Auf der elektrischen Hochbahn wurde in der vergangenen Nacht ein Mann, dessen Persönlichkeit bisher noch nicht ermittelt worden ist, von dem um 12 Uhr 43 Minuten vom Halleschen Tor nach Warschauer Brücke fahrenden Znge ungefähr 200 Meter hinter erstgenannter Haltestelle überfahren. Der Verunglückte muh un- bemerkt von den Bahnbeamten die abgesperrte Bahnstrecke betreten, zwischen den Schienen in der Richtung nach der Haltestelle Prinzen- straf, e zu weiter gegangen und dabei zu Fall gekommen sein. Als der Zug mit vo"er Geschwindigkeit diese Stelle erreicht hatte, sah der Zugführer unmittelbar vor dem ersten Wagen eine Gestalt aus dem Gleise auftauchen, worauf er sofort mit allen ihm zu Gebote stehenden Bremsmitteln den Zug zum Stehen brachte, bei der hohen Fahrgeschwindigkeit den Unfall jedoch nicht mehr verhindern konnte. Der Verunglückte, dem außer schweren Verletzungen am Kopf und rechten Arm der rechte Unterschenkel abgefahren war. wurde von den Bahnbeamten sofort nach der nahegelegenen Unfallstation I am Tempelhofer Ufer geschafft, wo er infolge Schädelbruchs bald darauf verstorben ist. Die gefällige Landsmännin. Ein ftüheres Dienstmädchen Anna ProSkowska, dem das Arbeiten nicht mehr gefiel, trieb sich seit einiger Zeit auf den Bahnhöfen umher, um stadtunkundige Lands- männinnen abzufangen und auszuplündern. Mit Vorliebe benutzte sie den Stettiner Bahnhof als Standort. Hörte sie von einem An kömmling polnische Heimatslaute, so machte sie sich heran, lud die Fremde ein, sich ihrer Führung anzuvertrauen, damit sie nicht den schlechten Berlinern in die Hände falle, und bot ihr für eine Nacht ein Unterkommen in ihrer Häuslichkeit an. Die unkundigen Mädchen Ivaren froh, gleich eine so gefällige Landsmäninn gefunden zu haben, ließen sie das Gepäck m Verwahrung geben und vertrauten ihr auch ahnungslos den Gepäckschein an. Nun schleppte die Bauern fängerin ihre Opfer auf Kreuz- und Querwegen so weit vom Bahnhof weg, daß sie sich sobald nicht wieder zurechtfanden, verschwand dann von ihrer Seite, fuhr rasch nach dem Bahnhofe zurück, ließ sich das Gepäck aushändigen und brachte die Beute nach Hause. Wenn die Mädchen sich endlich mit vieler Mühe nach dem Bahnhofe zurück- gefunden hatten, war ihre freundliche Landsmännin mit ihren Sachen längst verschwunden. Gestern kam gerade ein Kriminalbeamter dazu, als sie wieder mit einem Opfer den Stettiner Bahnhof verließ. Er folgte ihr unbemerkt auf allen Wegen, und als sie dann wieder ihre Begleiterin stehen ließ, fuhr er noch schneller als sie nach dem Bahn- Hofe zurück. Bald kam sie mit dem Gepäckschein. Sobald sie aber die Beute in Empfang genommen hatte, griff der Beamte zu. Erst nach Stunden erschien die Geprellte, die nun ohne Schaden davon- kam und ihre Irrfahrten beschrieb. Die Bauernfängerin wurde von der Kriminalpolizei nach Moabit in Untersuchungshaft gebracht. Sie ist geständig, hat aber das Manöver wahrscheinlich schon öfter ge- macht, als sie bisher zugibt. Zu der Familientragödie in der Prinz Engenstraße 12 wird mitgeteilt, daß die Leichen der vier Opfer, der Manrerfrau Agnes Glenz und der von ihr erdrosselten Kinder von der Staatsanwalt- schaft zur Beerdigung nunmehr fteigegeben worden sind. Ob sie gemeinsam bestattet werden, steht noch dahin, da Frau Glenz katholisch, ihre Kinder dagegen evangelisch getauft waren. Fenerbericht. Die Brandchronik der letzten 24 Stunden ist wieder eine sehr reichhaltige. Dienstag ftüh gegen 7 Uhr wurde die Wehr nach der Roßstr. 7 gerufen, weil hier im Erdgeschoß des rechten Seitenflügels in der Akkumulatorenladestation„Elektra" von Erich Markert durch Kurzschluß in einem Akkumulator ein Feuer ausgekommen war. Der 20. Löschzug war schnell zur Stelle und konnte die Gefahr leicht beseitigen.'— In der Turmstr. 41 gingen vorher Gardinen und Decken in einer Wohnung in Flammen auf, während in der Kommandantenstr. IS im 5. Stock des OuergebäudeS in einem Fabrikraum Kisten und Verpackungsmaterialien brannten. — Einen Schornsteinbrand gab es dann in der Grenzstr. 11 zu be- obachten.— Gegen Abend waren in der Leipzigerstr. 130 in dem im vierten Stock belegenen photographischen Atelier von Schaar- Wächter Möbel und Portieren in Brand geraten, der indes vom 19. Löschzuge in kurzer Zeit abgelöscht werden konnte.— Kleider und Wäschestücke�wurden zur selben Zeit in der Köpenickerstr. 7 durch Feuer vernichtet.— Nach der Koloniestr. 147 wurde die Wehr gegen Mitternacht gerufen, weil dort eine Automobildroschke brannte.— In der Raunynstr. 3 und in der Königsüergerstr. 10 mußten abends Zimmerbrände, bei denen im wesentlichen Möbel und Decken be- schädigt wurden, beseitigt werden.— Alle übrigen Alarinicrungen, die noch aus der Wilhelmstr. 62, Gneisenaustraße usw. einliefen, waren auf ganz unbedeutende Feuer zurückzuführen, die ein sonder- liches Eingreifen der Wehr nicht erforderten. Theater. Im L e s s i n g- T h e a t e r ist die Premiere von Max Dreyer's Schauspiel„Die Siebzehnjährigen" auf Ende nächster Woche verschoben worden. Am Sonnabend, den 12. d. M. wird statt dessen „Florian Geyer ", dem darauffolgenden Sonntagabend„Trau- mulus" gegeben. Die bereits gelösten Billetts sind bis Freitagmittag 1 Uhr gegen Erstattung des Betrages an der Kasse des Lessing- Theaters zurückzugeben.— Im Schiller-Theater 0.(Wallner-Theaters findet am Donners- tag zur Feier von Schillers Geburtstag eine Aufführung von„Wallen- stcinS Lager" und„Die Piccolomini" statt.— National- Theater. Der Direktion ist es trotz lebhafter Bemühungen nicht gelungen, Mine. D u s e zu einer Verlängerung ihres Gastspiels zu bewegen, da die Künstlerin am 14. d. M. bereits in Dresden auf- treten muß. Sonach beendet Eleonora Duse ain 12. d. M. ihr Gastspiel mit einer Aufführung von Maurice D o um a y s neuem in Berlin noch nicht gesehenen Stiick„Die andere Gefahr". — Im Belle-Alliance-Theater geht Mittwoch die Repertoirposse„Die Tugendalocke" zum 2ö. Male in Szene. Am Donnerstag folgt das zweite Gastspiel des Ratio nal-Theaters; zur Aufführung gelangt„Rigoletto"! Freitag lvird die„Tugend- glocke" wiederholt und Sonnabend findet das dritte Gastspiel des Nattonal-TheaterS mit„Donna Juanita" statt.— Max Halbes Schauspiel„Mutter Erde" wird in der ziveiten Hälfte dieses Monat» seine Wirkung von neuem zu erproben haben. Die„Neue freie Volksbühne" bringt das Stück als vierte Serie ihrer dieswinterlichen Vorstellungen an sieben Sonntagnachmittagen im Schiller-Theater N. mit den erste» Kräften dieser Bühne zur Auf- führwig.__ flu© den Nachbarorten. Die Schöneberger Stadtverordneten-Bersammlmig hatte am Montag den Erlaß eines Ortsstatuts zur Errichtung eines Kaufmannsgerichts zu beraten. Wie an anderen Orten, so wird leider auch in Schöneberg von einem Inkrafttreten dieses Ge- setzes am 1. Januar 1905 nicht die Rede sein können. Sowohl der Berichterstatter, Rechtsanwalt Dr. Marwitz, der gegen verschiedene Paragraphen des Statuts Bedenken erhoben hatte, als auch Syndikus Blankenstein hielt Ausschuhberatung für wünschenswert und da auch die Sozialdemokraten Aenderungcn beantragen werden, so erklärten arlch diese sich mit der Wahl eines Ausschusses von 9 Mit- gliedern, dem unter anderen Genosse Küter angehört, einverstanden. Ein anderer wichttger Punkt bildete die Neuerpachtung deS eisenbahnfiskalischcn Geländes an der Ebers st ratze, das bisher zu Marktzlvecken diente, dessen Vertrag mit dein Fiskus aber am 31. März 1905 abläuft. Der bisherige Mietszins von 1300 M. ist jetzt nnt Einschluß der 531 M. betragenden Grundsteuer sdie vorher auch voin Fiskus getragen wurde) auf 3371 M. erhöht worden, und wohl oder übel muhte die Versammlung zustimmen. Die Stadtverordneten Kuznitzki und Hoffmann sSoz.) weisen mit Recht darauf hin, daß der Ankauf des 290 Ouadrat-Ruten großen Platzes die beste Lösung sei,' mn einer stetigen Erhöhung des Mietspreises vorzubeugen, und H o f f m a n n regte gleichzeittg die Errichtung einer Markthalle an. Ohne Ausnahme waren die bürgerlichen Vertreter schon damit zufticden, daß der Eisenbahnfisius überhaupt mit ihnen verhandelt hatte; sie glauben mit dem Platze immer noch ein gutes Geschäft zu machen. Der Verlängerung des Verttages auf fernere fünf Jahre wurde sodann zugestimmt. Ueber die Bedeutung des Fachschulunterrichts und die Erweiterung der fakultativen Fortbildungsschule entlpaim sich gelegent lich einer Petition des Bezirksvereins Nordost eine lange Debatte Wie oft schon unsererseits das Obligatorium für genannte Anstalt ge fähigkeit deS Grafen , und dazu komme noch, daß seinerzeit Geh. Sa- nitätsrat Dr. Neumann in Glogau schon vor Gericht erklärt habe: fordert lvurde, ist bekannt. In allen Tonarten pries Stadtv. Engelmann es sei notwendig, den Grafen in einer Anstalt auf seinen Geffte& die Fortschritte, die das Handwerk mit der Errichtung von Fachschulkursen— � für die Zukunft machen würde; in ihnen erblickt er, wie auch die anderen bürgerlichen Vertreter, das Allheilmittel zur Befestigung de? Handwerks. Küter(Soz.) weist demgegenüber darauf hin, daß der Fachschulunterricht nimmermehr den erhofften Nutzen bringen könne und daß die Gemeinde im Interesse einiger Hand- Werks meist er die großen Kosten aufbringen muß.—- Schließlich wurde ein Anttag Kubig angenommen, den Magistrat zu ersuchen, die Einrichtung von Unterrichiskurscn für Handwerker und Kunsthand- werker in die Hand zu nehmen und unentgelllich Räume zur Verfügung zu stellen, sowie bezüglich der Unterstützung des Fachunterrichts und Einstellung von Mitteln zu diesem Zweck in den nächsten Etat eine Vorlage zu bringen. Die Wahl des Stadtv. Treugebrodt im 9. Bezirk der II. Ab- teilung, gegen die Einspruch erfolgt war. wurde hierauf nach einem Referat des Justizrats v. Gordon, der sich im Gegensatz zu einer früheren Auffassung für die Entscheidung des Wahlvorstandcs aus- sprach, ohne Debatte für gülttg erklärt. Im 8. Bezirk der II. Ab- teilung hat sonach eine Neuwahl stattzufinden. Die Wilmersdorser Gemeindevertretung beschloß zur Erlangung von Skizzen für den Neubau eines Rathauses eine öffentliche Aus- schreibung unter den Architekten Deutschlands und bewilligte zu Preisverteilungen 20 000 M.; es wurden festgesetzt ein erster Preis zu 8000 M., ein zweiter zu 5000 M., zwei dritte zu je 3000 M. und ein vierter Preis zu 1000 M. Die Entwürfe müssen bis zum 10. April 1905 der Gemeindeverwaltung eingereicht sein. Preis- richter sind die folgenden Mitglieder der Gemeindevertretung: Amts- und Gemeindevorsteher Habermann, Geh. Bergrat Professor Dr. Beyschlag, die Bauräte Gerard und Havestadt, Ingenieur Rammrat, Direktor Eichmann, Gemeindebaurat Herrnring. Sodann wurden für den Neubau des Reform- Realgymnasiums nebst Realschule der erste Hauptentwurf und die Bereitstellung der erforderlichen Mittel im Betrage von 900 000 M. genehmigt.— Die Stelle des zweiten besoldeten Schöffen soll mit einem im Ver- waltungsdiensi bereits tättg gewesenen Beamten besetzt werden, der das zweite juristische Examen oder das für den höheren Verwaltungs- dienst bestanden hat; das Anfangsgehalt beträgt 5000 M. und steigt bis 7500 M., die Mietsentschädigung belänst sich aus 1500 M. Die Dienstzeit in anderen Kommunen kann aus das Besoldungs« Verhältnis in Anrechnung gebracht werden.— Zum Vorsitzenden des vam 1. Jamiar 1905 zu errichtenden Kausmannsgerichts wurde der besoldete Schöffe Stadtrat Peters und zu dessen Stellvertreter Amts- und Gemeindevorsteher Habermann gewählt. Rixdors. Die Stadtverordneten werden sich in ihrer nächsten Sitzung mit der Einrichtung eines K a u s m a n n S g e r i ch t e s für unsere Stadt zu beschäftigen haben. Der Stattitenentwurf des Magistrats schließt sich im wesentlichen dem vom Minister für Handel ilnd Gewerbe ausgearbeiteten Musterstatut an. Für die Wahlen ist in Uebereinstimmung mit der Geiverbedeputatton das System der gebundenen Listen, bei dem die Stimmabgabe auf die eingereichten Vorschlagslisten der Stimmen beschränkt ist, vorgeschlagen. Die be- teiligten Kaufleute und Handlungsgehülfen, welche hierüber gehört worden sind, haben sich in überwiegender Mehrheit für dieses System ausgesprochen. Um etwaige Härten, die das System der gebundenen Listen mit sich führen kann, zu verhüten, soll die Zahl der Unter- zeichner von Vorschlagslisten auf fünf herabgesetzt werden, uin so auch kleineren Parteigruppen die Möglichkeit zu geben, eine Vor- schlagSliste einzureichen. Das Ortsstatut soll am 1. April 1905 in Kraft treten._ Gerichte-Zeitung. Zu der Ansicht, daß Gras Pückler-Klein-Tschirne geisteskrank ist, hat sich jetzt auch ein Berliner Gerichtshof bekannt. Der Unglück- liche Mann hat eine Privatklage angestrengt, die gestern vor der 147. Abteilung des Schöffengerichts unter Vorsitz des Assessors Hell verhandelt wurde. Graf P ü ck l e r hatte sich vom persönlichen Erscheinen dispensieren lassen und wurde vom Rechtsanwalt Gräfe vertreten. Die Privatklage richtete sich gegen den Redakteur der „Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus ' Kurt Bürger und den Schriftsteller Emil Brand, denen Rechts- anwalt Joseph Cohn und Justizrat Rheinbacher- Schöneberg als Verteidiger zur Seite standen. Zur Anklage standen zwei in dem genannten Organ veröffentlichte, von Herrn Brand verfaßte Artikel „Festungscrinncrungen", durch welche sich Graf Pückler beleidigt fühlt. Der Angeklagte Brand war wegen seines bekannten Gedichts: „Wenn ich einmal ein Landrat wär'" zu vier Wochen Festungshaft verurteilt worden und verbüßte seine Strafe in Wcichsclmünde zu derselben Zeit, als dort Graf Pückler die ihm wegen Herausforderung zum Zweikampf zudiktierte Festungshaft verbüßte. Er schildert nun das Zusammenleben mit dem„Treschgrafen" im„Verbrecher- klub Weichselmünde" und schilderte ihn nach seinen Beobachtungen als einen nur pathologisch zu beurteilenden Menschen. Er erwähnte dabei aus dessen Reden die„rohen platten Witze", das„irre und wirre Zeug", welches er zusammenschwatze, seine Selbstgefälligkeit, seine oft komische Wut gegen die Juden, die vielleicht daher stamme, daß er ein prouonciert jüdisches Aussehen habe und wie ein jüdischer Pferdehändler aussehe usw. Die eigenartige Lache, die er anschlage, höre man öfter im Jrrenhause, sein Benehmen in Weichselmünde habe wiederholt gezeigt, daß man es mit einem mehr oder minder harmlosen Narren zu tun habe usw. usw. Angekl. Brand bestritt, daß die Artikel den Grafen Pückler beleidigen konnten. Ein Mann, der in solch unerhörter Weise Be- leidigungcn über Beleidigungen öffentlich ausspricht, könne doch un- möglich durch einige starke Ausdrücke beleidigt werden. Man müsse ihn doch mit demselben Maße messen dürfen, das e r s e l b st anwendet. Vor Eintritt in die weitere Verhandlung machte Rechtsanwalt Cohn in formeller Beziehung folgende Ausführungen: Er bestreite, daß Graf Pückler imstande ist, als Privatklägcr aufzutreten, da er im Sinne des K 104 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches als ge- schästsunsähig zu gelten habe. Er behaupte, daß Gras Pückler an einer krankhaften Störung seiner Geisteskräfte leide. Graf Pückler leide zweifellos an Paranoia, denn aus allen seinen Reden, aus seinem ganzen Gebaren leuchten die Erkennungsmomente dieser Krankheit hervor, wie sie Professor Krepelin in seinem Werke: Klinische Psychiatrie" festgelegt hat: Verfolgungswahn, Selbst- aesälligkeit, Größenwahn, Vergistungsideen usw. usw. Man brauche bloß einen Blick in eine Reihe von Reden zu werfen, die Graf Pückler immer mit derselben wutschnaubenden Art und dem wirren Durcheinander gehalten, um zu der Ucberzeugung zu kommen, daß dieser Mann geschäftsunfähig sei, ganz besonders müsse man aber nach den letzten Flugblättern des Grasen, zu dieser Ansicht kommen. Seine eigenen Parteigenossen halten ihn jetzt für einen derartigen Kranken, ebenso ihm verwandtschaftlich sehr nahestehende Personen. Der Verteidiger verlas die Bemerkungen, die nach dem Erscheinen der letzten Flugblätter der„Reichsbote", die„Deutsche agrarische Korrespondenz", die„Neuesten Nachri.bten", die„Neue Bayerische Landeszeitung" und andere über das„wüste hirnverbrannte Zeug", das der Gras produziere, gemacht haben und verwies auf Bcmer- kungen des Abgeordneten v. Liebermann in der„Antisemitischen Korrespondenz", ferner auf die„Hochwacht",„Magdeburgische Sachsenschau" usw. Wenn ein Mann aus der sozialen Sphäre und mit der Bildung des Grafen Pückler in den letzten Flugblättern nicht nur eine Sprache führt, die abseits jeder Bildung und abseits jeder kulturellen Auffassung steht, sondern auch zu Verbrechen auf- fordert und dabei wirr von einem Thema zum anderen überspringt, so kann er nur pathologisch sein. Ein geistig Gesunder könne so etwas nicht sagen, was Graf Pückler in jenen Flugblättern gesagt habe. Er beantrage deshalb: den Privatkläger auf seinen Geistes'zustand untersuchen zu lassen und. wenn er sich dem widersetze, einem gerichtlichen Sachverständigen das gesamte Material seiner Reden zu übergeben. Das enthalte schon genügend schwerwiegende Beweise für die Unzurechnungs zustand untersuchen zu lassen.— Justizrat Rheinbacher» Schöneberg trat diesem Antrage bei. Gras Pückler, der sich vom persönlichen Erscheinen habe entbinden lassen, habe sich seit dem 2. Oktober in Berlin aufgehalten und seine Brandreden gehalten, er sei gestern noch hier gewesen und es sei doch mindestens wunderbar, daß er nun am Tage des Termins wieder in Klein-Tschirne wohne. Er habe noch in den letzten Tagen Versammlungen abgehalten und Flugblätter verteilen lassen. Diese und andere Reden haben den Vor st and der jüdischen Gemeinde veranlaßt, bei dem Staatsanwalt anzufragen, ob nicht diesem Unfuge endlich ein Ziel gesetzt werden solle. Der Staatsanwalt habe erklärt, daß es dieser Anregung nicht bedurfte, daß vielmehr bereits ein Strafverfahren gegen den Grafen Pückler eingeleitet worden sei. Dabei werde amtlich geprüft werden müssen, ob Gras Pückler zu» rechmungssiihig ist, oder nicht; werde diese Frage bejaht, dann könne er nicht als Privattläger auftreten. Es rechtfertige sich daher der Antrag: die Verhandlung auszusetzen und abzuwarten, wie die Er- Mittelungen dort enden.— Rechtsanwalt Gräfe protestiert gegen diesen Antrag, der doch wohl bloß dazu geeignet sei, die Sache zu verschleppen. Graf Pückler sei nicht entmündigt und es liege kein Anlaß vor, ihn für geschäftsunfähig zu erklären.— Nach längerer Beratung verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof ist auf Grund des vorliegenden Materials und der gerichtsnotorischen jüngsten Reden des Privatklägers zu der Ueberzeugung gelangt, daß der Privatkläger tats Schlich geistig nicht n o r m a l i st. Da aber jede Abweichung vom normalen Geistes- zustand die Voraussetzung des K 104 Absatz 2 des Bürgerlichen Ge setzbuchs erfüllt, der Gerichtshof aber nicht in der Lage ist, der Hinzuziehung eines Sachverständigen zu entbehren, so hat der Ge- richtshof dem Antrage auf Aussetzung der heutigen Verhandlung stattgegeben, da anzunehmen, ist, daß die Staatsanwaltschaft in dem gegen den Privatkläger eröffneten Strafverfahren bezüglich der Untersuchung seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit die not- wendigen Schritte unternehmen wird. Ein Schwärmer. Anarchistische Propaganda in der Kranken- station des Asyls für Obdachlose wurde dem Schlosser Max Böhme zur Last gelegt, der sich gestern wegen Aufreizung, zum Klassenhaß vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts I zu verantworten hatte. Der Angeklagte ivar früher anarchistischer Mit- läufer. Er gehörte einem anarchistischen Gesangverein an, lernte dort mehrere anarchistische Führer kennen, legte sich eine kleine anarchistische Bibliothek zu und unternahm es auch für die anarchistt- schen Ideen Anhänger zu gewinnen. Im Januar 1902 lag er auf der mit dem Asyl für Obdachlose verbundenen Station für Ge- schlechtskranke. Eines Sonnabends machte er, nachdem er vorher schon wiederholt seinen Mitpattenten anarchistische Ideen mündlich entwickelt«, diesen die Mitteilung, daß er am nächsten Tag« Bücher hereinbekommen werde, die er auf Wunsch den Kranken zur Wer« sügung stellen wolle und aus denen sie sich überzeugen könnten, wie ungerecht es in der Welt zugehe. An: Sonntag erhielt er Besuch von seiner Ehefrau, diese brachte ihm Broschüren aus der anarchtsti- schen Bibliothek mit und bald wanderten die Schriften„An die jungen Leute",„Neues Wintermärchen"(das bekanntlich mit Anarchismus gar nichts zu tun hatl),„Gott und Staat" und„Die historische Rolle des Staats" von Hand zu Hand. Einige dieser Schriften sind- seinerzeit polizeilich mit Beschlag belegt und der Angeklagte erzählte triumphierend, daß das„Neue Wintermärchen" früher 20 Pf. gekostet habe und jetzt kaum für 3 M. zu halte!* sei. In den Schriften wird nach Meinung der Richter die Erhebung der niederen Klassen gegen die höheren in Form der Revolution gepredigt und in außerordentlich krasser Weise das Los der unbemittelten Klassen als menschenunwürdig hingestellt, während die Bemittelten als Faulenzer und Tagedieb« geschildert werden. Einige Kranke erstatteten Anzeige und eines Tajzes erschien die Polizei in der Krankenstation und belegte die Schriften mit Beschlag. Wie bekundet wurde, drohte darob fast eine Revolte unter den.Kranken auszubrechen. Der Angeklagte behauptete vor Gericht, daß er die paar Hefte nur zur eigenen Lettüre erhalten und sie nur auf Wunsch einzelner Patienten diesen zum Lesen über- lassen habe. Nach dem Zeugnis des Kriminal Iv acht- ineisters Frick hat sich der Angeklagte seitdem von jeder B e- rührung mit Anarchisten ferngehalten.— Staatsanwalt L i e b e n o w wies ans die Gefahr hin, die daraus entstehe, ivenn gerade den in Krankensälen liegenden Armen und Elenden solche hetzerische Schriften in die Hand gedrückt werden. Er bean» ttagte 4 Monate Gefängnis. — Rechtsanwalt Viktor F r ä n k l beairtragte die Freisprechung des Angeklagten, auf die der Gerichtshof auch erkannte. Der Gerichtshof war mit dem Verteidiger der Ansicht, daß dem Angeklagten nicht nachgewiesen war. daß er die zloei Schriften, die wirtlich strafbaren Inhalt hatten, schon gelesen hatte und ihren Inhalt kannte. Die Behauptung des Angeklagten, daß er diese erst selbst habe lesen wollen, sei nicht wider, legt. Außerdem vermißte der Gerichtshof das Moment der Oeffentlichkeit bei der Verbreitung und bezüglich deS „Wintermärchens", welches im Krankensaale verbreitet sein soll, be- rücksichtigte er, daß das eine Exemplar, welches in Frage kam, nicht in natura vorlag und der Beweis der Jderrtiiär mit dem seinerzeit verbotenen„Neuen Wintermärchen" nicht gegeben war. Nack, dem neuerdings über so manches Urteil zu berichten war, das Kopfschütteln erregte, ist es eine Wohltat, von einem Gerichts- spruch zu vernehmen, der mit dem Rechtsbewnßtsein der Bevölkerung nicht sin Widerspruch steht. In dem Gründerprozesi Steinierg und Genossen wurde gestern die Beweisaufnahme fortgesetzt. Der Angeklagte Steinberg! be- schivcrte sich darüber, daß durch„tendenziöse" Berichte in der Presse Stimmung gegen ihn gemacht werde. Insbesondere beklagte er sich darüber, daß ein hiesiiges Blatt den Gerichtsbericht unter der Ueber- sclirift„Die verkrachte Grundbesitzerbank" gebracht habe. Das sei ganz unzutreffend, denn die Bank sei gar nicht verkracht, sondern bestehe aucb noch heute. Die gestrige Beweisaufnahme erstreckte sich im wesentlichen auf den zweiton und dritten'Punkt der Anklage: die Angaben, die bei der Erhöhung des Grundkapitals gemacht worden sind. Durch Beschluß der Generalversammlung vom 7. Juli 1900 fand eine Erhöhung des Grundkapitals um 150 000 M. durch Aus- gäbe von 100 Prioritätsattien zu je 1000 M. und 50 Aktien zu je 1000 M. statt. Die Aktien sollten nach dem Beschlnffe zum Nennbetrage ausgegeben und 25 Proz. des Nenn- betrages sofort, der Rest aber im Laufe einesJnhres eingezahlt werden. Der Vorstand und die Aufsichtsratsmitglicder meldeten den Beschluß und die erfolgte Erhöhung des Grundkapitals zur Eintragung in das Handelsregister an mit der Versicherung, daß das bisherige Grund- kapital vollständig und auf jede der neuen Aktien und Prioritätsaktien 25 Proz. eingezahlt seien, sowie daß die eingezahlten Bar- betrüge im Besitze des Vorstandes sich befänden. Entsprechend« An- gaben lmrrden gemacht, als durch Generalversammlungsbeschluß vom 13 Oktober 1901 eine Erhöhung des Grmidkapitals um 300 000 M. durch Ausgab« von 309 Prioritätsattien zu je 1000 M. stattfand. Die bezüglichen Angaben sollen nach der Behaupttmg der Anklage falsch sein, was von den Angeklagten bestritten wird. Die Verhandlung, die immer wieder auf die Erörterung der Vermögensverhält- nisse der Angeklagten zurückgreift, bietet wenige Momente von all» gemeinem Interesse. Da sie noch mehrere Tage in Anspruch nelsinen wird, werden wir uns darauf beschränken, in einem Schlußbericht da? Ergebnis mitzuteilen. Marktpreise vou Berlin am I.November. Nach Ermittelungen des (gl. Polizei-PräsidiinnS. Für 1 Doppcl.Zentner: Weizen"), gu'e Sorte 17,65—17,62 M., mittel 17,59-17,56 M., geringe 17,53-17,50 M. Rsgg-n"), gute Sorte 13,90- 00,90 M.. mittel 00,00-00,00 M.. geringe 00 00—00,00 M. Futteracrfte*), gute Sorte 15,70—14,50 M., mittel 14,10 bis 13,30 M.. geringe 13-0-12.10 M. Haler»), gute Sorte 16,40-15,60 M.. mittel 15.50—14,70 M.. geringe 14,60-13,80 M. Erbsen, gelbe, zum Kochen 40 00-30,90 M. Speisibobnen. weiße 50,00- 30,00 M. Linsen 60,00—30,00 M. Kartoffeln 9,00-7,00 M. Richkstroh 0,00-0,00 M. Heu 0,00-0,00 M. Für ein Kilogramm Butter 2,80-2,00 M. Eier per Schock 4,50-3,00 R. »l Frei Wagen und ab Bahn.") Ab Bahn. __ Berantw. Redakteur: Paul Büttner , Berlin . Für den Inseratenteil verantw.: Th. Glocke, Berlin . Druck u. Verlag: Vorwärts Buchdruckerei u. Verlagsanstalt Paul Singer& Co., Berlin SW.