Nr. 204. 22. Jahrgang. l. StilU to Jonuilrtii" Krlim Nsldsdlxlt. Freitag, t. September l905. Die Fortsetzung einer unmöglichen Diskussion. Von K. K a u t s k h. 1. Guter Ton und richtige Auffassung. In memem Artikel über„Die Stimmung in der deutschen Sozialdemokratie"(„Neue Zeit", Nr. 42) hatte ich unter anderem auch den„Vorwärts" kritisiert. Dieser antwortete am 19. und 2». Juli, eben, als ich meine Ferien angetreten. So komme ich erst jetzt dazu, ihm zu antworten. Aber ist es überhaupt möglich, die Diskussion fortzuspinnen? Der„Vorwärts" betitelt die eine seiner Erwiderungen mit:„Un- mögliche Diskussion" und sucht nachzuweisen, daß meine Art der Kritik jede Diskussion unmöglich mache. In der Tat könnte eine Fortsetzung des Diskutierens nichts erzielen als Unerquicklichkeitcn, wenn man es, wie der„Vorwärts" wieder einmal tut, auf das Gebiet des„guten Tones" lenkt. Ein Entrüstungsduett über den guten Ton kann naturgemäß nicht anders enden als mit dem schlechtesten. Das zeigen unsere Erfahrungen immer wieder von neuem. Ich begnüge mich daher hier damit, einfach zu konstatieren, daß ich in meinem Artikel keine einzige Person direkt oder indirekt an- gegriffen habe. Der„Vorwärts" dagegen, der mir eine„Polemik der persönlichen Herabsetzung" und„das tiefe Niveau der persönlichen Reibereien" vorwirft, spricht gleichzeitig von meinem„H o ch m u t". meiner„h ö ch st u n z u- reichenden Kriti k", meiner„U e b e r h" b u n g" und„A n- m a ß u n g", meinen„p u b l i z i st i s ch e ri Unsitte n",„Lite- ratenmätzchen" und„bösartigen Unrichtigkeiten". Es fehlt nur noch, daß er. wie Herr v. Trotha einen unbequemen Kritiker, mich für völlig„unreif" erklärt. Indes, wenn meine Kritik auch ganz unpersönlich gehalten war, so fällt es mir doch nicht ein, leugnen zu wollen, daß sie zu sehr scharfen sachlichen Urteilen kam, vor allem zu dem, daß unser Zentralorgan„in seiner jetzigen Form unfähig" sei,„der Partei in inneren Parteifragen als führendes Organ zu dienen". Den Anlaß dazu gab die Haltung des„Vorwärts" gegenüber einer inneren Parteifrage von so hervorragender Wichtigkeit, wie sie der politische M a s s e n st r a i k darstellt, der augenblicklich in der ganzen Partei auf das lebhafteste diskutiert wird. Was hat der„Vorwärts" zu dieser Diskussion beigetragen? Das kritische Referat über die Schrift der Genossin Roland-Holst. Das ist meines Erinnerns bisher seine einzige größere Auseinander- setzung über die Frage des politischen Massenstreiks. Und gerade die erschien mir völlig„unzureichend". Ich fand, der„Vorwärts" habe„die ganze Schrift nicht verstanden, wenn er ihr vorwirft, sie mache den politischen' Streik aus einem unter ganz bestimmten Ver- Hältnissen möglichen und erforderlichen Akt der proletarischen Not- wehr zur Methode des Klassenkampfes, zum eigentlichen Mittel des proletarischen Sieges". Dies Mißverständnis aber sei das einzige Argument, das der„Vorwärts" vorzubringen wisse, um Methode und Schlußfolgerungen des Buches abzulehnen. Und ich zitierte (S. 494) einen langen Passus aus der Schrift, in dem es aushrück- lich heißt, daß„der politischie Massenstreik eine nur selten, in be- stimmten geschichtlichen Situationen anwendbare Waffe ist". In diesem Passus hatte also die Genossin Roland-Holst ausdrücklich jenen Gesichtspunkt hervorgehoben, den der„Vorwärts" bei ihr ver- mißte, und jene Auffassung abgelehnt, die der„Vorwärts" ihr vor- wirft. Was antwortet dieser mir darauf? Hält er mir nun Zitate entgegen, aus denen er die Richtigkeit seiner Auffassung ableitet? Keine Zeile! Meinem ausführlichen Zitat begegnet er mit der all- gemeinen Versicherung, er habe sich nicht geirrt. Außer diesem Zeugnis, das er der eigenen Glaubwürdigkeit ausstellt, weiß er nur noch zu sagen, die Verfasserin der Schrift bewege sich in Wider- sprächen, was aber auch nur behauptet, mit keinem einzigen Zitat bewiesen wird. Mit leeren Behauptungen wird meine Feststellung natürlich nicht erschüttert, die durch ein unzweideutiges Zitat belegt ist. Uebrigens ist die Auffassung der Roland-Holstschcn Schrift, die ich vertrete, auch die der anderen Referenten darüber in der Partei- presse, soweit sie mir zu Gesicht gekommen. Das könnte genügen. Aber ich glaubte noch ein übriges tun zu müssen und wendete mich an die Verfasserin selbst. Diese schien mir am kompetentesten zur Entscheidung der Frage, wer sie verstanden. Sie antwortete m i r folgendes: „Natürlich haben Sie in der Streitfrage mit dem„Vorwärts" voll ständig meine Absicht wiedergegeben. Wie der „Vorwärts" dazu kommt, aus meiner Schrift herauszulesen, daß ich den Massenstreik als d i c Methode des proletarischen Klassen- kampfes betrachte, ist mir unbegreiflich. Gegen eine solche Ueberschätzung, wie er durch die revolutionären, antiparlamcn- tarischen Gewerkschafter stattfindet, ist die Schrift ja zum Teil gc- wandt. Auch habe ich mich gerade bemüht, den innerlichen Zu- sammenhang der verschiedenen Waffen des Proletariats und der verschiedenen Methoden des proletarischen Kampfes zu betonen, hervorzuheben, wie sie einander ergänzen." Welcher Hochmut der Genossin Roland-Holst! Sie erfrecht sich, etwas ganz anderes geschrieben zu haben, als der„Vorwärts" aus ihrer Schrift„herausgelesen" hat. Eine arge„publizistische Un- sitte"! Unsere Freundin ist offenbar schon auf demselben„tiefen Niveau persönlicher Reibereien" angelangt wie ich! 2. Die Diskussion deS Massenstreiks. Indes, meine Polemik gegen diese falsche Auffassung der Schrift durch den„Vorwärts" erschien ihm, wenn auch„hochmütig" und„höchst unzureichend", so doch noch diskussionsfähig. Dann aber sieht er mich Gräßliches vollbringen und so„oberflächlich" und „unsachlich" werden, daß jede weitere Diskussion unmöglich wird und der„Vorwärts" sich mit hochgradiger Entrüstung begnügt. Hier versagt ihm selbst das, was er eine„sachliche" Widerlegung nennt, nämlich die emphatische Wiederholung der Behauptung, er habe sich nicht geirrt. Welches ist nun meine Missetat? Nachdem der„Vorwärts" die Schrift der Genossin Roland-Holst falsch aufgefaßt und kritisiert hat, geht er in seinem Artikel dazu über, die Diskussion des Massenstreiks überhaupt zu vcrpönen, und er tut dies in emer Weise, die meiner Ansicht nach nichts anderes verdient als Hohn und Spott. Ich habe allerdings gemeint, die UnHaltbarkeit der Logik des„Vorwärts" liege so klar zutsige, daß es genüge, sie mit ein paar Worten zu kennzeichnen. Wenn das aber unserem Zentralorgan als bloße Polemik„persönlicher Herab- setzung" erscheint, kann ich auch sachlicher und gründlicher werden. Allerdings erfordert das einige Geduld unserer Leser. Der Gewerkschaftskongreß hatte den„Vorwärts" gezwungen, sich mit der Frage des politischen Massenstreiks zu beschäftigen. Äm 8. Juni veröffentlichte er einen Artikel:„Gewerkschaft und Partei", in dem er unter anderem über den Massenstreik folgendes aus- führte: „Daß die Gewerkschaftsorganisation mit dem politischen Massen- streik nichts zu tun haben will, halten wir für ganz richtig. Wir wünschen nicht, daß die politischen Aufgaben der organi- sierten Arbeiterklasse von t.en Gewerkschaften übernommen werden. ... Hätte der Gewerkschaftskongreß erklärt, wir haben lediglich gewerkschaftliche Aufgaben, in diesen Rahmen gehört der politische Massenstreik zur Erkäm'pfung politischer Rechte oder zur Ver- Hinderung politischer Entrechtung nicht hinein, das überlassen wir der politischen Organisation der Arbeiter, dann hätte kaum jemand etwas dagegen einzuwenden.... Wozu haben wir denn die sozialdemokratische Propaganda? Deren Auf- «abe ist es, die Köpfe zu revolutionieren und die Arbeiter reif zu machen für die Tat, sie dahin zu bringen, daß sie für die Er- kämpfung politischer Rechte und Freiheiten im Notfall das Letzte wagen.... Also, wenn schon zugegeben wird, daß hier Fragen zur Erörterung stehen, deren Lösung der politischen Organi- sation zufällt(Abwehr von Gewaltstreichcn der Reaktion), wozu verlangt man dann von den Gewerkschaften, sie sollten er- klären, wie sie sich die Lösung denken?... Es ist dann erhebliches Gewicht darauf gelegt worden, daß den Gewerkschaften empfohlen wird, den politischen Massenstreik nicht zu diskutieren. Es ist ja nun dadurch die Partei nicht verhindert, dieses wie irgend ein anderes Kampfmittel zu diskutieren." Hier wird also der Beschluß des Gewerkschaftskongresses nicht damit gerechtfertigt, daß die Diskussion des Massenstreiks überhaupt ein Nachteil ist, sondern damit, daß sie eine Aufgabe der politischen Organisation, der Partei sei, von der man verlangen darf, daß sie uns sage, wie sie sich die Lösung der Frage des Massenstreiks, der„Abwehr von Gewaltstreichen der Reaktion", denkt. Als dann der„Vorwärts" am 25. Juni, also etwa zwei Wochen später, die Schrift der Genossin Roland-Holst besprach, hätte man annehmen dürfen, er werde diese Gelegenheit ergreifen, nun selbst als„führendes Organ" der übrigen Parteipressc bei dieser Lösung, wenn schon nicht voranzugehen, so doch mit Anstand nachzuhinken. Statt dessen erklärte er als einen„weiteren Fehler der Schrift" folgendes: „Kautsky fordert ausdrücklich in seiner Vorrede zum Dis- kutieren und Studieren des politischen Massenstreiks als Vor- bereitung für kommende Kämpfe auf. Diese Aufforderung hat einen guten Sinn, wenn man dem politischen Massenstreik die hervorragende und entscheidende Rolle für die Arbeiterbewegung zu- schreibt, wie es in der Schrift der Genossin Roland-Holst geschieht____ Dann müßten die Diskussionen über den Massenstreik allerdings in alle Kreise der Partei und der Gewerkschaften getragen werden, und es gäbe keine wichtigere Aufgabe als diese. In Wahrheit aber hat die Sozialdemokratie keinen Anlaß, dem politischen Massenstreik die unbedingte und außerordentliche Be- deutung zuzuschreiben, auf welche die Betrachtungen der vor- liegenden Schrift hinausgehen. Vielmehr besteht die Gefahr, daß durch das eifrige Studieren und Diskutieren solcher Frage die Phantasie der Arbeiterklasse auf unsichere Hofs- nungen gerichtet und von wichtigen näher liegenden Aufgaben ab- gezogen wird— ganz abgesehen davon, daß das reichliche Reden von und Drohen mit der Revolution mehr geeignet ist, die reaktionären Zettelungen gegen die Arbeiterschaft zu stärken, als die Arbeiter zur Entschlossenheit zu erziehen für den Fall, wo es sich noch lange nicht um den endgültigen Sieg, wohl aber um die Abwehr von Angriffen auf bestehende Rechte handelt." Am 8. Juni fand also der„Vorwärts", die Diskussion des politischen Massenstreiks sei eine Aufgabe der Partei, deshalb aber keine Aufgabe der Gewerkschaften. Am 25. Juni dagegen erklärte er, wäre die Diskussion des politischen Massenstreiks so wichtig, wie die Genossin Roland-Holst und ich meinen, dann müßte sie in alle Kreise der Partei und der Gewerkschaften getragen werden. Es sei aber besser, wenn weder diese noch jene sich viel damit abgäben, denn durch das eifrige Studieren und Diskutieren derartiger revolutionärer Dinge werde die Arbeiterklasse von wichtigeren Aufgaben abgezogen und die Reaktion gestärkt. Diese Ausführungen vom 25. stehen im vollsten Widerspruch zu denen vom 8. Juni. Es scheint also, als sei man in der Redaktion unseres Zentralorgans bei der Diskufsion über den Massenstreik noch nicht einmal so weit gekommen, sich darüber einig zu werden, ob, wo und wie eine solche Diskussion ratsam sei. Aber noch sonderbarer als die Haltung des„Vorwärts" gegen- über der Frage, ob der Massenstreik überhaupt zu diskutieren sei, sind die Gründe, mit denen er schließlich vor der eifrigen Diskussion dieser Frage warnt. Einige davon haben wir schon kennen gelernt. Der eine davon ist der Hinweis auf die Gefahr, daß durch eine derartige Diskussion die„Phantasie der Arbeiterklasse auf unsichere Hoffnungen gerichtet und von wichtigen-mäher liegenden Aufgaben abgezogen wird". Sollte diese Maxime Geltung in der Partei erlangen, dann muß gleich jede Diskussion verpönt werden, die über unsere nächst- liegenden Aufgaben hinausgeht. Wenn schon der Massenstreik„un- sichere Hoffnungen" erweckt, wie viel mehr dann unfere Endziele oder die Eroberung der politischen Macht, die Revolution! Ueber alle diese Themata dürfte nicht mehr gesprochen werden, wenn unser Zentralorgan recht hätte. Und solche Argumente soll man ruhig hinnehmen oder gar noch ernsthaft und leidenschaftslos würdigen! Und nun gar der folgende Satz, in dem darauf hingewiesen wird, daß„das reichliche Reden von und Drohen mit der Revolution mehr geeignet ist, die reaktionären Zettelpngcn gegen die Sozialdemokratie zu stärken, als die Arbeiterschaft zur Entschlossenheit zu erziehen usw." Als ich diesen Satz las, sah, wie im Jahre der glorreichen russischen Revolution das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie über die Revolution zu reden wagt, da stieg nur die Schamröte ins Gesicht. Dieser Satz war's, der nieincn ganzen„Hochmut" erregte, der mich zu der„Anmaßung" und dem„publizistischen Unfug" trieb, gegen eine derartige Sprache zu protestieren. Wenn ich dabei einen Fehler beging, so war es höchstens der, daß ich das nicht energisch genug tat. Vor allem, verehrter Kollege vom„Vorwärts": wer hat mit der Revolution gedroht? Wo ist in einer Schrift der Genossin Roland-Holst, oder von mir, oder sonst einer sozialdemokratischen Untersuchung über den Massenstreik mit der Revolution gedroht worden? Es war eine Zeitlang ein Unfug der Staatsanwälte, jede Untersuchung über die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit einer Re- Volution als eine Drohung damit aufzufassen. Sie haben sich das abgewöhnen müssen, nun aber kommt das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie und sieht in der Diskutierung eines neuen Kampfmittels der Partei die Drohung mit der Revo- lution! Aber schon das bloße„reichliche Reden" davon verursacht ihm Beklemmungen! Welche Seclenqualcn müssen da seine Redakteure erdulden, die jetzt seit Monaten durch die russischen Vorgänge gc- zwungen werden, tagaus tagein aufs reichlichste von der Revolution zu reden und dadurch die„reaktionären Zettelungen" zu stärken! Die Stellung unseres Zentralorgans zur Revolution erhält eine weitere Beleuchtung in dem folgenden Argument: „Wir meinen, daß die Arbeitsverweigerung zu politischen Zwecken ein Kampfmittel der Arbeiterklasse ist. Es ist aber nicht ein Kampfesmittel, dessen Propagierung den obersten Grundsatz der sozialistischen Taktik aufheben oder stören oder nur irgendwie der- fchleiern darf. Der oberste Grundsatz der sozialdemokratischen Taktik ist und bleibt aber allerdings die Revolutionierung der Köpfe, die gerade darum, wie unsere Gegner gesagt haben, tödlich ist, weil sie sich der Gesetze bedient und durch Gesetze nicht unter- drückt werden kann." Selbstverständlich haben wir an der Revolutionierung der Köpfe zu arbeiten. Wem fiele es ein, das zu leugnen? Aber was ist darunter zu verstehen? Aufklärung des Proletariats über seine Stellung in Staat und Gesellschaft, über die historischen Aufgaben. die ihm daraus erwachsen, über die Kräfte, die Mittel und Wege, die ihm zu deren Lösung zu Gebote stehen. Wie aber soll die Dis- kutierung oder Propagierung des Massenstreiks imstande sein, diese Aufklärung zu stören? Zu welchem Resultat dies Studium immer führen mag, es selbst muß zu einem wirksamen Mittel werden, die Revolutionierung der Köpfe zu fördern. Gestört kann dies« Revo- lutionierung eher dadurch werde», daß man, wie der„Vorwärts", fürchtet, solche Studien würden die Phantasie der Arbeiter auf un- sichere Hoffnungen richten und von näher liegenden Aufgaben ab- ziehen. In der Tat, wie kann man die Köpfe der Arbeiter revolu- tioniercn, ohne ihr Interesse von den nächstliegenden auf ferner- liegende Aufgaben zu lenken, ihren politischen Horizont zu erweitern und sie mit Hoffnungen für die Zukunft zu erfüllen? Freilich mit „unsicheren" Hoffnungen, aber sichere Hoffnungen gibt es einmal nicht. Ich will nicht weiter die Theorie untersuchen, die der„Vor- wärts" nun über die„allein wesentliche Taktik der Sozial- demokratie" aufstellt, worunter er das Streben versteht, die„uns noch verständnislos gegenüberstehenden Massen mit Verständnis zu erfüllen oder doch mindestens einen solchen Eindruck auf die öffentliche Meinung hervorzurufen, daß die wenigen Prozent derer, welche durch ihre bevorzugte Stellung in der heutigen Ordnung naturgemäß Feinde der Arbeiterbewegung und aller Volksrechte sind, zur Ohnmacht verurteilt werden". Wie immer er sich einen Zustand vorstellen mag, in dem die „öffentliche Meinung" allein genügt, unsere Gegner„zur Ohnmacht zu verurteilen", auf jeden Fall bekommt diese famose„allein wesent- liche" Taktik ein Loch schon im nächsten Absatz, der mit der Möglich- keit rechnet, daß unsere Gegner auf die öffentliche Meinung pfeifen und es wagen, uns mit Gewalt alle„Wege der Gesetzlichkeit zu versperren". Was dann? Man sollte meinen, wer mit dieser Möglichkeit rechnet, sollte auch die Notwendigkeit einsehen, den Massenstreik eifrig zu diskutieren und zu studieren. Mit nichten: „Welche Mittel in solchen Fällen die geeigneten sind, das läßt sich nicht vorher studieren und nicht vorher diskutieren." Das ist sicher richtig. Welche Mittel wir in jeder bestimmten Situation in Anwendung bringen, das hängt von dieser Situation ab, und es wäre das verkehrteste, was wir tun könnten, wollten wir jetzt schon bestimmen, was wir in Situationen, die wir gar nicht kennen, tun werden. Aber darum handelt es sich bei der Diskussion des Massen st reiks gar nicht. Nicht, welche Mittel wir an- wenden wollen und werden, sondern welche Mittel wir even- tuell anwenden können, welche Mittel überhaupt uns zu G e- böte stehen, das ist die Frage. Wir haben zu untersuchen, ob der politische Massenstreik unter bestimmten Verhältnissen ein wirk- sames Mittel des Kampfes sein kann, nicht über nnS zu verpflichten, ihn unter allen Umständen anzuwenden. Wer das Bewußtsein hat, großen Kämpfen engegen zu gehen, muß vorher seine Waffen prüfen. Die Anwendung der Waffen ist dann eine Frage für sich, mit der ihre Prüfung nichts zu tun hat.?luf jeden Fall aber muß die Prüfung der Anwendung vorausgehen. Der„Vorwärts" dagegen hält sich— unglaublich aber wahr!— lieber an das umgekehrte Verfahren. Wenige Zeilen, nachdem er erklärt, man könne nicht vorher die Mittel diskutieren, die man an- wenden werde, wenn uns die Gesetzlichkeit versperrt sei, erklär» er: „Ist dieser Widerstand(gegen einen Staatsstreich) nicht ge- nügend stark, so ist für die Arbeiterschaft jedes Mittel des Kampfes gerechtfertigt, so ist insbesondere die Arbeitsver- Weigerung, die Stillegung der Produktion und des Verkehrs Pflicht aller Staatsbürge r." Also ohne jede Diskutierung der Bedingungen und Möglich- leiten des Massenstreiks dekretiert er sofort eine allgemeine Verpflichtung, ihn in einem bestimmten Falle anzuwenden. Indes geht der„Vorwärts" noch weiter. Genosse Katzcnstein hatte die Arbeiter Lübecks aufgefordert, die Wahlverschlechtcrung mit dem Generalstreik zu beantworten. Was bemerkt der„Vor- wärts" dazu, der die eifrige Diskutierung des Massenstreiks in der Arbeiterschaft gefahrvoll findet? Er hat gegen die sofortige Anwendung des Massenstreiks nur das eine einzuwenden: die Rückständigkeit der Arbeiter, die ihre politischen Freiheiten noch nicht genug zu schätzen wissen. Gäbe es nicht die Indifferenz der Ar- beiter, der„Vorwärts" wäre bereit, sofort den Lübecker General- streik zu proklamieren! Damit übertrumpft er freilich an„Radikalismus" eine ganze Reihe von Anhängern des Massenstreiks, die gerade durch dessen Studium und dessen Diskutierung zur Ansicht gekommen sind, ein oereinzelter, lokaler Versuch seiner Anwendung in einer Situation, wie der augenblicklich in Deutschland bestehenden, wäre ein kopfloses Abenteuer, das nur mit einer Niederlage enden könnte. Aber der„Vorwärts" weiß noch in anderer Weise zu über- trumpfen. Und er macht dabei zwei Entdeckungen, die seinen Beruf als führendes Organ der Partei glänzend demonstrieren, denn vor ihm ist keinem Genossen auch nur eine Ahnung derartiger Ideen gc- kommen. Während wir Toren, die wir den Massenstreik studieren, uns mit der Untersuchung der Frage abmühen, welche Arbeiterkatc- gorien wohl dabei in Betracht kämen, dekretiert der„Vorwärts" gleich frisch den Streik aller— Staatsbürger. Also zum Beispiel auch der Bauern. Wie die sich beeilen werden, ihr Rindvieh nicht mehr zu füttern, um die Regierung auszuhungern! Man kann wirklich nicht verlangen, daß wir diesen„Radikalis- mus" unseres Zentralorgans ernsthaft diskutieren! Aber es hat noch eine zweite sublime Idee: Im Falle des Staatsstreichs, ruft es,„sind alle Mittel der Notwehr be- rechtigt", ist„jedes Mittel des Kampfes gerechtfertigt". Und das ist nicht eine gelegentliche Entgleisung, sondern eine taktische Entdeckung, auf die es sich besonders viel einbildet. Es wird nicht müde, sie zu wiederholen, und in seiner Erwiderung auf meine Kritik läßt eS die Konstatierung fett drucken, der„Vorwärts" vertrete den Standpunkt,„daß nämlich in bestimmten Situationen das Proletariat jedes Mittel des Kampfes, nicht nur den politischen Massenstreik benutzen soll". Aber dieser Aufwand an Druckerschwärze erinnert an die An- kündigungen mancher Haarwuchsmittel. Auch diese„alle Mittel" bleiben Geheimmittel, über deren Beschaffenheit der„Vorwärts" kein Sterbenswörtchen verlauten läßt. Und doch wäre das so wichtig! Wenn die Frage des Massenstreiks heute die Geister in der Partei immer mehr beschäftigt, so geschieht es. weil man immer mehr zur Ansicht kommt, daß diese Art Streik das einzige Gewaltmittel darstellt, das dem modernen Proletariat in einem entwickelten kapitalistischen Staate zu wirksamem Massenkampf bei versagendem Parlamentarismus, bei der Abwehr von Gewalt zu Gebote steht. Eifrig haben wir alle noch nach einem anderen Mittel ausgeschaut, das in solchen Situationen verwendbar wäre— vergebens. Der „Vorwärts" aber hat nicht bloß ein anderes, sondern gleich eine ganze Reihe anderer Gewaltmittel für Fäll- per Notwehr parat, er spricht von allen Mitteln neben dem Massenstreik. Ist es Bescheidenheit, die ihn hindert, mit dieser epochemachenden Erfindung vor die Oeffentlichkeit zu treten? Oder sollte der Satz von„allen Mitteln" so zu verstehen sein. daß im Falle eines Staatsstreichs das Proletariat berechtigt sei, alle Mittel der Gewalt anzuwenden, die ihm gerade in den Sinn kommen, wie unzweckmäßig sie auch für unsere Situation sein mögen? Daß es dann„berechtigt" ist, auf die Barrikaden zu steigen, Bomben zu schmeißen, Paläste und Fabriken anzuzünden? Der Wortlaut dieses Satzes würde diese Deutung rechtfertigen. Aber ich nehme an, daß der Satz so nicht gemeint war. Aus jeden Fall wäre es höchst wünschenswert, wenn unser Zen- tralorgan diese seine taktische Erfindung näher erklärte, sonst könnten böse Menschen noch auf die Idee verfallen, der Verfasser dieses Satzes habe bei seiner Niederschrift vielleicht sehr energisch und radikal empfunden, aber gar nichts gedacht. Damit sind die Gesichtspunkte erschöpft, die unser Zentralorgan zur Frage des politischen Massenstreiks vorzubringen hat. Da ihm ihre erste Beleuchtung durch mich zu„oberflächlich" und„höchst un- zureichend" erschienen war, hoffe ich jetzt, seinem Bedürfnis nach
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