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|r. 130. 22. 1 8tilpjc des Jpntirts" ßttlintt NollisM Dienstag, 6. Juni 1905. Das Strafgefängnis Plötzensee vor Gericht. (Eigener Bericht desVorwärts".) 16. Verhandlungstag. Nach Eröffnung der Sitzung durch den Vorsitzenden Landgerichts Direktor Dr. Oppermann richtet Erster Staatsanw. S ch o n i a n an den am Sonnabend vernommenen Sachverständigen Dr. Arthur Schulz noch einige Fragen, die dieser dahin beantwortet: Aus der von ihm bekundeten Tatsache, daß Grosse exzessiv Selbstbefleckung betrieben habe, ergebe sich nicht der Schluß, daß Geisteskrankheit bei ihm vorhanden sein müsse. Aus der Tatsache, daß er seine Un- anständigkeiten in Gegenwart anderer Personen beging, könnte man an einen Zustand sogenannter Geistesabwesenheit denken, das wäre dann aber ein ganz vorübergehender Zustand gewesen. Was den Selbstmordversuch betrifft, so pflegt es auch bei nicht geisteskranken Gefangenen vorzukommen, daß sie einen Selbstmordversuch machen. Nach der ganzen Sachlage möchte er an der Aufrichtigkeit und Ernstlichkeit des Selbstmordversuchs bei Grosse einigermaßen zweifeln. Rechtsanw. Dr. Liebknecht: Sie haben selbst eine Intelligenz- Trübung bekundet. Ist nicht unter Berücksichtigung dieser Jntelligenztrübung der Selbstmordversuch als ernsthast aufzufassen? Sachv. Dr. Schulz: Die Intelligenz ist bei Grosse doch nicht so erbeblich herabgesetzt gewesen. Er ist hysterisch und bei hysterischen Leuten zeigt sich eine anormale Gemütsverfassung, aber der Verstand bleibt ganz unbeeinflußt. V e r t.: Ist nicht auch ein plötzlicher Affektzustand unter dem Einfluß der Hysterie denkbar? Sachv.: Ja, doch vermisse ich gewisse Beweise, die bei Grosse für Affektzustände sprechen. Rechtsanw. Dr. Liebknecht: Was denken Sie über die Halluzinationen des Grosse, über das Erscheinen der Frau Justizrat Levy zc. Sachv. Dr. Schulz: Auf hysterischer Basis entstehen ja oft Halluzinationen, aber es liegt auch die Mög- lichkeit vor, daß es sich um bloße Angstvorstellungen handelte, ebenso ist es möglich, daß von Grosse die Halluzinationen behauptet worden sind. Rechtsanw. Dr. Liebknecht: Grosse hat nun aber doch erst nach etwa dreijährigem Aufenthalt im Gefängnis ganz insgeheim einem Mitgefangenen Mitteilung von den Halluzinationen gemacht. Dr. Schulz: Das würde viel eher für Simulation sprechen. Wer an Halluzinattonen leidet, wird am wenigsten geneigt sein, Mitteilung davon zu machen, oder, wenn er etwas damit erreichen wollte, würde er dem Arzte Mitteilung niachen. Rechts­anwalt Dr. Liebknecht: Sehr richtig! Auf Befragen erklärt Med.-Rat Dr. Baer: Als Grosse ins Lazarett kam, hat er einmal von nächtlichen Erscheinungen gesprochen. Da habe ich ihm gesagt: Lassen Sie doch das sein, das sind dumme Redensarten. Darauf hat er mir gegenüber nie wieder von Halluzinationen gesprochen, er hat keinem Herrn im Gefängnis, der ein Urteil über die Dinge haben kann, solche Mitteilungen gemacht, und nur denen, die sich über ihn lustig zu machen pflegten, hat er es mitgeteilt. Rechts- anwalt Liebknecht : Würde nicht gerade aus der Unzweck- Mäßigkeit der Stelle, der er die Mitteilung machte, auf eine Geistesverwirrung zu schließen sein? S ach verst.: Es ist möglich, daß die Halluzinationen echt waren, aber es ist auch das Gegenteil möglich. Er hatte vielleicht einige Tage vorher gesehen, daß er mit der bezüglichen Behauptung nicht durchgekommen ist, und möglicherweise hatte sich inzwischen mancherlei ereignet, was ihnveranlaßte, diesen Versuch zu wiederholen. RechtSaniv. Dr. Lieb- knecht: Er hat doch aber die Mitteilung einem Mitgefangenen unter dem Siegel tieffter Verschwiegenheit gemacht? Beis. Landg.-R. Gräber: VonSiegel tiefster Verschwiegenheit" ist nichts gesagt worden! Rechtsanw. Dr. Liebknecht verwahrt sich gegen diese Unterbrechung seitens des Beisitzers Landg.-R. Gräber: Ich halte es für meine Pflicht, vorkommende Irrtümer, wenn sie mir auffallen, richsig zu stellen. Rechtsanw. Dr. Lieb- knecht: Dann beantrage ich, Beschluß zu fassen, daß wir nicht unterbrochen werden dürfen durch solche Zwischen- bemerkungen der Beisitzer, denn dadurch wird_ uns Ver­teidigern die Ausübung unserer Tätigkeit erschwert. Vors.: Das werden die Herren nicht! Sie behaupten, daß es Ihnen erschwert wird, Sie behaupten aber doch, daß Sie die Aufklärung herbeiführen wollen und Sie haben später das volle Fragerecht. Den Beisitzern muß es verstattet sein, auf etlvaige Irrtümer auf- merksam zu machen. RechtSanw. Dr. Liebknecht: Dann müßte uns Verteidigern doch das Recht zustehen, bei etwaigen Miß- Verständnissen auch zu unterbrechen. Vors.: Ich bin schon zwei- mal bei Mißverständnissen meinerseits gerade durch den Verteidiger. der jetzt spricht, unterbrochen worden. Rechtsanw. Dr. L. zieht hierauf den Antrag zurück. Auf weitere Fragen deS Rechtsanw. Dr. Liebknecht über die Halluzinattonen und die Art, wie er davon Mitteilung gemacht hat, erklärt Sachverst. Dr. Schulz: Vielleicht hat Grosse bei der Schlau- heit, die ihm eigen, gerade diesen Weg der Mitteilung gewählt, um zum Ziele zu gelangen. Diese Möglichkeit liegt nahe. Richtig ist es, daß, wenn die Halluzinationen simuliert waren, Simulattonen zu dem Krankheitsbilde der Hysterie gehören. Rechtsanw. Liebknecht: Wie denken Sie über die Bor- führungsfähigkeit des Grosse? Dr. Schulz: Grosse ist jetzt acht Jahre tm Gefängnis, nun soll er plötzlich an Gerichtsstelle erscheinen, um über seinen Geisteszustand vernommen zu werden. Schon einen wirklich gesunden Menschen würde dies sehr aufregen, Grosse ist nun hysterisch und befindet sich dauernd in labiler Geistesverfassung. Wenn er hierher gebracht würde, würde man die Wahrheit nur in einem Zerrbilde zu sehen bekommen. Für Grosse würde eine solche Verfassung recht bedenklich sein und ihn schwer schädigen, er könnte, im Anschluß daran, in Geisteskrankheit verfallen. Rechtsanw. Liebknecht: Unter diesen Umständen würde doch nicht von der Hand zu weisen sein, daß Grosse, wenn er in Affekt geriet, auch schon in früherer Zeit geistesabwesend war und, wenn auch nicht dauernd, so doch vorübergehend irre war? Sachverst. Dr. Schulz bezweifelt dem gegenüber nochmals die Echtheit der behaupteten Halluzinationen. Auf weiteres Befragen hält der Sachverständige auch einen Besuch des Grosse im Gefängnis durch die Sach- verständigen für bedenklich halte, anders sei es. wenn ein Sach- verständiger in Begleitung eines Arztes, den Grosse kennt, diesen Besuch abstattet. Auf eine Frage des Rechtsanw. Dr. Löwen- st e i n erklärt Sachverst. Dr. S ch u l z. daß er aus dem bekannten Brief des Grosse an denStaatsanwalt Jsenbüdel" allein auf einen Verwirrtheitszustand nicht schließen könne, dazu würden doch noch andere auf Verwirrtsein hindeutende Momente gehören. Der Brief selbst deute ja auf einen Verwirrtheitszustand hin, da aber nicht lange darauf wieder sehr vernünftige Briefe geschrieben wurden, so konnte es sich doch nur um einen vorübergehenden Verwirrungs- zustand handeln. Der Sachverständige beantwortet noch eine Reihe medizinischer Fragen des Medizinalrats Dr. K o e n i g u. a. dahin, daß sich die Gefühllosigkeit der Haut, die er bei Grosse festgestellt habe, sich über die ganze Haut erstreckte. Sie war wechselnd stark und an der Haut der Arme am stärksten. In halbseitiger Form ist sie nicht aufgetreten. Auf weitere Fragen des Herrn Medizinalrats Dr. K o e n i g erklärt Sachverst. Dr. Schulz, daß er in bezug auf die übrigen Sinnesempfindungen: Geschmack, Geruch, Gehör usw. keine Be- obachtungen angestellt habe, ebensowenig darüber, ob eine Störung des Farbensinnes. Störung der Reflexe vorhanden war. Auch auf das Vorhandensein hhsterogener Punkte hat der Sach- verständige den Grosse nicht untersucht. Er erklärt dies damit, daß er damals nicht geahnt habe, daß er als Sach- verständiger in diesem Prozeß werde aussagen müssen. Rechtsanw. Liebknecht fragt nunmehr nochmals an, lvie es mit dem Antrag der Verteidigung auf Vernehmung, Vorführung resp. Beaugenscheinigung des Grosse durch Sachverständige stehe. Präs.: Das Gericht kann sich hierüber nicht entscheiden, bevor es die Herren Sachverständigen gehört hat. Irgend ein Nachteil für die Angeklagten kann daraus nicht erwachsen, denn eS ist selbst­verständlich, daß, falls Grosse später vorgeführt und vernommen wird, die Herren Sachverständigen wiederum befragt werden müssen, ob sie ihr Gutachten auf Grund dieses weiteren Ergebnisses der Beweisaufnahme zu ändern haben oder nicht. Der Präsident weist auch noch darauf hin, daß dies die einzigen Beweisanträge seien, deren Erledigung noch ausstehe. Nunmehr erhält das Wort Sachverständiger Med.-Rat Dr. Lcppmann. Ich habe im Auftrage des Gerichts Grosse untersucht und zwar habe ich, wie ich es in derartigen Sachen gewohnt bin, mir zu- nächst ohne Kenntnis der Akten einen Eindruck von dem Manne verschafft und nachher die Akten durchgesehen. Der erste Eindruck, den ich von Grosse empfing, ohne daß ich die Geschehnisse kannte und ohne daß ich wußte, daß Kollege Baer diesen Fall schon einmal literarisch verwertet hatte, war der eines minderwertigen, etwas geistesschwachen, erreglichen Menschen. In bezug auf seinen Verstand hatte ich den Eindruck, daß er eine ganze Menge geistiges Kapital hat, das er verwerten kann, er weiß über verschiedene Dinge ganz klug und logisch zu reden, aber dort, wo es darauf ankommt, sein Verhältnis zur Außenwelt zu taxieren, auf diese feinste Verstandesverrichtung. die Urteilskraft über sein Verhältnis zur Welt, da hapert es mit ihm, da ist er uurcif. Ueber seinem ganzen Gebaren liegt, wenn er noch so klug erscheinen will, ein Zug von Jungenhaftigkeit und Albernheit. Körperlich zeigt er eine Reihe Entartungen, die aber nicht gerade sehr gehäuft sind, außerdem hat er einen stechenden Blick und ein geringes Minenspiel, wie wir es häufig bei Epileptikern sehen. Also ich muß sagen, man konnte sich schon auf Grund der einmaligen Besichtigung so eine Art Skizze von ihm bilden. Was ist nun an Tatsachen dazu gekommen? Tatsächlich festgestellt ist erstens, daß Grosse erheblich erblich belastet ist, er hat Trunksucht in direkter Ascendenz, Geisteskrankheit in der Seitenverwandtschaft! zweitens hat er bereits im sechsten Lebensmonat Krämpfe gehabt, also eine Krankheit, von der man mit Wahrscheinlichkeit annehmen kann, daß sie auf irgend welchen krankhasten Vorgängen im Gehirn beruht. Die allgemeine Erfahrung lehrt, daß der größte Teil der Personen, die in dieser Zeit echte Krämpfe haben, nicht bloß solche, die mit den Zähnen zusammenhängen, eine'Schädigung ihres Seelenlebens behalten. Daß es so gewesen ist, geht auch daraus hervor, daß diese Krämpfe sich nicht bloß auf die frühe Kindes- zeit beschränkten, sondern weiter bis in die Schulzeit reichten, ja bis zum 14. Lebensjahr. Außerdem sind bei Grosse fest- gestellt sogenannte Absencezustände, d. h. Zustände von vorüber- gehender Bewußtseinsumnebclung. Es muß ferner als fest' gestellt erachtet werden, daß er bis zur Tat insofern nicht normal gewesen ist, als er zwar das Schnlpensum sich angeeignet hat, aber schon damals über seinem Wesen etwas Jungenhaftes, etwas besonders Kindisches lag. Der Bruder hat das hier ganz charakteristisch bezeichnet, indem er sa�te. Grosse war nicht so wie andre Kinder unter denselben Verhältmssen, er war so frech und un- botmäßig gegen die Mutter in einer Art, die eigentlich recht zweck- widrig war. Wenn wir annehmen, daß die Kinder dieser Familie unter annähernd den gleichen erziehlichen Verhältnissen auf' gewachsen sind, so müssen, wir sagen, daß da schon eine Störung der Entwickclung Vorhänden war und wenn die Mutter berichtet, der Lehrer habe gesagt, der Junge lernt schnell, aber er vergißt sehr schnell wieder, so ist das auch darauf zu beziehen. Wenn wir sein Leben in der Strafzeit zusammen- fassen, so ist die Schätzung dessen, was wir über fem Seelenleben gehört haben, unendlich schwer, da er sich in der EntWickelung vom Knaben zum Manne befand, also einer Zeit, wo das Seelenleben, ich möchte sagen jedes Jahr sich ändert. Und er hat diese Ent- Wickelung unter ganz abnormen Verhälttttssen durchgemacht, weil eine Reihe von Eindrücken, die sonst unsere Lebenserfahrung festigen, für ihn im Gefängnis nicht vorhanden waren. Man wird also an- nehmen müssen, daß ein gewisses Kindischbleibcn, auch wenn er ganz normal gewesen wäre, hätte stattfinden müssen. Selbst unter dieser Annahme aber mutz man doch sagen, daß er auch in dieser Beziehung wohl etwas anderes gewesen ist als ein normaler Mensch unter den gleichen Umständen. Sein ganzes Gebaren trägt wie gesagt den Stempel einer gewissen Albernheit. Nun wird nian sagen, stehen sich zwei Aussagen gegenüber: die Gefängnis- beamten sagen, er war ein ganz schlauer Mensch, er lernte gut, wußte über die Lebensverhältnisse Bescheid, und andererseits sagen die Mitgefangenen: er hat einen Vogel, war dusselig, ließ sich als Bajazzo gebrauchen. Das läßt sich daraus erklären, daß er sich in Gegenwart seiner Genossen mehr gehen ließ und sich vor den Beamten mehr zusammennahm, so daß der kindische Zug seines ganzen Wesens meist zur Geltung kam. wenn er sich unbeobachtet glaubte, wie er ja auch hinter dem Rücken der Aufseher Männchen machte usw. Zu dieser etwas geistigen Zurückgebliebenheit in bezug auf die feinere Verstandestätigkeit kommt dann ein dauernder Mangel an sittlichem Gefühl. Dieser Mangel entsprang nicht etwa einer durch sein bisheriges Verhalten gezeittgten Verkommenheit, sondern er hatte von Kind auf kein Verständnis dafür, keinen Anklang von Lust oder Unlust für das Erhabene und das Schreckliche; er fühlte das nicht so wie andere Menschen. Ob er ganz absolut sittlich färben- blind, wie man so sagt, gewesen ist, ist mir fraglich, einige Herren haben gemeint, er hätte doch wohl Reste einer gewissen Scham, Ansätze zu einer Art Reue und ein Gefühl für seine Mutter gehabt. Jedenfalls aber ist dieser Mangel an sittlichem Empfinden ebenfalls etwas Krankhaftes, das, wie wir wissen, einhergeht mit Störungen der Gehirnentwickelung in der Jugend. Wesentlich für die Be- urteilung der gegenwärtigen Frage ist nun, ob er außer diesen dauernden Störungen, diesen Defekten, noch posittve Störungen seiner geistigen Tättgkeit von kürzerer oder längerer Dauer gehabt hat. ES handelt sich da zunächst um die sogenannte Absence. Ist er ohne äußere Veranlassung ab und zu in einen Zustand traumhafter Benommenheit verfallen, in dem er Dinge tut, die scheinbar willkürlich und doch seinem Willen entrückt waren? Ich halte es auf Grund meiner genauen Untersuchungen nicht für erwiesen und nicht für wahrscheinlich. daß er solche Zustände ohne äußeren Grund gehabt hat. Zunächst habe ich das aus dem entnommen. waS er mir selbst gesagt hat, und so- dann aus einer allgemeinen Erfahrung, daß nämlich bei Epilepttkern in dem einförnngen Gefängnisleben die Zahl der Anfälle häufig ab- nimmt und die Absence verschwindet. Ich habe das in einer früheren Publikation durch einen meiner Assistenten aussprechen lassen und habe mit Interesse gesehen, daß jüngst ein Mitarbeiter von Lombroso die gleichen Beobachtungen veröffentlicht hat. Von den Zeugenaussagen spricht eine einzige für einen solchen Absence- zustand. Die Schilderung des Zeugen M.. wie er Grosse im Lazarett mit entblößten Genitalien vor allen Leuten angetroffen und dieser ihn darauf hin von oben bis unten starr angesehen habe. Das spricht für dieMöglichkeit einer Bewutztseinsnmnebelung. aber auch für dieMöglich- keit eines krankhaften Drangzustandes bei erhaltenem Bewußtsein. Etwas anderes dagegen hat er sicher gehabt, was man bei Epileptikern stets findet, eine übergroße krankhafte Reizbarkeit, nicht zu jeder Zeit, sondem nur zu bestimmten Zeiten. Schon bei gesunden Menschen geht bekanntlich die Stimmung in Wellen, wir haben Wochen und Tage, in denen wir gut gestimmt sind, und dann wieder Zeiten, wo wir gegen eine gewisse Unlust umkämpfen müssen. Dieses Auf- und Abwogen ist in viel stärkerem Maße bei diesen minder- wertigen Personen vorhanden, und es kommt bei ihnen zu Zuständen. die man als Kollerpcrioden bezeichnet. Das Volk sagt: der Mann hat seine Tour. Ich glaube nun, daß Grosse in Zeiten seiner Reizbarkeit solveit ging, daß er auf der Höhe deS Reizanfalles in Bewußtseinsumnebelung geriet. Wir schrechen schon bei gesunden Menschen von sinnloser Wut. Ich habe Grosse in der ohne ihm etwas zu suggerieren, darüber befragt Grosse, sagen Sie mal, möglich, Sie sehen den sagte er, das ist nicht und das regt mich auf. vorsichtigsten Weise, oyne ihm etwas zu und er hat mir gesagt, daß solche Zustände,"wo die Leute eine Liidfe im Bewußtsein fühlen, nicht bei ihm vorgekommen sind, aber, sagte er, Sie können mir glauben, wenn ich manchmal in Wut gerate, dann weiß ich nicht, was ich gesagt und getan habe. So meinte er, ich soll mal neulich zu einem Mitgefangenen gesagt haben, meineidiger Schurke: ich versichere Sie, ich weiß nichts davon. Etwas weiteres, das man zu den vorübergehenden positiven Störungen rechnen könnte, ist eine Neigung zum Querulieren, und diese Neigung ist bei Grosse, nach den Atten, besonders in den letzten Jahren hervorgetreten; auch sie kennzeichnet die geistige Minderwertig- keit. Von den hier im übrigen behandelten Geschehnissen halte ich für einzig wichtig allein schon den erwähnten Vorgang im Lazarett. Was den Selbstmord betrifft, so glaube ich, können wir uns alle hier die Köpfe zerbrechen und werden doch nicht dahinter kommen, ob er ernsthaft gemeint war oder nicht. Nach den Er- fahrungen in anderen Fällen liegt die Wahrheit in der Mitte. Solche Leute befinden sich im Gefängnis leicht in einem Zustand der Unlust, daß sie denken, ach, wenn du stirbst, schadets auch nichts, und wenn sie sich in Gegenwart anderer aufhängen, was übrigens nicht so selten vorkommt, denken sie vielleicht, im besten Falle schneidet man dich ab und es wird vielleicht das Mitleid etwas erregt, aber daß das nun eine zielbewußte Vortäuschung gewesen wäre so mutz man sich das nicht denken. Die Vorgänge mit dem Dolche und dem Sarge halte ich für vollständig irrelevant, das ist eben das Gebaren eines Menschen, der nicht reif ist und sich eventuell vor seinen Mit- gefangenen groß tun will. Das größte Unglück für Grosse ist, daß er der Träger einer cause colfebre ist, da hat er nun in seiner Minderwertigkeit geglaubt, diesem seinemRuhm" etwas Rechnung tragen zu müssen. Das Schlagen mit dem Kopfe gegen die Wand ist vielleicht der Ausbruch einer inneren Unlust, kommt aber auch bei nicht minderwertigen Personen vor. Ebenso irrelevant ist seine Neigung zur Selbstüberschätzung, daß er seine stenographischen Kennttttsse für besonders hervorragend hält. Was die sogenannten Sinnes- täuschungen, also die Ericheinung der Frau Levy usw. betrifft, so ist das nicht etwa gemacht, um etwas vorzutäuschen, sondern das sind augenscheinlich Reflexe von Angstzuständen. Ausgebildete Sinnes- täuschungen sind es nicht. Er hat mir gesagt, von Zeit zu Zeit schlafe ich nicht, dann denke ich über meine Strafsache nach, dann kommt nrir alles vor Augen. dann mache ich mir verschiedene Gedanken. Zuerst sagte er Phantasien. Darauf fragte ich ihn: kommt da irgend jemand, es wäre ja Ermordeten leibhaftig vor sich? Nein, der Fall, ich denke so darüber nach, Also ich meine, das sind keine aus- gesprochenen Sinnestäuschungen gelvesen, aber nicht etwa bewußte Vortäuschungen, sondern Reflexe einer Angst, über die er sich mal mit jemand aussprechen wollte. Daß er geisteskrank gelvesen ist und dauernd unter dem Einfluß von Täuschungen gestanden hat, muß ich verneinen, das sind bloße Aufblitze, und dafür hat man Analogien auch bei anderen Fällen. Es ist ja direkt eine Mörder- Halluzination, daß die Betreffenden glauben, das Opfer oder An- gehörige kommen zu ihnen, es kommt auch bei Sittlichkeitsverbrechcrn vor. daß ihnen ihre Braut erscheint und ihnen Vorwürfe macht. Das sind flüchtige Zustände, die sich auch bei Säufern und in Fieber- delirien finden. Was die Frage der Simulation anbetrifft, so glaube ich wirklich, daß Grosse Ansätze gemacht hat, seinen Zustand anders erscheinen zu lassen als er ist, stärker aufzutragen. Diese vorübergehenden Vor- täuschungsversuche sind aber so kindisch, so durchsichtig und so wenig zielvoll, daß schon daraus erneut der Schluß auf Minderwertigkeit zu ziehen ist. Ich halte den Brief mit den ausgelassenen und ver- stümnielten Worten für eine Simulation. Nach ineinen Erfahrungen halte ich es für unniöglich, daß ein Mensch im Dämnierzustaiid einen solchen Brief schreiben kann. Ich habe wiederholt Leute gesehen, die im Dämmerzustand, um ihre Angst zu entlasten, in ihre eigene Brust oder in die Arme Gedichte gekritzelt haben oder die auf eine Schiefertafel Ausführungen, die ihre Angst darstellten, oder läppische, kindische Sachen geschrieben haben. Aber so etwas wie dieses Schreiben habe ich noch nie gesehen. Ich glaube, daß er es bewußt, wenn auch nicht sehr schlau getan hat, um die Meinung zu erregen, er sei geisteskrank. Daß er dann wieder vernünftig schreibt, zeigt eben den Mangel an Energie, an geistigen Kräften, er versucht es mal, und dann läßt er es wieder. Ich weiß nicht, inwieweit er damals mit anderen Personen zusammen war, mir ist eS aber so vor­gekommen. als ob da irgend ein kluger Mann sein Helfershelfer gewesen ist. der mal gehört hat, daß man Worte ausläßt oder nicht ausschreibt, wenn man Paralyse hat. Es ist merkwürdig, daß dieser Brief in den beteiligten Kreisen ziemlich bekannt ist. Was seinen Körperbefund anbetrifft, so habe ich mir darüber das erste Mal keine Notizen gemacht, um ihn nicht mißtrauisch zu machen. Die Anästhesie ist eine allgemeine, Störung der reinen Tastempfindlichkeit habe ich nach meiner Erinnerung nicht gefunden, Hornhautreflex war intakt, Riechreflex etwas herabgesetzt, Ovari hat er nicht. Also körperlich hat er keine sehr stringenten Erscheinungen ftir Hysterie. Was die epileptischen Zeichen anbetrifft, so hat er keine auffallenden Narben und keine Zungcnbisse. Dagegen hat er einen sehr hypochondrischen Zug, der mit seiner Neigung zur Selbst- befleckung zusammenzubringen ist. Sciir GeschlcchtScmpfindcn ist bewußt vorzeitig erwacht und er sagt selbst: das ist an meinem Verbrechen mit schuld, ich war so schlapp in meinen ganzen Gedanken, und er sagt, ich weiß ja, es schadet mir, ich möchte eS mir ab- gewöhnen, aber wenn ein paar Tage vergangen sind, dann kommt es über mich, dann kann ich es nicht ändern. Im übrigen ist er körperlich ganz in Ordnung. Ich halte ihn also für' dauenid geistig minderwertig und glaube, daß er in Zuständen von Erregung diese Minderwertigkeit überschreitet, daß er im Affekt geisteskrank ist. Geistig minderwertig soll heißen: ein krankhafter Zustand, der entweder das Verständnis für die Sttafwürdigkeit des eigenen Tuns oder die Widerstandskraft gegen strafbare Handlungen vermindert. Ich habe in einem Gutachten für den Juristentag seiner­zeit noch hinzufügen wollen: wesentlich vermindert. Das bin ich überzeugt, ist bei Grosse der Fall. Wenden Sie das auf den Strafvollzug an, so hat er ein venninderteS Verständnis für die Erfordernisse des Strafvollzuges, er läßt das Gefängnis das ent- gelten, waS seiner Meinung nach das Gericht an ihm verschuldet hat. Er hat mir gesagt, ich habe zuviel vom Gericht bekommen. Also einerseits ist ein Mangel an Verständnis dem Strafvollzug gegen- über, ein Mangel an Reue zu verzeichnen, andererseits eine ver- minderte Widerstandskraft gegenüber den Anforderungen der Disziplinar- ordnung. Es wirkt auf ihn, sowohl wenn man ihm Vergünstigungen gibt, als auch wenn er disziplinarisch bestraft wird, aber diese Wirkung ist vermindert, man muß ihn nicht für voll nehmen, nicht jedes Wort von ihm auf die Goldwage legen und wenn er im Affekt handelt, muß man gar nichts sehen und hören und muß ihn als krank behandeln. Darf ich nüch nun noch äußern über seine Strafvollzugsfähigkeit? (Präsident: Bitte!) Darüber wird man in den Kreisen der Aerzte die verschiedensten Meinungen hören. Der eine wird sagen, er muß schon in die Irrenanstalt kommen, der andere wird die Notwendigkeit verneinen. Ich würde auf die Frage, ob er in eine Irrenanstalt kommen soll, sagen:»och nicht. Mich leiten dabei die verschiedensten Gründe. Ist es etwa inhuman, wenn ich einen solchen Menschen im Gefängnis lasse? Da muß ich sagen, nein, das ist es sicher nicht. Denn es ist Grosses nächstes Interesse, über die Strafe hinwegzukommen. Die Ucberführung in die Irrenanstalt wird ihm vielleicht für den Augenblick ein subjektives Wohlbefinden schaffen, denn seine Reizbarkeit wird kolossal zurücktreten, aber eine Verlängerung der Strafe ist das härteste, was für ihn in Betracht kommt. Bei denjenigen, die wegen Minderwertigkeit oder wegen ausgesprochener Geistesstörung einer Irrenanstalt überwiesen werden, zählt der Aufenthalt dort nicht als Strafe. Wir haben Leute,