»,.210. mmm i KeilM des.Hmiilts" berliner Wlksllllltt. 5..-W.8 Z'MW« Debatten über Wenn und Aber. IV. Konnten wir in den früheren Erörterungen uns auf die Höhe einer sachlichen Diskussion über allgemeine Parteifragen erheben, so müssen wir leider nunmehr wieder, in der notgedrungenen Ab- wehr der weiteren Auseinandersetzungen Kautskys auch das Per- sönliche streifen. Kautsky erörtert ja sogar interne Redaktions- Verhältnisse, und diese bisher in der Partei nicht übliche Methode zwingt uns, unsererseits einige Bemerkungen zu seinen Behauplungen'zu machen. Wir schicken voraus, daß Kautsky jetzt sichtlich bemüht ist, nach den früheren Ausbrüchen einer nur persönlichen Polemik das persönlich Verletzende auszuscheiden, ja sogar äußerstes Wohlwollen zu bekunden. Dieses Wohlwollen freilich gehört zu jener Art, die ersticken kann. Zu den von Jahr zu Jahr wechselnden Schlagworten, mit denen man in der Partei die Genossen brandmarkt, die das Glück oder Unglück haben, mit einigen Parteischriftstellern nicht gleicher Meinung zu sein, dürfen wir nunmehr ein neues ftigen. Bisher glaubten wir, es gäbe nur Sozialdemokraten, es gäbe nur Partei- genossen, die im Sinne des Erfurter Programms und der Parteitags- beschlüsse schreiben und reden. Hatte man früher wohl die Scheidung zwischen Radikalen und Opportunisten, zwischen Revisionisten und Marxisten, zwischen Prinzipiellen und Mitläufern, so erfahren wir jetzt, daß es zwei Arten von Parteigenossen gibt, die ethisch-ästhctischcn und die ökonomisch-historischen oder auch die„Gefühlssozialisten" und die„entschiedenen Marxisten". Diese Scheidung ist ein allgemeines Urteil, das genau so viel und so wenig Wert hat wie dergleichen Stimmungsäußerungen insgesamt. Solange derartige Urteile nicht durch sorgsame, mit Beweisen gestützte Untersuchungen begründet werden, können sie in keiner Weise auf die Meinung der Partei Einfluß haben. Solche Scheidungen sind ebenso billig, wie sie leicht vergiftend auf das Parteileben wirken müßten, wenn man sie ohne weiteres als bare Münze, im Vertrauen vielleicht auf eine sonst verdienstvolle Autorität, hinnimmt. Das sind Etiketts, die man auf jede Flasche kleben kann. Die Notwendigkeit über die bloße Meinungsäußerung hinaus auch sachliche Beweise beizubringen, fühlt auch Kautsky und so be müht er sich denn, als Anzahlung auf eine gründlichere Erörterung, wie tpir hoffen, ein paar Beweisstücke vorzulegen. Ehe wir uns in die allgemeinen Erörterungen über ethisch-ästhetische und ökonomisch historische.Vorwärts"-Nedakteure einlassen, seien zunächst die Beweise geprüft. Man wird uns zugeben, daß, wenn es uns gelingt, die Beweise als durchweg wertlos im Hinblick auf die von Kautsky behaupteten persönlichen Eigenschaften dieser oder jener„Vorwärts"-Redak teure nachzuweisen, Kautsky nunmehr gezwungen ist, andere Be weise zu bringen, oder er begnügt sich mit der allgemeinen B e* h a n p t u n g, die man glauben kann und nicht glauben kann. Die Schwäche der Situation, in die sich Kautsky begeben hat, ersieht man schon aus der Einleitung. Genosse Kautsky redet von der guten alten Zeit des„Vorwärts". Das ist zwar ein schon seit Homers Zeiten ehrwürdig erprobtes Mittel, Tendenzen oder Personen der Gegenwart zu bekämpfen, in- dem man auseinandersetzt, wie sie durch ihr Tun eine gute Sache schmählich heruntergebracht hätten, aber ebenso zerfließt dieses Argument seit jeher sofort, wenn man es des ethisch-ästhetischen StünmungscharakterS entkleidet und nüchtern an die ökonomisch- historischen Tatsachen erinnert. „Der„Vorwärts" von heute ist nicht derselbe, der er in den ersten Jahren nach dem Sozialistengesetz war. Damals herrschte eben die ökonomische Denkweise vor, seine Politik wurde von Leuten gemacht, die in Nationalökonomie und Wirtschaftsgeschichte wohl zu Hause waren und für die Zusammenhänge zwischen Oekonomie und Politik das lebhafteste Interesse und größte Verständnis besaßen So schreibt Kautsky 190S am Vorabend des Parteitages von Jena . Möglich, daß Karl Kautsky heute über die gute alte Zeit solche Eindrücke hat, aber wir glauben ihm einen Dienst zu erweisen, wenn wir ihn ersuchen, diese gefühlssozialistische Erinnerung durch die präzise Angabe zu vertiefen, wann, in welchem Jahre, in welchem Augenblick der„Vorwärts" jene Vorzüge besessen haben soll. Geht man die Geschichte unserer Parteitage durch, dann gewahrt man nämlich die umgekehrte Erscheinung. Die Angriffe auf den„Vorwärts" sind nicht heftiger, sondern gelinder ge- worden, und wenn auch einzelne Parteigenossen in den letzten Jahren scharfe Angriffe gegen den„Vorwärts" auf den Parteitagen gerichtet haben, so stehen auch diese zurück hinter den Klagen aus der guten alten Zeit. Ja, es hat sogar in den letzten Jahren, gerade unter der beklagenswerten Herrschast des ethisch-ästhetischen Denkens Parteitage gegeben, auf denen der„Vorwärts "-gerühmt wurde und auf denen gar keine Beschwerden über ihn erhoben worden sind. Nach dem Sozialistengesetz wurde unser alter Liebknecht Chefredakteur des„Vorwärts ". Wir wissen aber ganz genau, daß Karl Kautsky gerade damals mit dem„Vorwärts " höchst unzufrieden war, daß er durchaus nicht ihn als führendes und prinzipielles Blatt anerkannte, und wir erinnern uns ferner sehr wohl, daß Genosse Kautsky erst Jahre später, als die von ihm jetzt entdeckte ethisch-ästhetische Aera tatsächlich begann, der„Gefahren" bewußt wurde. Das sind die ökonomisch- historischen Tatsachen, die jetzt in Kautskys Gefühl so sonderbar umgeschmolzen sind. Es ist gerade umgekehrt gewesen. Das Mißbehagen über den„Vorwärts" war bei Kautsky in der ethisch-ästhetischen Periode des Zentralorgans geschwunden, und es kehrte erst wieder, als die Ethisch-Aesthetischen nicht das Gefühl, aber die klare Ueberzeu gung hatten, daß manche von den inneren, leidenschaftlich erörterten Parteifragen sehr untergeordneten Ranges seien, daß sie vor allem von Kautsky nicht selten in unglücklichster Weise geführt wurden. Kautskys Gefühl verschärfte sich schließlich in demselben Maße, wie der„Vorwärts" ohne jede ethisch-ästhetische Abschwächung schroff zum Ausdruck brachte, daß Kautsky von den bisherigen Parteilr�ditionen bisweilen bedenklich abirre. Und nun zu den Beweisen, zu dem„Material" Kautskys. Nummer einS, das erste Beweisstück für die ethisch-ästhetische Denkart— nicht des„Vorwärts", sondern der von ihm gemeinten „Vorwärts"Redakteure, bilden die paar Zeilen, die in unserer letzten Engelsnummer den persönlichen Erinnerungen Bernsteins vorausgehen. Ueber diese Einleitungszeilen läßt sich nun alles mögliche sagen. Es ist ein durchaus verkehrter Maßstab der Kritik, wenn man von einer Arbeit etwas verlangt, was sie gar nicht geben wollte. Auf die Weise kann man jeden Artikel in Grund und Boden kriti- sieren, indem man voraussetzt, daß man einen anderen Artikel mit einem anderen Inhalt gewünscht habe. So kritisiert etwa ein Theater- besucher, der in eine Posse gehen will und eine Tragödie vorgesetzt erhält, und nun darauf schimpft, daß die Tragödie keine Posse sei. Die Einleitungszeilen wollten nichts anderes sein, als ein paar ein- leitende Akkorde, sie sollten„Stimmung" sein. Wir stellen uns Kautskys Entdeckerfreude lebhaft vor, als er dieses Beweisstück Kautsky Sensationen nennt, politisch- sozialen Verhältnisse am klarsten und grellsten Verhältnisse offenbart. Die aushob. In diesen einleitenden Zeilen war Stimmung, infolge- dessen konnte sie nur ein ethisch-ästhetischer Redakteur des„Vor- wärts" verfaßt haben, mithin bewiesen sie, daß dieser„Vorwärts"- Redakteur des ökonomisch-historischen Denkens und des entschiedenen Marxismus in betrübender Weise entbehre. Wir haben schon in unserem letzten Artikel angedeutet, wie sehr Kautsky in seinem Eifer seine neue RichtungSformel zu beweisen, von seinem Stilgefühl verlassen ward. Diese Einleitungszeilen stammen von einem Manne der in der Zeit des Sozialisten- gesetzes der leitende Redakteur des führenden Organs gewesen, der in dem unmittelbaren Verkehr mit Engels gelebt, der lange Zeit hindurch gleichberechtigt mit Kautsky das wissenschaftliche Zentralorgan herausgegeben, der ausersehen wurde, Lassalles Werke zu edieren und der schließlich auch jetzt noch mit den ehrenvollsten Aufträgen der Partei bedacht wird. Sicher I Seine Anschauungen teilt heute die Partei vielfach nicht. Auch ein ethisch- ästhetischer Redakteur des„Vorwärts" hat sich gelegentlich mit diesem Manne in einer Weise auseinandergesetzt, daß Karl Kautsky ihm seinen leb haftesten Beifall spendete. Daß aber dieser Parteischriftsteller ein Individuum sei. dem in der Politik nicht wissenschaftliche Einsicht, sondern die Erzielung moralischer und ästhetischer Empfindungen und Gefühle die Hauptsache sei, daß er ökonomisch nicht durchgebildet und Gefühlssozialist sei, das hatte sich die Partei bisher nicht träumen lassen. Wäre es wahr, so würde es die schwerste Verurteilung für die gute alte Zeit der Partei sein, in der dieses ethisch-ästhetische Subjekt unter allgemeinem Beifall eine ausschlaggebende Tätigkeit entwickelt hat. Es ist nicht nötig, den Namen dieses Kronzeugen für den ethisch ästhetischen Charakter der„Vorwärts"-Redakteure zu nennen, schon aus den Andeutungen des vorigen Artikels konnte jedermann ent nehmen, wer gemeint ist: E d u a r d B e r n st e i n hat das Pech gehabt, trotz aller seiner nüchternen ökonomischen Grundrichtnng in der lebhaften Erinnerung an den Tod von Friedrich Engels in Stimmung zu geraten. Einen weiteren Beweis für den Charakter der e.-ä. Redakteure, die nicht das Glück haben, immer mit Kautsky einer Meinung zu sein, bildet ihre Vorliebe für„Sensationen". Das Ueber wiegen des ethischen Interesses verführe diese Partei-Schrifv steller zur Oberflächlichkeit und Sensattonssucht, zur Unterschätzung des Forschens nach den Gründen der Erscheinung. Dieses Wort von den Sensationen, das man zuerst in Leipzig gehört hat, wird nun jetzt auch bereits recht reichlich nachgepfiffen, zu oft, als daß es noch erregen könnte. Dieses neu aufgekommene Schlagwort von den Sensationen ist noch sinnloser wie andere. Schließlich wird man den Halsbandprozeß der großen französischen Revolution auch als eine blöde Sensation nachträglich aus der Weltgeschichte streichen Was nach Leipzigs Vorgang sind die Scheinwerfer der unserer Zeit, in denen sich die Natur der gegenwärtigen Tatsache also, daß Sensationen im„Vorwärts" behandelt werden, will nichts besagen. Es käme nur darauf an, ob Kautsky nachweisen könnte, daß sie lediglich sensationell behandelt würden. Kautsky unterläßt diesen Nachweis. Er erwähnt lediglich den Ruhstrai Prozeß— auch Ruhstrats Pokerspiel ist uns schon wiederholt vor« geworfen worden— und er scheint zu meinen, daß diese Affäre nicht die Beachtung verdiene, die sie hat. Wir meinen allerdings, daß die Erscheinung der Abhängigkeit der ganzen Justiz eines Einzelstaates von der Spielleidenschaft eines Ministers eine wichtigere Angelegenheit sei, als etwa die Paschalaunen eines Theaterdirektors, die auch schon zu langwierigen prinzipiellen Aus einandersetzungen Anlaß gegeben haben. Der Ruhstratprozeß war umso wichtiger, als in ihm das Wesen unserer bürgerlichen Justiz in allen ihren Beziehungen zutage trat. Und wieder will eS das mangelhafte Stilgefühl Kautskys, daß er abermals als corpus delicti für e.-ä. Entrüstung Artikel wählt, die z. T. von„Vorwärts" Redakteuren geschrieben sind, denen auch Kautsky nachrühmt, daß sie das ökonomisch-historische Denken des entschiedenen Marxismus beherrschen. Gerade die— wir meinen mit Recht— sittlich ent rüsteten Bettachtungen stammen aus dieser Feder, während der ethisch-ästhetische Redakteur in den Erörterungen, die er einem der Ruhstrat-Prozesse gewidniet hatte, ans die j u r i sti sch e n Ungeheuerlich keilen der Prozedur in erster Linie aufmerksam machte. Wenn also Kautsky durchaus bei der Auffassung bcharrt, daß im„Vorwärts die e.-ä. Betrachtung überwiegt, so muß er diese Anklage auch gegen Redakteure erheben, die sich nach ihm durch ihre ökonomische Durchs bildung, durch das Ticfergraben, durch den Blick für das Wesen der Dinge, durch ihren Mangel an Oberflächlichkeit vorteilhast von den Gefühlssozialisten unterscheiden. Indessen Kautsky verstrickt sich noch stärker in seine neue Ent deckung von Parteirichtungen. Der„Vorwärts" soll davon geträumt haben, die Sozialdemokratie könnte einmal einen solchen Eindruck auf die öffentliche Meinung hervorrufen, daß nur wenige Prozent der Bevölkerung uns entgegen und diese wenige Prozent durch ihre Isolierung zur Ohnmacht verurteilt werden. Ei der Tausend! Die allerältesten Wahrheiten der sozialdemokratischen Auffassung werden plötzlich bei Kautsky zu gefiihlssozialistischen Träumereien, sobald er die Meinung hat, daß die alten Wahrheiten von der e.-ä.*) Gruppe wiederholt werden. Kautsky spielt in seinem etwas unvollständigen Zitat offenbar auf einen Satz der„Vorwärts"-Kritik des Roland Holstschen Buches an, in dem es hieß:«Die Macht der Reaktton beruht auf proletarischen Wählern, die eigentlich zu uns gehören und ohne die kein Reakttonsstreich möglich ist. Es bleibt daher die wesentliche Aufgabe der Sozialdemokratie, die ihr noch ver- ständniSlos gegenüberstehenden Massen mit Verständnis zu erfüllen, oder doch wenigstens einen solchen Einfluß auf die öffentliche Meinung hervorzurufen, daß die wenigen Prozent derer, welche durch ihre bevorzugte Stellung in der heutigen Ordnung der Dinge naturgemäß Feinde der Arbeiterbewegung und aller Volksrcchte sind, zur Ohnmacht verurteilt sind." Das soll nun e.-ä. sein. Wenn wir nicht sehr irren, hat am Beginn der modernen Arbeiter- bewegung niemand anders wie Lassalle gerade dieses Argument mit dem größten Nachdruck immer wieder in die Massen geworfen— ein Gefühlssozialist I Kürzlich hat Bebel geäußert: was man denn von uns verlange, wir hätten ja erst drei Millionen Wähler, man solle nur warten, bis wir sieben Millionen haben. Wahrscheinlich auch ein Gefühlssözialist I Solange eine Arbeiterbewegung besteht, solange es einen niodernen wissenschaftlichen Sozialismus gibt, ist das eines unserer Hauptargumente. Die wirtschaftliche Entwickelung führe dahin oder habe schon dahin geführt, daß nur wenig Prozent der Bevölkerung an der Aufrechterhaltung der jetzigen ökonomischen RechtSzuständc interessiert seien— daS sind die berühmten vier Prozent.von denen Lassalle chon gesprochen hat—. daß die große Masse ihrer Klassenkage nach an der Aufhebung dieser Gesellschaft, nicht das ethisch-ästhetische, andern das allerdringlichste ökonomische Interesse habe, während eine Schicht nicht unmittelbar am Klassenkampfe und an *) Abkürzung für ethisch-ästhetisch der Ausbeutung Beteiligter neuttalisiert oder sympathisch gestimmt werden könnte und müßte. Diese fundamentale Erkenntnis der internationalen Sozialdemokratte, diese in Tausenden von Artikeln, Broschüren, Reden immer wiederholten Gedanken brauchen nur im „Vorwärts" zu stehen, und Kautsky bucht sie als Beweis für das mangelhafte ökonomische Denken der schuldigen Redakteure. Uns dünkt, als ob damit Kautsky die ganze Geschichte der Sozialdemo- kratie zu einer e.-ä.-Gefühlsepisode umwertet I Unser bisheriger Befund war also: die einen von Kautsky an- geführten Beweisstücke konnten als Ueberführung der von ihm auf die Anklagebank gesetzten, des Gefühlssozialismus peinlich be- schuldigten Redaktcure nicht gelten; die anderen bestanden in der Wiederholung ältester und nichtigster Grundsätze der marxistischen Sozialdemokratie. Wir werden nunmehr auch sehen müssen, daß weitere Beweisstücke nur dadurch möglich werden, daß Kautsky leider nicht ethisch-ästhetich, sondern allzu— ökonomisch zitiert. Hiiö der Partei. Die„Borwärts"-Frage. Der sechste Artikel der„Leipziger Volksztg." lautet: In den ersten Fahren nach dem Halleschen Parteitage suchte der„Vorwärts" den Aufgaben eines Zentralorgans in dem Sinne gerecht zu werden, worin er als solches gegründet worden war. So in dem Streite mit der faktiösen Opposition der„Jungen", so in dem Streite mit Vollmar über den Staatssozialismus. Mer es dauerte nicht lange, bis ihm die Dinge über den Kopf wuchsen. Da wir schlechterdings keine polizeilichen Neigungen und Talente haben und keine Register über die etwaigen Fehlgriffe anderer Parteiblätter führen, so wissen wir den Zeitpunkt, wo es andtrs wurde, nicht genau anzugeben, und auf Stunde und Tag oder auch nur auf Woche und Monat läßt er sich auch schwerlich feststellen. Genug, daß spätestens im Jahre 1895, also vor nun- mehr zehn Jahren, als mit der Agrardebatte die großen Aus- einandersetzungen in der Partei begannen, die seitdem nie wieder aufgehört haben, der„Vorwärts" jeden Anspruch auf und jeden Versuch zur politischen Führung der Partei mifgegeben hatte und nur noch das große Sammelbecken war. in dem alle möglichen An- sichten zusammenflössen und aus dem sich jeder nahm, was ihm be- hagte. Der„Vorwärts" sammelte, was an verschiedenen Meinungen in der Partei laut wurde, aber er tat von allen Parteiblättern am wenigsten dazu, die Lage zu klären. Begreiflich genug, daß dies gänzliche Versagen des Zentral- organs bittere Klagen und Proteste hervorrief. Man schob zunächst die Schuld auf die Redaktion, in mancher Beziehung vielleicht mit Recht, worauf wir noch zurückkommen, im Wesen der Sache jedoch mit Unrecht. Die geistige Entwickelung der Partei war viel zu be- wegt, viel zu mannigfaltig, viel zu reich, die Aufgaben, die an sie herantraten, waren viel zu groß und verwickelt geworden, als daß eine einzelne, noch so große Tageszeitung leitend über ihnen stehen konnte. Die Partei hatte ihre wissenschaftliche Literatur, sie hatte eine ganze Reihe von Tageszeitungen, die, wenn auch mit weniger reichen Mitteln ausgestattet, so doch dem„Vorlvärts" geistig voll- kommen ebenbürtig waren; aus den verschiedensten Quellen speiste sich das innere Leben der Partei und eben erst in dieser Mannig- faltigkeit spiegelte es sich vollständig Wider; was sollte oder wie konnte da noch ein Zentralorgan über den bewegten Wassern schweben? Erläutern wir die Sache an dem ältesten und dem neuesten Beispiele! Wenn man bedenkt, welche Fülle der Debatten, welche Masse wissenschaftlicher Literatur die Agrarfrage seit zehn Jahren erzeugt hat, so ist eS klar, daß der„Vorwärts" in dieser Frage nicht von vornherein als tonangebendes Zentralorgan sprechen konnte. Er konnte sich an den Debatten beteiligen, wie jedes andere Blatt, aber er konnte es nicht mit irgendwelchem autoritativen Anspruch. Seine Eigenschaft als Zentralorgan erwies sich nun als eine Fessel, die seinen Mund schloß. Oder nehmen wir die gegenwärtige De- batte über den Massenstreik! Das Buch der Genossin Roland-Holst ist für diese einzelne Frage ein wahres Muster, wie ein Zentral- organ die Diskussion vorbereiten müßte, indem es alles historische Material sammelte, in seinen inneren Zusammenhängen erläuterte, alle Einwände beleuchtete und die Frage gewissermaßen spruchreif machte. Allein die Schrift der Genossin Roland-Holst ist das Produkt einer langen und langwierigen Arbeit, die während vieler Monate konzentricrtesten Nachdenkens in der Studierstube geleistet worden ist, aber sich im Drange und in der Hast des täglichen Kampfes,' den daS'Zcntralorgan zu führen hat, nicht leisten läßt. Dazu kam, daß sich der Parteivorstand auch historisch gewandelt hatte. Hatte er früher einen entscheidenden Anteil an der geisttgen Entwickelung der Partei genommen, so jetzt nicht mehr, und je mehr sich die inneren Gegensätze der Partei entfalteten, die doch eine unumgängliche Bedingung ihres geistigen Fortschritts sind, um so größere Reserve legte er sich auf. DaS war nicht nur sein Recht, sondern auch seine Pflicht. Die einzelnen Mitglieder des Partei- Vorstandes können durch ihre sonstige Parteitätigkeit einen größeren oder geringeren Einfluß auf die geisttge Entwickelung der Partei ausüben und haben ihn ausgeübt, aber der Parteivorstand als solcher kann es nicht, ohne die vorhandenen Gegensätze in unerträglicher Weise zu verschärfen. Es ist unserem Parteivorstande nur zu danken. daß er niemals auch nur den leisesten Versuch gemacht hat, sich als eine Art Oberzensurbehörde aufzuspielen. Jedoch auf der anderen Seite darf man nicht übersehen, daß dadurch ein klaffender Wider- spruch entstand zwischen seinen Aufgaben und den Aufgaben deS Zentralorgans, das seinen Direktiven unterstand. Nicht als ob wir damit sagen wollten, daß der Parteivorstand das Ausscheiden des„Vorwärts" aus den prinzipiellen Meinungs- kämpfen der Partei je gewünscht oder auch nur begünstigt hätte. Im Gegenteil! Mitglieder des Parteivorstandes haben sich oft genug öffentlich in bitterster und schärfster Weise darüber ausgesprochen. Allein hier berühren wir einen der Punkte, deren richtige oder doch erschöpfende Würdigung nur aus einer genauen Kenntnis des Zeitungswesens zu gewinnen ist, die offiziöse— wir nehmen hier das Wort ohne jeden kränkenden Nebensinn— die offiziöse Abhängigkeit von einer offiziellen Körperschaft, die doch immer gewisse Rücksichten nehmen mutz, hat noch keinem Blatte gut getan, hat noch jedem Blatte sozusagen die Kehle zugeschnürt. Als wir diesen Punkt einmal vor einer längeren Reihe von Jahren im Gespräche mit einem Mitgliede des Parteivorstandes berührten, wurde uns mit einer ge- wissen Entrüstung erwidert:„Aber wo denken Sie hin? Niemand wäre so glücklich, wenn der„Vorwärts" ein scharfes Prinzipicnblatt wäre, wie wir. Es ist ja unser lebhaftester Wunsch, und wir legen ihm nicht einen Strohhalm in den Weg." Das ist heute zweifellos 'o richtig wie es damals war, aber in solchen Verhältnissen spielen tausend Imponderabilien mit; schon der Gedanke, mit einem falschen Urteil, mit einem unvorsichtigen Worte bis zu einem gewissen Grade gleich die oberste Parteibehörde festzulegen, wirkt gerade auf eine pflichtgetreue Redaktion lähmend. Alle die Gründe, die in Halle und 'onst für die völlige Unabhängigkeit der Parteipresse vom Partei» vorstand geltend gemacht worden sind, traten auch für den„Vor- wärts" in Kraft, sobald sich das frühere Verhältnis zwischen Partei« leitung und Zentralorgan überlebt hatte. Seitdem der„Vorwärts", spätestens bei dem Beginn der Agrardebatten vor zehn Jahren, sich selbst aus der Parteidiskussion ausschied, die zu leiten und zu regeln sein Beruf war, ist er im wesentlichen dabei geblieben, nur daß es. wie allemal auf einer chiefen Bahn, immer weiter abwärts ging. Waren die Uebersichten. sie er über die Meinungen anderer Partciblätttr gab. früher wenigstens so objektiv zusammengestellt, daß man ein wirkliches Bild bekam, so werden die Parteinachrichten des„Vorwärts" heute mit einer Illoyalität redigiert, von der wir zur Ehre der Partei-
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