Der Linken aber, und bor allem der Sozialdemokratie, wird in einem sichtlich von Gröber inspirierten Artikel der„Köln , Volkszeitung" hohnvoll vor Augen geführt, daß„die Reform eine Reihe höchst veralteter Bestimmungen aus der Verfassung von 1819 ruhig für spätere Zeiten konserviert". So z. B, wird an dem höchst bedenklichen„Notverordnungsparagraphen" nicht gerührt und so die Möglichkeit einer ß 14-Wirtschaft nach österreichischem Muster geschaffen? ebensowenig an der Bestimmung, daß die Stände kein Recht der Initiative in Steuersachen haben. Daneben— und hier ist an der Aufrichtigkeit des Artikelschreibers nicht zu zweifeln— wird Klage geführt, daß die§§ 77 und 81 Betreffend die Ausscheidung des Kirchengutes nicht beseitigt werden, die seit 88 Jahren als unbequeme Mahner in der Verfassung stehen, weil ihre Durchführung der Kirche höchst ungelegen käme, die bei dem tatsächlichen gesetzwidrigen Zustand finanziell weit besser fährt. Vernichtend aber ist die Kritik, die die Zentrumspresse an der angeblichen Tendenz des Entwurfs. Privilegien zu be- fettigen, übt. Treffend wird gesagt, daß selbst, wenn die Lerfassungsrevision von dem Standpunkt der Ermöglichung einer liberalen Schulpolitik gemacht werden soll, dieser Zweck durch die Vorlage nicht erreicht wird. Denn für die eigentlichen liberalen Schulziele— die Simultanschule— ivird auch die «reformierte" Erste Kammer nicht zu haben sein. Und dann wird weiter ausgeführt, wie widerspruchsvoll ein Gesetzentwurf sei, der einerseits für die Abgeordnetenkammer den Kampf gegen die Privi- legten zur Richtschnur habe, andererseits für die Kammer der Standesherren die Parole aufstelle: 1. neue Privilegierte in dieser Kammer, 2. dieser Kammer überhaupt mehr Privilegien. Diese Argumentation hat offenbar den Zweck, auf die Sozial- demokratre im Sinne einer Verwerfung des Entwurfs zu wirken; und es wird denn auch am Schlüsse des Artikels voraus- gesagt, daß die Sozialdemokratie trotz des„Butterbrot- gefchenkes" der Vermehrung der Stuttgarter Mandate gegen den Entwurf stimmen wird. Damit aber, wäre die Reform gescheitert, da voraussichtlich für die erforderliche Zweidrittel- Mehrheit die sieben sozialdemokratischen Stimmen notwendig sind. Ohne Zweifel verstärken die von den Zentrumsleuten herausgesuchten Bedenken das Gewicht der viel ernsteren Bedenken, die von sozialdemokratischer Seite bereits geäußert worden sind. ES ist in der Tat nicht Sache der Sozialdemokratie, eine„Reform" um jeden Preis zu machen, wie denn auch die Stimmen in der württembergischen Partei nicht vereinzelt sind, die einer Verwerfung jeder„Reform" das Wort reden, die die Erste Kammer nicht beseitigt. Darüber, daß nur die§ letztere oder eine zumindest sich in diesem Sinne bewegende, die Privi- legten der Ersten Kammer einengende„Reform" wirklich den Namen eines Reformwerkes verdient, kann ernsthaft kein Zweifel sein. Aber die Sozialdemokratie wird ihren Entschluß aus eigener Erwägung fasten, ohne Rücksicht auf Beifall oder Mißbilligung des Zentrums, geleitet von der Rttsicht auf den politischen Fortschritt und die Eni- Wickelung der Partei. Huoland. Italien . Rom , 23. Juni. jPrivatdepesche des„Vorwärts".) Di« Gewerk- fchaften haben sich über den eventuellen Generalstreik als äußerstes Kampfmittel zur Paralysierung der Marmorarbeiter- Aussperrung in Earrara nicht verständigt. 13 Gewerkschaften waren gegen und 12 für den Generalstreik. Die Aussperrung dauert unverändert fort. Sämtliche Streikbrecher sind unter dem Jubel der Bevölkerung ab- gereist. Die Situation ist ernst. Der allgemeine Ausstand in Carrara . Rom , 19. Juni. jEig. Ber.) Am 30. Mai machte eine Firma von Carrara den Versuch, von unorganisierten Arbeitern geförderten Marmor zu verladen. Diese törichte Provokation gab Anlaß zu der heutigen Lage, die im ganzen Marmordistrikt zu' den allerschwersten Besorgnisten Anlaß gibt. Die Transportarbeiter der betteffenden Firma weigerten sich nämlich, den Marmor zu befördern, was zur Entlastung der Be- teiligten ftihrte, auf die die gesamte Arbeiterschaft der Firma, einige hundert Mann, durch Niederlegen der Arbeit antwortete. Nun wurden die Unglücksblöcke durch vier Unternehmer selbst mit Hülfe von Handlangern verladen. Dies bestimmte die organisierten Eisenbahner der lokalen Marmorbahn, den Zug mit den Blöcken nicht auslaufen zu lasten. Die Bahngesellschaft entließ die Eisenbahner, die den Zug verlassen hatten, und veranlaßte dadurch ihr ganzes Personal zum Streik. Diese Situatton dauerte unverändert vom 1. bis zum 10. Juni; an diesem Tage proklamierte das Konsortium der Unternehmer die Aus- sperrung aller Marmorarbeiter auf den nach dem Meere zu gelegenen Brüchen. Die Bahngesellschaft ihrerseits entließ ihr gesamtes Personal. Im ganzen waren so etwa 3800 Arbeiter arbettsloS. Da aber die Versuche, Streikbrecher zu finden, besonders für die Bahn völlig scheiterten, forderte die Stadtverwaltung von Carrara , wie wir bereits telegraphisch meldeten, die Bahngesellschaft auf, binnen drei Tagen den Dienst wiederherzustellen. Als die drei Tage herum waren, ohne daß der Berkehr wieder aufgenommen war, übemahm die sozialistische Stadtverwaltung von Carrara die Bahn in eigenen Betrieb und stellte alle ausgesperrten Arbeiter wieder ein. Es war dies eine ebenso rationelle wie gesetzliche Beilegung des Konflikts. Wahrscheinlich bedauerte der Präfekt aber, umsonst das viele Militär in Carrara zusammengezogen zu haben und wollte daher von einer friedlichen Lösung nichts wissen: er annullierte heute die Entscheidung der Stadtverwaltung und forderte die Bahn auf, den kommunalen Betrieb der Bahn nicht zu gestatten. Die Arbeitskammer von Carrara hat daraufhin heute abend den all- gemeinen Ausstand aller Organisierten der Provinz proklamiert. Die Lage ist ungeheuer ernst; es sind über 2000 Mann Militär in Carrara und Umgegend zusammen- gezogen. Die Bevölkerung ist bis jetzt sehr ruhig; man soll aber nicht vergessen, daß die Gegend von Carrara auf eine Reihe von Volkserhebungen zurückblickt, wie kaum eine andere Provinz ganz Italiens. — Spanien . Neues Ministerium. Madrid , 23. Juni. Der König hat folgendes Ministerium bestätigt: Präsidium Montero Rios , Inneres Garcia Prieto , Auswärtiges Saint Roman, Finanzen Urzaiz, Krieg Wehler, Marine Villanneva, Ackerbau Romanones, Justtz Pena, Unterricht Mellado.— Amerika. Flottenriistungcn. Williamstow n(Massachusetts ), 23.Juni. n einer Rede, welche Präsident Roosevelt im hiesigen Williams ollcge hielt, führte er aus, er würde lieber sehen, daß die Nation die Monroe-Doktrin und den Panamakanal aufgebe, als daß sie zwar auf der Monroe-Doktrin und dem Bau des Panamakanals beharre, sich aber weigere, für die einzigen Mittel zu sorgen, die ein Volk der Achtung der übrigen Völker würdig machen. Amerika müsse mit dem Bau von Schiffen fortfahren und die Flotte auf dem höchsten Punkte der Leistungsfähigkeit erhalten oder es müsse aufhören, da- nach zu streben, eine große Nation zu sein.— Schamlose Kinderausbeutung in den Südstaaten. Die Süd- staaten der amerikanischen Union sind politisch und sozial die rück- ständigsten Gebiete innerhalb der Vereinigten Staaten . Es sind dieselben Gebiete, in denen bis zum großen amerikanischen Bürger- krieg die aus Aftika hergeschleppten Neger bis aufs Blut ausgebeutet wurden. Formell ,st die Sklaverei nun zwar aufgehoben, aber auch jetzt wird dort der Neger als ein Mensch niederen Ranges be- wachtet und behandelt rmd die Anwendung der Lynchjustiz gegenüber von wirklichen oder vermeintlichen Bösewichten unter den Schwarzen ist noch heute an der Tagesordnung. Der Kapitalismus beschränkt sich aber nicht darauf, aus den Knochen der Schwarzen hohe Profite zu pressen, sondern er schont auch nicht das Fleisch und Blut der eigenen Rasse. In den Südstaaten ist die Kinderausbeutung noch eine unbeschränkt», kein Gesetz tritt den Unternehmern in ihrer Profitsucht hindernd in den Weg. Der Arbeiterschutz ist nicht Sache des Kongresses, sondern die der einzelnen Bundesstaaten, und im Süden sind die Latifundienbesitzer und Baumwollspinner unum- schränkte Herrscher. Soeben veröffentlicht Robert Hunter, ein Sozialist, eine Arbeit über die schamlose Kinderausbeutung, wie sie m den Südstaaten geübt wird. Nach ihm sind nicht weniger denn 80 000 Kinder, von denen die meisten kleine Mädchen, in den Textilfabriken der Süd- staaten beschäftigt. Die Zahl der beschäfttgten Kinder steigt von Jahr zu Jahr; mehr und mehr Fabriken werden erbaut, denn der erhöhte Profit, der aus dem Blute der Kleinen gepreßt wird, wirkt verlockend auf die herzlos berechnenden Kapitalisten. Die Fabriken pflegen die Arbeiterfamilien in Fabrikhäusern unter- zubringen, wo dieselben zusammengepfercht in engen, schmutzigen Räumen ihr elendes Dasein dahinleben. Um Uhr morgens beginnen die Dampfpfeifen der Fabriken zur Arbeit zu rufen, und Männer, Frauen und Kinder erheben sich von ihrem elenden Lager, würgen eine Hand voll Nahrung hinunter und beginnen ihr Tage- lverk. 12 und mehr Stunden dauert die tägliche Arbeitszeit, und am Abend kehren die Unglücklichen zurück in ihre elenden Löcher; häufig zu müde, um noch zu essen, strecken sie ihre müden Knochen auf ihr jammervolles Lager, um am nächsten Tage wieder in die Fronde ihrer Peiniger zurückzukehren. Hunter sah Kmder im Alter von 8 und 6 Jahren mit ihren Eltern am frühesten Morgen zur Fabrik gehen. Viele Kinder arbeiten selbst die Nacht hindurch. Hunter schildert die Folgen dieser grauenvollen Ausbeutung, die hier an den unglücklichen Geschöpfen geübt wird. Die Löhne, die den Kindern gezahlt werden, reichen kaum hin, die Kosten für ihre elende Nahrung zu decken. Elend und krank siechen sie, physisch und moralisch degeneriert, einem frühen Tode entgegen._ Vom Kriegsschauplatz. Tokio , 23. Juni. Amtlich wird mitgeteilt: In der Nähe Iingchang bedrängte am 21. d. M. feindliche Infanterie von 1000 Mann japanische Patrouillen. Als sie Hsingyanghen zehn Meilen südöstlich von Wankantzukan erreicht hatte, warfen japanische Truppen sie zurück, verfolgten sie, ihr schivere Verluste beibringend. In Weijuanpumen beendigten später japanische Truppen, welche am 19. Juni Jangmulinzu besetzt hatten, ihren Auftrag und kehrten dann zurück. Feindliche Truppen, aus drei Bataillonen, vier Schwadronen und zwölf Geschützen bestehend, rückten durch östliche Distrikte auf der nach Kirin führenden Straße vor, bewegten sich dann südwärts. Am 21. Juni um 11 Uhr 30 Minuten vormittags ab erschien feindliche Infanterie allmählich auf den Höhen zwischen Chapengan und Lichiatun, während feindliche Artillerie auf den Höhen von Lienhuchien Stellung nahm und die nördlichen Höhen von Nanchentzu beschoß. Nach mehrstündigem Gefecht machten Japaner Sturmangriffe aus die Höhen, warfen den Feind vollständig zurück, nahmen die Höhen und verfolgten den Feind. Sonst ist die Lage un- verändert. Port Arthur. London , 23. Juni. Im Unterhause erklärte Unterstaats- sekretär des Aeußeren P e r c y, von den japanischen Behörden in Port Arthur sei keine Anweisung ergangen, daß die englischen und amerikanischen Firmen Port Arthur zu verlassen hätten. Streikrevolution in Lodz . Ueber die Ereignisse in Lodz am 29. und 21. erhalten wir folgende Mitteilungen: Lodz , 20. Juni. (Eig. Ber.) Heute um 6 Uhr nachmittags be- gann eine gewaltige Demonstration, die fast bis dVa Uhr abends dauerte. Die sozialdemokratische Arbeiterschaft von Lodz geleitete die am letzten Sonntag gefallenen Opfer der Zarenschergen zur Ruhe. Am Sonntag, den 18., hatten die Sozialdemokraten einen sogenannten „Mai-Ausflug" arrangiert(d. h. eine in Russisch-Polen übliche Form der Massenversammlung im Freien, außerhalb der Stadt), der in dem Lagiewniler Forst stattfand und wo vor der versammelten Arbeitermenge mehrere Agitationsreden gehalten wurden. Nach Schluß der Versammlung ging die sozialdemokrattsche Arbeiterschaft mit entfalteten Parteifahnen bis zum ZgierSki-Forst, hier, auf halbem Wege vor der Stadt, wurden die Fahnen zusammengerollt und der Massenzug kehrte in kleineren Gruppen in die Stadt zurück. Eine Gruppe ging mit entfalteter Fahne bis in die Stadt hinein. Hier, an der Ecke der Lagiewniker- und der Müllerstraße, in dem Stadt- viertel Baluty, wurden die Genossen von einer Kosakenpatrouille attackiert, wobei zehn Personen getötet, mehrere verwundet wurden, darunter ein zweijähriges Kind! Der Vorfall rief in der Arbeiter- schaft eine ungeheure Erregung hervor. Die Sozialdemokratte be- schloß sofort, ein demonstratives Begräbnis zu arrangieren, als politischen Protest, und begann gleich eine energische Agitation in den Fabriken. In Warschau und in Lodz wird jetzt die Agitation ganz offen in den Fabrikhöfen betrieben, wo beim Erscheinen sozial- demokrattscher Redner der Betrieb eingestellt und die Arbeiterschaft im Hofe versammelt wird. Solche„Fabrilversammlungen", an denen Hunderte und Tausende teilnehmen, finden jetzt täglich statt— bald in der einen, bald in der anderen Fabrik, so daß die Polizei den Kampf dagegen ganz aufgegeben hat, die Fabrikanten aber lassen gewähren aus Furcht vor der Arbeiterschaft. Schon am Mittag des 20. blieb ein Teil der Fabriken stehen, der Rest im Laufe des Nachmittags. Die Arbeiterschaft strömte zu- sammen auf dem Kirchplatz. Auch das Militär besetzte dicht die Sttaßen, doch schritt es nicht ein. Die größte Schwierigkeit für die Partei war, sich der Leichen der ermordeten Arbeiter zu be- mächtigen, die in verschiedenen Orten lagen und von der Polizei be- wacht wurden. Schließlich gelang es, fünf Särge in der Brzesinska- straße zusammenzubringen und von hier aus begann der Zug. Schon am Anfang' zählte er 28 000 Personen. An der Spitze wurden die Fahnen getragen, eine schwarze und zwei rote Fahnen der Sozial- demokatie. Der Zusammenstoß mit den Kosaken schien unterwegs an mehreren Stellen unvermeidlich und einmal brach schon in einer Gruppe des riesenhaften Zuges die Panik ans. Aber die Masse war so entschlossen und fest, daß sie nicht einen Schritt zurück- weichen wollte. Um die Erschrockenen und Schwankenden wurden sofort Rufe laut:„Nicht zurückweichen I Wie eine Mauer stehen I" Und der Zug bewegte sich mit Gesang der„Roten Fahne" und revolutionären Rufen weiter. Die Haltung und Stimmung der ungeheuren Masse im Zuge, der an jeder Straßenecke eine Patrouille Soldaten und Polizei kreuzte, war überhaupt bewundernswert. Wie der Kopf des Zuges bereits in den Friedhof einmündete, mußte der Zug, weil der Friedhof nur einen Teil der Menge aufnehmen konnte, Halt machen, und das benutzten die Redner der Sozialdemokratie sofort zu zwei Agitationsreden: über die politische Lage und die Aufgaben der Revolution und über die Stellung der Sozialdemokratie zu den Soldaten. Die Reden wurden mit brausender Begeisterung aufgenommen. Auf dem Friedhof selbst wurde noch eine sozialdemokrattsche Rede über die Haltung des Klerus in der gegenwärtigen Revolutton gehalten. Schließlich wurden die Fahnen zusammengerollt und die Masse zerstreute sich truppweise ohne Zwischenfall. Ueber das Blutbad des folgenden Tages berichtet uns etat zweite Korrespondenz: Lodz , 21. Juni. (Eig. Ber.) Mit furchtbarer Genauigkeit wiederholte sich heute hier das Schicksal der Warschauer Maidemonstratton: Wir sind vom Militär in tückischster Weise in eine Falle gelockt worden! Heute sollte nämlich noch eins von den Opfer» der Schlächterei am Sonntag begraben werden. Die Arbeiterschaft war schon vor 6 Uhr nachmittags in unzähligen Tausenden m der Altstadt versammelt. Nun stellte es sich heraus, daß die Polizei sich Nachts der Leiche bemächtigt und in aller Stille begraben hatte. Die Arbeiterschaft geriet bei dieser Nachricht in Erregimg. Die Partei wollte angesichts des vereitelten Begräbnisses von der Demonstratton Abstand nehmen, doch wollten die versammelten Massen vom Auseinandergehen nichts hören. Der Zug setzte sich also in Be- wegung. In der Franziskanerstraße wurden die Fahnen entfaltet. Unterwegs strömten immer neue Massen zu, bald war fast das ganze proletarische Lodz im Zuge versammelt und die Begeisterung kannte keine Grenzen. Unterwegs suchten die Militärpattouillen absichtlich uns überall aus dem Wege gehen, sogar die Polizei zeigte freund» liche Mienen und nickte uns zu mit den Köpfen. So gelangte der Zug aus de» breiten„besseren" Straßen in die engen Gassen des Arbeiterviertels. Nach dem Verhalten der Soldaten die ganze Zeit über hatte niemand einen Gedanken mehr an einen Ueberfall gehegt; vertrauensvoll marschierte die singende Arbeiter- schaft. Und nun plötzlich, wie wir in den engen Gassen uns durch- pressen, stellt es sich heraus, daß vorn Kosaken den Weg versperren und hinten Militär bereits den Rückzug abgeschnitten hat. Auch alle Querstraßen waren dicht von den Schergen besetzt, um ein Eni- kommen unmöglich zu machen! Und da begannen die Salven zu krachen ohne jede Aufforderung zum Auseinandergehen oder die übliche Warnung! Eine furchtbare Panik brach aus. Die Menschen drängten sich so, in vergeblicher Mühe, den mordenden Kugeln zu entrinnen, daß viele dem Ersticken nahe waren. Manche suchten zu entweichen durch angrenzende Stacheldrahtzäune. Die Haustore wurden erbrochen und man rettete sich in die Haushöfe. Aber die Soldateska schoß auf die Fliehende» und bald lagen Haufen von Leichen und Verstümmelten vor und in den Hausfluren. Die Zahl der Opfer genau anzugeben, ist in diesem Augenblick unmöglich. Es werden jedenfalls nicht woniger als 100 sein. Wir wissen in diesem Augenblick nicht einmal, wie- viel und welche von unseren Agitatoren der Schlächterei zum Opfer gefallen sind, sicher ist nur, daß wir schmerzliche Verluste haben.... Als Antwort auf diese Greuel Proklamiert die Sozialdemokratie in diesem Augenblick für den Freitag, 23., den Generalstreik. *» � Ueber die Vorgänge am Freitag fehlen ausführliche Nachrichten. Der telephonische und telcgraphische Verkehr scheinen gestört. Bürgerliche Blätter melden aus Warschau , daß in Lodz Auf- rühr herrsche. So wird dem„Tag" telegraphiert: In Lodz herrscht blutiger Ausruhr. Eine ungeheure Bolls- menge flutet in höchster Erregung durch die Straßen. Das Militär feuert; es gibt bereits viele Tote und Verwundete. Die Polizei ist völlig machtlos. Nach der„Voffischen Ztg." telegraphiert Lodz: Barrikadenkampf ! Aus Warschan selbst melden die Blätter: In der Nalewski- straße kam es zu einem Straßenkampf zwischen Polizeiagcnten und Revolutionären . Drei Tote und viele Verwundete. Das Stadt- viertel wurde militärisch besetzt. ....-» Streikdemonstration in Warschau . Warschau , 23. Juni. (Meldung der„Petersburger Telegraphenagentur".) Heute mittag ist in fast allen Fa- briken die Arbeit eingestellt worden wegen der heutigen Prozeßvcrhandlung gegen Okrzeja, der am 26. Mai dieses Jahres im Hofe der Pragaschen Polizeiverwaltung eine Bombe zur Explosion gebracht hatte. Bei dem Anschlag waren sechs Personen verletzt worden. Okrzeja war verhaftet worden, nach- dem er auf der Flucht noch einett Polizisten getötet hatte. * Die verbotene Zarenrede. Petersburg, 23. Juni. Die Oberpreßbehörbe untersagte den Zeitungen, fernerhin die Rede des Kaisers an die Semstwo-Afel Ordnung zu interpretieren. Als Grund wird angeführt, einige Blätter hätten die Worte des Kaisers, obgleich fie nicht den ge- ringsten Hinweis auf die Möglichkeit einer Aenderung der Staats- grundsätze enthielten, doch dahin ausgelegt, daß die Einberufung einer Bollsvertretung auf Grundlage», wie sie in den lonstitutiK- nellen Staaten Westeuropas bestehen, bevorstehe. Die Zensur sorgt wenigstens einmal für wirkliche Auf- klärung über den Sinn der zaristischen Versprechungen, die in der Tat inhaltlos sind. • k• j Zensurverbote. Petersburg, 23. Juni. (Meldung der„Petersburger Tele- graphenagentur".) Der Minister des Innern hat die Herausgabe der Zeitung„Russ " für einen Monat verboten. Hub Induftrie und Handel. Steigerung der Lebensmittelpreise. Die Wirkungen der mit dem Jahre 1906 beginnenden Zollwucher» tarife erscheinen um so gefahrdrohender, als schon seit Frühjahr 1804 eine dauernde Erhöhung der Lebensmittelpreise eingetteten ist. Fast alle Waren haben sich dem Vorjahre gegenüber verteuert. Der Getreidepreis steht, außer bei Weizen, ganz be- deutend über dem Niveau des Vorjahres. Weizen notierte nämlich Mitte Juni 1901 pro Tonne 178 M. und fiel auf 174>/s M. im Juni des laufenden Jahres. Dagegen ist der Preis für Roggen erheblich hinaufgegangen. Im Laufe des Juni 1908 stieg der Roggenpreis um zirka Z'/e M. Auffallend ist auch die Preisnotierung bei Mais; für die Tonne geringerer Qualität betrug der Preis- aufschlag Mitte Juni gegen die gleiche Zeit des Vorjahres etwa 17 M. I Sehr verschiedenartig hat sich weiter das Preis- niveau für Kartoffeln sowie für Butter und Eier entwickelt. Trotzdem man im Juni des Vorjahres schon einen Ausfall des Kartoffelertrages befürchtete und den Preis entsprechend hoch fest- setzte, hat der Stand des Juni 1906 den des Vorjahres schon fast um die Hälfte überschritten. Mitte Juni 1904 kostete nämlich 1 Doppelzentner Kartoffeln zwischen 2,80 und 4,80 M., während man im Juni dieses Jahres 4 beziehungsweise 9 M. be- zahlen mußte. Im Mai hatte der Preis sogar 10 M. bettagen. Butter pflegt sonst immer erheblich billiger um diese Jahreszeit zu werden; der Preis flaute im Vorjahr um zirka 8 M. pro 80 Kilogramm ab; in diesem Jahre fand nun ein Preisaufschlag von 8 M. für dasselbe Quantum statt. Auf- fällig ist die Preisbewegung für Eier. Steigerte sich schon im Mai und Juni 1904 der Preis pro Schock um zirka 20 Pf., während die Nähe des Sommers gewöhnlich eine Verbilligung zu bringen pflegt, so stieg im lausenden Jahre der Eierpreis gar um 50 bis 60 Pf. Gefallen ist, entsprechend der Bewegung bei Weizen, der Preis für Weizenmehl, während er sowohl gegenüber dem Vor- monat als auch gegenüber dem Vorjahr bei R, o g g e n m e h l ge.
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