Ar. 150. 22. IahtMg. 1 KeilM des„fotmirts" Kcrlisn WMM Freitag, 30. Juni 1905. Zum Gewerkschaftskongreß Äußert sich v. E l m im Julihest der.Sozialistischen Monatshefte". Allgemein läßt sich v. Elm aus: Partei und Getverkschasten sind einsl Das hörten wir am Schlüsse des Stuttgarter Eewerkschaftskongresses; bei der Eröffnung des Kölner Kongresses hörten wir es wiederum, und am Schlüsse desselben vernahmen wir sogar: Partei und Gewerkschaften sind enid, sind eins auch in ihren Zielen! Diese Aussprüche mit Stillschweigen übergehen, hieße, sie als berechtigt anerkennen. Nach Köln wäre Schweigen aber geradezu unverantwortlich. Vom gewerkschaftlichen Standpunkt muß zunch Einspruch dagegen erhoben werden, daß sämtlichen der General. kommission der Gewerkschaften Deutschlands angeschlossenen Zentralverbänden mit solchen Erklärungen einfach der sozialdemokratische Parteistempel aufgedrückt und ihnen dadurch die Agitation unter den der Sozialdemokratie noch fernstehenden Arbeitern erheblich erschwert wird. Ich muß ganz entschieden be- streiten, daß sich die Gewerkschaften in ihren Statuten oder in pro. grammatischen Erklärungen zemals auf das Endziel der Sozialdemo- kratie, die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum, festgelegt hätten. Die Gewerkschaften sind Organisationen zu dem ausgesprochenen Zweck, auf dem Boden des heutigen Gegenwartsstaates siir die Arbeiterklasse die größtmöglichen Vorteile zu erringen; die Fragen einer zulünftigcn Gesellschaftsordnung zv erörtern, haben alle Ge- werkschaften bisher abgelehnt; auf das sozialdemokratischeProgramm verpflichtet keine Gewerkschaft neu eintretende Mitglieder. Ebenso müßten die Gewerkschaften die Verantwortung dafür ablehnen, wenn einmal in einer Persammlung ein Redner glaubt, seine Privat- nieinung über religiöse Fragen zum besten geben zu müssen. Derartige Entgleisungen kommen vor und werden daiin sofort von den Gegnern gegen die gesamte Gewerkschaftsbewegung ausge- schlachtet. Mit Unrecht: die Gewerkschaften kümmern sich um die religiösen Anschauungen ihrer Berufsangehörigen absolut nicht; im Kampfe für bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter ist d,p Mitwirkung alle»,, ob evangelisch oder katholisch oder atheistisch, notwendig. Die ostentative Betonung der Einheit von Partei und GeWerk- schast war im übrigen bei Beendigung des Kölner Kongresses um so weniger angebracht, als doch für jeden, der den Verhandlungen bei- wohnte, die Tatsache feststand, daß in Köln zum ersten Mal auf einein Gewerkschaftskongreß das Bestreben zutage trat,, den Entschei- dimgen der Parteitage der Sozialdemokratie vorzugreifen, der beut- schen Arbeiterbewegung nicht nur in wirtschaftlichen, sondern auch in politischen Fragen eine Marschroute zu geben...... Ich habe schon früher wiederholt betont: So sehr ich die völlige Unabhängigkeit der Gewerkschaften von jeder politischen Partei für notwendig halte, so sehr wünsche ich, daß der sozialistische Geist, der Geist der Solidarität, der Geist des Allgemeininteresses des ganzen Volkes in den Beschlüssen'der Gewerkschaftskongresse zum Ausdruck komme. Schon vor fünf Jahren lab« ich in dieser Zeit- schrift den kurzsichtigen, unsolidarischen Geist, der in der englischen Gewerkschaftsbewegung manchmal zutage trete, getadelt, aber gleich- zeitig betont, daß auch bei uns in Deutschland in den Aeußerungen einzelner Gewerkschaftsführer sich derselbe engherzige Standpunkt zeige.") Nach Köln kann ich nur sagen: Die deutsche Gewerkschafts. beweguna steht vor der Gefahr, in die Bahnen der englischen Ge- werkschaftSbewegung hineinzukommen. Die Führer der großen Ge- werkschaften fangen an, wie in England, die Stellungnahme zu allgemeinen Fvagen rein rechnerisch zu erwägen; mehr und mehr tritt das ideale Moment in den Hintergrund..... Ueber die Erörterung der Generalftreiksfwge sagt v. Elm unter anderem: Welcher Grund lag nun eigentlich für den Gewerlschafts» kongreß vor. in so scharfer Weise gegen eine etwaige Pro- pagierung deS politischen Massenstreiks in Deutschland Stellung zu nehmen? Der betreffende PassuS der mit allen gegen 7 Stimmen beschlossenen Resolution lautet: .Der Kongreß hält daher auch alle Versuche, durch die Pro- pagierung des politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik fest- legen zn wollen, für verwerflich; er empfiehlt der organisierten Arbeiterschaft, solchen Versuchen energisch entgegenzutreten." Nach dem Wortlaut der Resolution wäre der Versuch schon strafbar, durch einen Antrag zum Parteitag diesen bestimmen zu wollen, den politischen Massenstreik unter bestimmten Voraus- setzungen unter die Kampfmittel des Proletariats einzureihen. Die organisierte Arbeiterschaft soll solchem veriverflichen Tun energisch entgegentreten. Wenn das nicht in aller Form ein Bannstrahl gegen alle jene Genossen bedeutet, welche in diesem Punkt anderer Meinung sind, dann haben Worte überhaupt keinen Sinn mehr. Ein Maulkorbgesetz in schlimmster Form ist diefer Beschluß; daran gibt's nichts zu drehen und zu deuteln. Angesichts der Tatsache, daß die Reaktion neuerdings wiederum am Werke ist. den Arbeitern das Wahlrecht zu kürzen, und des UmstandeS, daß der Referent gerade auf den vom Hamburger Senat und von der Bürgerschaft geplanten Wahlrechtsraub hinwies und behauptete, ein Massenstreik in Hamburg würde nur d i e Wirkung haben, daß die Senatsvorlage mit noch größerer Mehrheit angenommen würde, konnte man die Resolution gar nicht anders denn als eine Weisung an die Arbeiter- schast deuten, Gewehr bei Fuß gegenüber den Wahlrechtsräubern zu stehen.... Auf dem Gewerkschaftskongreß sprach ein Redner auch vom Sozialistengesetz und meinte, wenn den Arbeitern da? Wahlrecht genommen würde, dann würden sie dieselben Mittel anwenden, wie unter dem Sozialistengesetz. Gerade ein Rückblick auf die Periode deS Sozialistengesetzes sollte uns aber lehren, daß für die Kapitalisten an dem Sozialistengesetze das Wertvollste das war, daß es mit dem- selben möglich war. die Arbeiter wirtschaftlich zu knechten. Und wenn die Kapitalisten heute danach streben, die Klinke der Gesetz- gebung wieder völlig in ihre Hand zu bekommen, so glaube man doch ja nicht, sie würden dann die Gewerkschaften ungestört sich weiter entwickeln lassen! Der Sockel, auf dem die internationale Großmacht, das Kapital, sowohl in Monarchien wie in Republiken, allein thronen kann, ist der Hunger, das Elend der Massen. Un- eingeschränkte Ausbeutungsfreiheit des Proletariats; das ist ihr Ideal, welches sie einesteils durch gesetzgeberische Maßnahmen, anderenteils durch Massenaussperrungen zu verwirklichen bestrebt sind. Die Gewerkschaften haben ein weit größeres Interesse an der Erhaltung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts, als die politische Partei, deren Werbekraft bei einer Verschlechterung des Wahlrechts nur gewinnen würde, und die aller- dingS ohne große Schwierigkeiten wieder zu ihrer alten Taktik unter dem Sozialistengesetz zurückgreifen könnte, während die Ge- werkschaften durch politische Maßnahmen zur Beschränkung des Koalitionsrechtes, die der Wahlentrechtung bald folgen würden, in ihrer Aktionsfähigkeit weit mehr gehemmt würden.... Anstatt eine Resolution gegen den politischen Massenstreik zu beschließen, wäre es weit eher am Platze gewesen, den Machthabern in Deutschland unzweideutig zu erklären: wagt ihr es. an dem Grundrecht des deutschen Volkes, am Wahlreckst, zu rütteln, dann werden die ge. werkschaftlich organisierten Arbeiter ihre wirtschaftliche Macht voll einsetzen, um ein solches Verbrechen zu verhindern! Und das alles sage ich, der ungefragt zu den Revisionisten Geworfene, der Änhänger der striktesten Neutralität innerhalb der Gewerkschaftsorganisationen, der ich das Hereinziehen aller Arbeiter, wes Glaubens und welcher politischen Richtung sie zprzeit •) Vergl. meinen Artikel Organisationsftarre in den„Sozäa- 'lssMey Mugtsheften". 1850, pa�. IIS ff, auch noch sein mögen, für die unerläßliche Vorbedingung zur Gr» Haltung der gegenwärtigen und zur Erringung weiterer p o l i t i- scher Rechte halte. Ueber die Maifeier-Frage sagt v. Elm: Für die A r b e i t s r u h e am 1. Mai, als wirksamste De- monstration zur Erkämpfung des Achtstundentages, bin ich im Jahre 1880 anfänglich mit großer Wärme eingetreten. Als dann aber am 13. April 1890 durch den Aufruf der sozialdemokratischen Fraktion die Begeisterung in Gewerkschaftskreisen gedämpft wurde, als die Fraktion erklärte, der Zweck der Maifeier werde völlig er- reicht durch Abhaltung von Arbeiterversammlungen, Arbeiterfesten und ähnlichen Kundgebungen, auf denen Massenbeschlüsse im Sinne des Pariser Kongresses gefaßt werden, da stand für mich fest, daß durch Arbeitsruhe nur ein Bruchteil der Arbeiter demonstrieren werde; und daher forderte ich damals die Arbeiter auf, von der all- gemeinen Arbeitsruhe Abstand zu nehmen, dagegen aber mindestens ein Drittel des am 1. Mai verdienten Tagelohnes zu opfern und mit diesen Geldern einen allgemeinen Kampffonds zur Erringung der achtstündigen Arbeitszeit zu bilden. Für die Arbeitsruhe traten damals viele Genossen auf den Plan, welche sie heute beseitigen wollen; in Hamburg wurde in einer großen Massenversammlung bei Sagebiel, in dem größten Saal Deutschlands , gegen meine Warnung die Arbeitsruhe am 1. Mai beschlossen. Ein großer Teil der Arbeiter Hamburgs brachte den Beschluß zur Ausführung. Die Kapstalisten antworteten mit Massenaussperrungen und verlangten von den Arbeitern den Austritt aus der Gewerkschaft. Ein er- bitterter Kampf folgte, der für die Arbeiter mit einer Niederlage endete. Tie Gewerkschaften waren damals noch zu schwach, um eine solche Feuerprobe siegreich bestehen zu können. Auf dem Partei- tag in Halle(1881) wurde sodann beschlossen, die Maifeier am ersten Sonntag im Äiai abzuhalten, 1892 in Berlin beschloß man, am Abend des 1. Mai zu demonstrieren, und erst auf dem Kölner Parteitag(1893) wurde die jetzige Art der Maifeier festgesetzt, nach der nur die, die ohne Schädigung der Arbeiterinteressen dazu im- stände sind, den 1. Mai durch Arbeitsruhe feiern sollen. Seit der Zeit hat sich die Maifeier durch Arbeitsruhe immer mehr ein- gebürgcrt; in einer großen Zahl kleinerer Orte, in denen anfänglich von Arbeitsruhe gar nicht gesprochen wurde, wurde in den letzten Jahren von einer verhältnismäßig großen Zahl von Arbeitern ge- feiert. Nun ist es vom rein gewerkschaftlichen Standpunkte aus ja sehr begreiflich, daß die Führer nicht besonders entzückt davon sind, wenn der Maifeier durch Arbeitsruhe an irgend einem Orte eine Aussperrung folgt, durch welche die von ihnen getroffenen gewerk- schaftlichen Kampfdispositionen völlig durchkreuzt werden. Würde es sich bei der Maifeier lediglich um eine rein gewerkschaftliche An- gelegenheit handeln, so würde auch ich dafür sein, von einer Arbeits ruhe Abstand zu nehmen. T-aS ist aber längst nicht mehr der Fall. Die Maifeier ist zu einer Demonstration nicht nur für Arbeiterschntz und Verkürzung der Arbeitszeit, sondern auch für die politische Frei- heit, für den Sozialismus geworden. Der 1. Mai gilt dem idealen Streben der Arbeiterschaft, den großen Zielen, deren Propagierung im täglichen Kleinkrieg der Gewerkschaften um Erhöhung der Lebens- Haltung der Arbeiter nicht besonders gefördert wird und auch nicht gefördert werden kann.... Es ist ganz falsch, den Gewerkschaftsführern zu unterstellen, es sei lediglich die Sorge um ihre Kassen, die sie bestimme, gegen die Arbeitsruhe einzutreten. Aber jeder tüchtige Gewerkschaftsbcamte wird und muß peinlich davon berührt sein, wenn unnütz Geld vcr- ausgabt wird, wenn trotz der Stärke der Organisation der Kampf mit einer Niederlage endet, eben weil die Kapitalisten das Feiern ihrer Arbeiter am 1. Mai als Veranlassung nahmen, ihnen gerade jetzt zu einer den Arbeitern sehr ungünstigen, Zeit einen Kamps aufzudrängen, welcher erst für eine spätere Periode des Jahres in Aus- ficht genommen war. Trotz alledem würde ich es jetzt, nachdem sich die ArbeitSruhe am 1. Mai mehr und mehr eingebürgert und sich ein großer Teil der Fabrikanten mit ihr abgefunden hat, sehr viele die Aus- sperrungen auf einen oder höchstens zwei bis drei Tage beschränken, für einen Fehler halten, die Arbeitsruhe zu beseitigen. Und zwar sind es ftir mich in erster Linie politische Gründe, die mich für die Beibehaltung und weitere Propagierung der Arbeitsruhe eintreten heißen. Noch so viele Tausende von Resolutionen, die man in Per- sammlungen beschließt, sind eine höchst unwirksame Demonstration; die Arbeiter müssen dazu erzogen werden, in wirksamerer Weise ihren Willen zum Ausdruck zu bringen. Wir leben in einer Zeit, in. der ständig neue bedeutsame Ereignisse die Aufmerksamkeit weiter Kreise der Bevölkerung auf sich lenken, wir sind keinen Tag vor Ucberraschungen sicher: da dürfte es sich weit mehr empfehlen, den einmal schon eingebürgerten Demonstrationstag wirksamer zu gestalten, als ihm seinen demonstrativen Charakter durch völlige Beseitigung der Arbeitsruhe zu nehmen. Nachdem sämtliche Anträge zur Maifeier zurückgezogen, über. ließ der Gewerkschaftskongreß die Entscheidung dem nächsten inter - nationalen Kongreß in Stuttgart , dadurch bekundend, daß er keines« wegs die Absicht habe, in Sachen der Maifeier Gegensätze mit der politischen Partei hervorzurufen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß bis dahin die Stimmung in Gewerkschaftskreisen in bas Gegenteil umgeschlagen ist. Di« Entscheidung über die Art der Maifeier liegt nicht bei den Gewerkschaftsführern, darüber bestimmen die Arbeiter selbst. Deren Entschließung wird aber wesentlich davon abhängen, wie sich Regierung und Parlament in nächster Zukunft zu dem ver- wcrflichen Treiben der Reaktionäre in Deutschland stellen werden. Am politischen Horizont zeigen sich gewitterschwere, düstere Wolken; bevor die Luft in Deutschlands Gauen von dem unheilvollen Re- aktionsbazillus gereinigt ist. wäre es ein politischer Fehler, eine der wirksamstenDcnwnstrationen gegen die Pläne der Finsterlinge be- seitigen zu wollen.... Ueber das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften sagt v. Elm dann: Die gewaltige EntWickelung der Gewerkschaften in den letzten zehn Jahren— in Köln waren zirka 1% Millionen organisierter Arbeiter vertreten— wird die politische Parter nötigen, der Ge- werkschaftLbewegung und ihren Interessen noch größere Beachtung, als bisher, zu schenken. Aufgabe der Sozialdemokratie ist es, den Geist der Solidarität bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern zu pflegen. Der Kölner Kongreß wird für viele Genossen eine Mahnung fem, sich dieser Aufgabe in steigendem Maße zu widmen. Der Mord in der Wilhelmshaveuerstratze. Unter ungeheurem Andrang des Publikums begann heute vor dem Schwurgericht die Verhandlung gegen den Arbeiter Emil Tschirner, der beschuldigt ist, die mit so ungewöhnlicher Grausam- keit verübte Mordtat au der Besitzerin deS HauseS WilhelmShavener- straß« 67 in Moabit , Witwe Auguste Sinnig verübt zu haben. Der Ansturm des Publikum? war ein so großer, daß GcnchtSdiener und Schutzleute alle Mühe hatten, die Ordnung aufrecht zu erhalte». Die Witwe August« Sinnig ist am Freitag, 6. Januar früh in dem in ihrem eigenen Hause betriebenen Zigarreuladen. in ihrem Blute schwimmend, tot aufgefunden worden. Die Leiche lag dicht bei der Ladentür, sie hatte am Kopfe nicht weniger als 22 Verletzungen, die zum Teil das Gehirn bloßgelegt haben. Das Blut war au« den Wunden in solcher Menge ausgeflossen, daß die Blutlache, die sich vor dem Ladentisch zeigt«, sich bis hinter den Tisch aus- dehnte. DaS ganze Warenlager war durchwühlt, alle Behälter geöffnet. Die Ladeukasie war geleert. Wie durch die Ermittelungen der Polizei festgestellt wurde, fehlte eine ganze Reihe von Gold- fachen, dre im Besitze der Ermordeten gelvesen waren. Wahrscheinlich ist Frau Sinnig bald nach Schluß ihres Geschäfts überfallen und ermordet worden. Sie wohnte in einer an den Zigarrenladen an» stoßenden, nur durch einen schmalen Korridor von»hm gettennten kleinen Stube. Ihr Bett war noch gänzlich unberührt. Als ver- meintlicher Täter ist der Arbeiter Tschirner in Haft genommen worden in dem Augenblicke, als er ein Paket, in welchem sich die der Ermordeten geraubten Goldsachen befanden, bei den Uhrmachern und Goldwarenhandlem KurtiuS u. Wildt. Alt-Moabit 82. zum Kaufe anbot. Emil Tschirner steht nunmehr unter der Auflage deS Mordes und schweren Dieb» stahls im wiederholten Rückfalle vor den Geschworenen. Den Vorsitz im Gerichtshöfe fühtt LandgerichtSrat Met Huer, die Auflage ver- tritt Staatsanwaltschaftsrat Bahre, die Verteidigung führen die Rechtsanwälte Dr. S ch w i n d t und Arndt. Als Zeugen sind 86 Personen geladen, außerdem als medizimfche Sachverstand, ge die Medizinalräte Dr. Hoffmann und Dr. Leppmann. GerichtSarzt Dr. Störmer und Assistenzarzt Dr. Artur S ch u l z. Da die Verhandlung mehrere Tage in Anspruch nehmen wird. werden zwei Ersatzgeschworene ausgelost. Der Angeklagte ist ein mittelgroßer, sehr schmächtiger Mensch mit sehr schmalem, äußerst blassem Gesicht und einem kaum ficht» baren Anflug von Schnurrbart. Er trägt um das Handgelenk eine Binde, die an den von ihm unternommenen Selbstmordversuch durch Oeffnen der Pulsadern erinnert. Der Vorsitzende beginnt nach Verlesung des Eröffnungsbeschlusses die Vernehmung des Angeklagten. Mit sehr leiser Stimme erklärt dieser auf Befragen des Vorsitzenden folgendes: Er sei am 26. Februar 1882 zn Lauban in Schlesien als Sohn des Arbeiters Karl Tschirner geboren. Er sei nicht Soldat gewesen und mehrfach vorbestraft. Die erste Strafe stamme aus dem Jahre 1894 als er gerade das straf- mündige Alter erreicht habe. Er habe sich dann i. J.'.1902 an einem größeren Warendiebstahl beteiligt und sei vom Landgericht II zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt wurden. Diese Strafe habe er am 20. November 1904 in Tegel verbüßt. Er sei vor der Strafanstalt von seiner Schwester, einer Frau BaSler, deren Mann in den SiemenS-Schuckert -Werken Schmied und Portier sei, abgeholt worden. Er habe außer dieser noch eine andere Schwester in Berlin . Diese sei mit dein Portier Lozow verheiratet und wohne WilhelmShavenerstr. 68. Bald nach seiner Entlassung aus dem Ge- fängnis sei auch die Entlassung seines BruderS, der sich zurzeit in einer Irrenanstalt befinde, erfolgt. Er sei zu seiner Schwester, der Frau Lozow, gezogen und habe hier die im Nebenhause wohnhafte Frau Sinnig kennen gelernt.— Vors.: Angeklagter Tschirner. be- kennen Sie sich schuldig, die Frau Sinnig ermordet zu haben?— A n g e k l.: Nein! Ich kannte die Frau Sinnig ebenso nur, wie ich viele andere Menschen kenne.— Vors.: Sie haben doch ihre Zigaretten bei der Frau S. gekaust?— A u g e k l.: Jawohl, ich war etwa 6, 7, 8 mal dort gewesen. Sonst— so erklärt er— sei er weiter nicht mit ihr in Verkehr gekommen. Von dem Morde habe er erst am Freitag, den 6. Januar, abends Kenntnis erhalten, als er von seiner Arbeit bei Siemens u. Schuckert mit dem Arbeiter Damelowskh auf dem Heimwege sich befand. Da haben sie beide die Bekanntmachung an den Anschlagsäulen, durch welche 1000 M. Belohnung ausgesetzt wurden. gjtlesen. Er sei am Freitagabend zwischen 7 und 7'/z Uhr in einer Nestauration gelvesen, dann nach der WilhelmShavenerstraße zu seiner Schtvcster gegangen, habe dort auch vom Morde gesprochen, von dort sei er zu gunkel in der Kirchstraße gegangen und habe dort Abendbrot gegessen, dann habe er sich noch eine Weile bei seiner Schwester in der Flensburg erstraße aufgehalten und sei schließlich um UVi Uhr nach Hause gekommen. Von der Tatsache, daß der Witwe Sinnig Goldsachen abhanden gekommen, will er bis zu seiner am Mittwoch, den 11. Januar, erfolgten Verhaftung (der Mord war am Donnerstag, den 6. Januar, verübt) nichts ge- tvußt habe». Er behauptet, daß er die Schmucksachen, die bei ihm gefunden worden sind, in einem an der Ecke der Turm» und WilhelmShavenerstraße liegenden Päckchen gefunden habe. Ueber diesen Punkt hat er verschiedene Angaben gemacht. Bei seiner ersten Vernehmung hat er gesagt, daß er den Fund am Freitag, 6. Januar, abends gemacht habe, er hat dies dann dahin abgeändert, daß er den Fund schon am Donnerstag abend, dem Tage, an welchem der Mord passierte, gegen lO'/z Uhr, als er von seiner Schwester weg- ging, gemacht habe. Er gibt zu, daß er von diesem kostbaren Fund niemand Mitteilung gemacht und auch gar nicht auf den Gedanken gekommen sei, daß die Goldsachen mit dem Morde in irgend welchem usammenhange ständen, obwohl 1000 M. Belohnung ausgesetzt worden waren. Er habe sich über den Fund sehr gefteut und da er in Geldverlegenheit war, habe er am 11. Januar, abends ver- sucht, die Gold- und Schmucksachen zu Gelde zu machen. Er habe sie den Goldwarenhändlern KurtiuS und Wildt angeboten, habe dort einige Zeit warten müssen und sei sehr erstaunt gewesen, als plötzlich zwei Beamte auftauchten, die ihn nach der Herkunft der Goldsachen examinierten. Er gibt zu, daß er in der Bestürzung zunächst nicht zutreffende Angaben gemacht habe, bleibt nun aber mit Entschiedenheit dabei, daß er nicht der Mörder sei, sondern das Paketchen mit Goldsachen vor dem Hause WilhelmShavenerstr. 72 gefunden habe. Der Fund deS Pakets mit den Goldsachen sei folgendermaßen gewesen: Er sei an jenem Abend die Gotzkotvskystraße entlang bis zur Turmsttaße gegangen. Da er direkt von der Arbeit kam, sei er erst zu seiner Schwester gegangen und habe dort Abendbrot gegessen. Dann sei er zu der Frau Sinnig gegangen und habe sich Zigaretten gekauft. Nach 10 Uhr sei er dann von semer Schwester weggegangen. Als er die Turmstraße entlang ging, habe er vor dem Hause Nr. 71 oder 72 auf dem Biirgersteige ein kleines in Zeitungspapier eingewickeltes Paket gefunden. Er habe eS aufgemacht und gesehen, daß Goldsachen darin enthalten waren. Er habe eS schnell eingesteckt und sei dann quer durch den Kleinen Tiergarten gegangen nach einem Patzenhofer Ausschank in Ver Straße Alt-Moabit. Von hier aus sei er, da er die Absicht gehabt habe, für die Nacht eine Damenbekanntschaft zu machen,»ach der Beusselstraße gegaugeu. Von dort sei er wieder nach Alt-Moabit zurückgegangen und habe hier eine Prostituierte angesprochen, die er schon von früher her kannte. Er sei in deren Wohnung gewesen und sei dann mit ,hr in da» Lokal von Wehpke gegangen. Hier sei noch eine andere Prostituierte hinzugekommen, d,e er ebenfalls ftei- gehalten habe. Um'/AS Uhr habe er zu Wehpke gesagt:. Herrsch. es ist ja schon V«*2 Uhr, da müssen Sie ja die Bude zumachen I" Um 12 Uhr sei er dann gegangen und habe erst mit der Prosti« tuierten noch einige Zeit vor der Tür gestanden. Gr fei dann quer durch den Kleinen Tiergarten zu seiner Schwester nach der Wilhelms- havenersttaße gegangen und habe sich schlafen gelegt.— Auf Vor- halt, woher er das viele Geld gehabt habe, das er in jener Nacht ausgegeben hatte, erklärt Tschirner, er habe von feinem Bruder 60 Mark bekommen, von denen er 40 Mark gleich behalten habe. Den Rest habe er seiner Schwester zur Aufbewahrung übergeben. Vors.: Sie sollen vor kurzem im UntersuchmigSgefängniS einen Selbstmordversuch gemacht haben? Aus welchem Grunde täte» Sie dies?— A nge kl.: Ich war an jenem Tage in voller Verzweiflung, und wenn ich ein Messer gehabt hätte, dann weiß ich nicht, was ich getan hätte. Ich hatte daran gedacht, welch' großes Aussehen die Sache machen werde, daß ein Mensch, der dreimal vorbestraft worden, nun unter der furchtbaren Anklage des Morde? stehe, ich dachte daran, daß mein ganzes Vorleben aufgerollt tverden würde, und da ich an dem Morde völlig unschuldig bin, hat mich dies vollständig verziveifelt gemacht.— Bors.: Um auf ihre Vernrögensverhältuisje nochmals zurückzukommen: Sie bleiben doch auch jetzt noch dabei, daß Sie bis zum 4. Januar abends kein Geld gehabt und dann
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