kann, wenn die Gegenseitigkeit als ge- geben angesehen wird. Für erwiesen erachtet die Anklagebehörde, daß die Angeklagten sich in realer Konkurrenz gegen die 8§ 102 und 128 vergangen haben. Nach dem Strafgesetzbuch ist auf F e st u n g s h a f t und G c- f ä n g n i s gesondert zu erkennen. Bei der Abmessung der Strafen wird davon auszugehen sein, in welchem Grade, für welche Zeit und mit welcher Intensität die Angeklagten sich an dem Treiben der Ver- bindung beteiligt haben, ob sie Vorstrafen erlitten haben oder noch unbestraft sind, und welchen Charakters die etwaigen Vorstrafen sind. Dann ist hervorzuheben, daß Braun schon viermal vorbestraft worden ist, darunter zweimal wegen Aufteizuug zum Klassen- haß, einmal wegen Majestätsbeleidiguug. Auch Nowagrotzki hat bereits ivegen Majestätsbeleidigung eine Gefängnis- strafe erlitten, Kugel und Kögst sind wiederholt, aller- dings wegen nichtpolitischer Vergehen, vorbestraft. Von der Zeit der Beteiligung ist zu sagen, daß Klein erst, seitdem er 1903 Ver- trauensmann geworden ist, sich an der Schriftenverbreitung beteiligt hat und daß man auch Nowagrotzki nur einen Fall ans jüngster Zeit hat nachweisen können. T r e p t a n dagegen ist seit 1900, Kugel seit langer Zeit, Mertins nach seiner eignen An- gäbe mehrere Jahre, K ö g st auch schon lange am Schriftenschmuggcl beteiligt. Auch Ehrenpfort sind mehrere Fälle nachgewiesen. In Berücksichtigung all dessen beantrage ich: Gegen Nowagrotzki auf Grund des§ 128(Teilnahme an einer geheimen Verbindung) drei Monate Gefängnis, auf Grund des Z 102(Hochverrat) sechs Monate Festungshaft; gegen Braun wegen derselben Vergehen vier Monate Gefängnis und acht Monate Festung, ebenso gegen Kugel sechs Monate Gefängnis und ein Jahr Festung; gegen Klein drei Monate Gefängnis und sechs Monate Festung; gegen T r e p t a u sechs Monate Gefängnis und ein Jahr Festung, gegen Mertins vier Monate Gefängnis und acht Monate Festung, gegen K ö g st zwei Monate Gefängnis und vier Monate Festung, gegen Ehrenpfort zwei Monate Gefängnis und vier Monate Festung und gegen P ä tz e l fünf Monate Gefängnis und zehn Monate Festung. Bei letzterem kommt in Betracht, daß er der Leiter des deutschen CeutralbureauS gewesen ist. Verteidiger Haase: Der Herr Staatsanwalt hat in den stärksten Worten seinem Abscheu über den Inhalt der einzelnen Schriften Ausdruck gegeben und im besonderen sich über diejenigen Personen entrüstet, die An- schlüge auf hohe Personen gemacht haben. Nur in dem Falle Karpowitsch neigte er zu einer milderen Auffassung, da dieses Attentat aus rein akademischen Gründen hervorgegangen wäre. Mir ist nicht klar geworden, welcher moralische Unterschied zwischen einem Attentat aus politischen und einem solchen aus akademischen Gründen besteht. Wahrscheinlich aber verstand er dieses Attentat seinem Milieu nach besser. Wenn man ei» Attentat aus den politischen Verhältnissen des Landes begreiflich !t, so billigt man es noch lange nicht. Ganz vermißt habe ich in den Ausführungen des Herrn Staatsanwalts ein Wort der Entrüstung über die politischen Zustände in Rußland , über die Willkür und Grausamkeiten, denen taufende hochsiuniger Männer und Frauen ausgesetzt sind. Von unserm deutschen Standpunkt aus können wir die scharfen Worte in den Schriften nicht begreifen. Man kann sie aber begreifen, wenn man die Urteile selbst hochstehender Männer in Ruß- land betrachtet. Ich erinnere nur an das Urteil des Grasen Leo Tolstoj in seinem Buche:„Du sollst nicht töten", und an seinen in der letzten Zeit erschienenen„Times"- Artikel, in welchem er den Zaren auch mit den Worten „Henker" und„Meineidiger" belegt. Dabei hat Tolstoj sich gegen jede Geivalt, selbst in der Notwehr, ausgesprochen. Nach dem Erscheinen des„Times"- Artikels hat die russische Negierung beraten, ob sie nicht doch gegen Tolstoj strafrechtlich vorgehen müßte, aber sie that es nicht, weil sie wußte, daß dann die ganze gebildete Welt sich zu seinen Gunsten erheben würde. Soll man denn glauben, daß diese Zustände in Rußland ewig find? Der Herr Staatsanwalt hat uns keinen Weg zu ihrer Aenderung angegeben. Ist es denkbar, daß ein kraftvolles Volk, welches Männer wie Tolstoj , Dostojewski , Puschkin, Turgenjew , Tschechow und Gorki hervorgebracht hat, dauernd unter diesen Zuständen leidet? Das Volk müßte dann moralisch zu Grunde gehen! Aus den Schriften klingt eine Sehnsucht heraus nach Kultur, nach der Aufnahme in die Familie der we st- europäischen Völker. Auch ans den Darlegungen des Herrn Professors V. Reußner klang der Schmerz über die Zustände in seinem Vaterlande heraus. Einige Male hörten wir das Wort „leider", daS er im nächsten Augenblick gleichsam verschlucken wollte. Als ich zum erstenmal von Burzeff hörte, dachte ich, das müßte ein Mann sein, der alles von unten nach oben kehren will. Aber er ist ja nach dem Inhalt seiner Forderungen nicht einmal ein bescheidener Radikaler. In seiner Schrift:„Nieder mit dem Zaren!" sagt er:„Wir werden sofort ebenso entschieden gegen den Terror sein, wenn wir in Rußland eine freie Bewegung haben, wie wir jetzt für denTerror sind." Als das Attentat gegen den Präsidenten G a r f i e l d in Amerika verübt wurde, da wurde von den russischen Revolutionären aufs schärfste dagegen protestiert und gesagt: In einem fteien Lande ist ein Attentat ein eben solcher Despotismus, wie der, den man in Rußland beseitigen wolle. In allen Schriften kommt die Sehnsucht nach einer freien modernen Entivicklung Rußlands zum Ausdruck. Alle diese Revolutionäre sind glühende Patrioten. Es ist eine ganz falsche Auffassung, wenn man davon ausgehen wollte, daß sie blutdürstige Leute sind. Wir haben ja in der letzten Zeit gesehen, daß selbst ein so monarchischer Mann wie der Finnländer Schauman zum Attentat getrieben wurde. Alle Zeitungen, selbst die„Post", haben dieses Attentat als begreif- lich anerkannt. Wir haben gestern gehört, daß in Kischinew mit Be- willigung der Regierung 45 Personen getötet und 600 verwundet wurden. Wenn in Deutschland Graf Pückler in einer Broschüre zur Ermordung aller Juden auffordert, so ist das seine Sache. Er steht nicht unter der Censur. Aber wenn in Rußland zu diesen Mordthaten aufgefordert wurde, so geschah es unter Be- willigung der Censur und der Regierung. Wie sind denn die Zustände in Rußland ? Von Recht und Gesetz ist dort keine Rede, die Arbeiter haben keine Koalitionsfreiheit, die Unabhängigkeit der Richter, die einzige garantierte, wird immer mehr illusorisch gemacht durch die Ein- setzung von Hilfsrichtern. Der Gouverneur Fürst Obolenski läßt einmal alle Männer eines friedlichen Dorfes in Gegenwart ihrer Frauen durchpeitschen und dann die Frauen in Gegenwart ihrer Männer durch die Kosaken vergewaltigen. Das war das Hauptmotiv für das Attentat auf den Fürsten Obolenski. Es ist in Ruß- land auch nicht gestattet, zu einem andern Glauben überzutreten. Sie haben ja gehört, was Burzeff in seine furchtbare Gemüts- Verfassung gebracht hat: Die entsetzliche Roheit im sibirischen Kara- Zuchthause, einem jungen Weibe hundert Peitschenhiebe auf den nackten Körper zu geben, ist eine selbst in Rußland noch nicht da« gewesene Exekutton!(Rufe des Entsetzens aus dem Zuhörer- r a u m.) Wenn man Frauen, die in friedlicher Weise über ihre Wirt- schaftliche Lage beraten, mit dem gelben Billet versieht und als Prostittiierte brandmarkt, so wird man die Attentate, wenn auch nicht billigen, so doch entschuldigen können. So haben wir gestern vom Zeugen Buchh olz gehört, daß lange Zeit in friedlicher Aktion verstrich und erst eine Bnitalität den Schuß der Wera Sassulitsch hervorgerufen hat. In den Verteidigungsreden der Mörder Alexanders II. klingt noch immer der Schmerz hindurch über das Ende der„schwärmerischen, rosigen Jugend". Sie bedauern, daß sie kämpfen mußten, weil das Bater- land ihr Opfer wollte. Man kann diese Attentate für verwerflich und und polittsch schädlich halten— Heroismus aber liegt in dieser Selbstaufopferunng. Und wieder kamen lange friedliche Zeiten. Als aber Bogelepoff die Studenten, die ihn bei einem akademischen Festatte auspfiffen, mit Peitschenhieben und Blei verwunden ließ, da brach jene Empörung aus, die die nächste Reihe der Attentate zur Folge hatte. Die Studenten verlangten die Absetzung des KosakenhauptmanuS und— eine merkwürdige Thatsache!— der Bericht Wannowskis und Witte 5 gab ihnen recht. Aber was geschah? Die Studenten wurden mit der Einreihung ins Militär bedroht, gleichviel ob sie gesund oder Krüppel waren. Und als das Gerücht umging, daß einige von ihnen erschossen worden wären, ein Gerücht, das geglaubt werden konnte, weil die unterdrückte Presse in Rußland es nicht berichtigen konnte, — da verließ Karpowitsch, ohne seinen Freunden ein Wort zu sagen, in seinem tiefsten Innern als Mensch und Kommilitone auf- gerüttelt, Berlin und ermordete den Kultusminister. Wer will leugnen, daß der Gedanke so manchem kommen muß: „Wer so brutal handelt, wie dieser Minister, der muß beseitigt werden." Wir alle bedauern und empfinden es schtKerzlich, daß es so weit kommen mußte, aber wir begreifen die Theten, wir begreifen es, daß Lagowski seinen Angriff gerade auf PobjedonoSzew richtete, der jeden Versuch einer fteieren Bewegung in Rußland mit der Knute unterdrückte. Auch S s i p j a g i n war in einer für die ganze Kulturwelt unerhörten Weise vorgegangen. Bedenken Sie, daß ein russischer Kultusminister in Rußland Studenten erlaubt hat, Versammlungen abzuhalten, um gegen die infamen Beleidigungen, die der Herausgeber des„Grash- danin" gegen sie gerichtet hatte, zu protestieren, und daß ein Ssipjagin ihre Protestkundgebungen unterdrückte. Dazu kam ein in Deutschland ganz unbegreiflicher Vorgang, daß man verbot, für hungernde Bauen» Sammlungen zu veranstalten und das Elend durch private Mildthätig- keit zu lindern. Und nun zu Wahl. Friedliche Arbeiter demonstrieren in W i l n a am Sonnabend vor dein 1. Mai und lassen die konstituttonelle Freiheit hoch leben. Nach ihrer Verhaftung empfängt sie Wahl mit den Worten:„Für Euch habe ich etwas Besonderes" und läßt sie ans den entblößten Körper peitschen. Wir haben gehört, daß einige nach den ersten Schlägen ohn- mächtig geworden sind. Die Gefängnisaufseher und die Bewohner der umliegenden Hänser flüchteten weit weg vor dem entsetzlichen Wehgeschrei. Muß sich da nicht ein Freund und Mitarbeiter, dessen (riedliche Kampfgenossen so aller menschlichen Würde beraubt wurden, lagen, daß jemand, der derartige Brutalitäten verübt, nicht weiter leben darf? Damit komme ich sofort zur, Stellung der einzelnen politischen Parteien zum Terrorismns. Der Herr Staatsanwalt hat eine scharfe Grenze nicht inne- gehalten, sondern sich selbst ein ungefähres Bild zurecht gemacht und glaubt sich objektiver und weitsichtiger als die Zeugen Dietz und Bnchholz, dessen Sachkunde wir in den letzten Tagen angestannt haben. Ich muß gestehen, ich habe vqn Buchholz und Herrn Professor v. Reußner manches gehört, was ich mir trotz meiner Stellung im öffentlichen Leben nicht hätte träumen lassen. Der Staatsanwalt verglich die Parteien in Rußland mit den Strömungen innerhalb der nationalliberalen Partei oder der Socialdemokratie. Aber da haben wir doch eine einheitliche Organisation, und wer sich nicht fügen will, scheidet eben ans. In Rußland aber haben wir ganz verschiedene Parteien mit grundverschiedenem Programm, ver- schieden in ihrer Stellung zur Intelligenz, zu den Arbeitern und zu den Bauern, ganz verschieden in bezug auf ihre Taktik, und des- wegen gerade schärfste Gegner. Wir haben in Rußland ganz ver- schiedene Parteileitungen, verschiedene Pretzerzeugnisse, verschiedene Versandstellen. Axelrod und Plechanoff haben nichts mit den Socialrevolutionären gemein, es sei denn, daß ein Maifest- Flugblatt, aus das der Staatsanwalt, wie er in der Verhandlung ankündigte, noch zurückkommen wollte. Aber er wird doch nicht deshalb, weil er mit den Nalionalliberalen in einer Versammlung gegen das Umsturzgesetz protestiert hat. den nattonalliberalen Pro- fessor Prutz der Hinneigung zur Socialdemokratie verdächtigen! (Heiterkeit.) Alle Zeugen und Sachverständigen haben überein- stimmend bekundet, daß die russische Socialdemokratie in der schärfsten Weise den Kampf gegen den Terror in jeder Form führt, gegen den Terror des Einzelnen und gegen den Terror einer Partei. Es wird mit aller Entschiedenheit ausgesprochen, daß man unmöglich allen Mitgliedern einer Partei die Verpflichtung auferlegen könnte, Gewaltakte mit Gewaltakten abzuwehren. Aber die Art der Abwehr
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