Jr. 228.
22. Jahrgang.
Modugnos Freisprechung.
Perugia , den 23. September. ( Eig. Ber.) Nach den Tatsachen, die wir über den Stand des Schuldbeweises in diesem Prozeß berichtet haben, dürfte der Freispruch nicht überraschend kommen. Auch in Perugia , ja in ganz Italien hatte man ihn erwartet, aber gerade in den beiden letzten Verhandlungstagen schien sich die Schuldfrage Modugnos bedenklich zu senken. Die langen oratorischen Ergüsse der Advokaten waren zu Ende, der Angeklagte, der mit allen hohen Worten, die die Sprache kennt, gepriesen und beschimpft worden war, hatte auf das Wort verzichtet und sah nun die leßte Darlegung seines Falles der„ Unparteilichkeit" des Präsidenten anheimgegeben. Während dieses Resümees des Präsidenten haben viele am Freispruch gezweifelt. Denn hier verlangt die Prozedur Unmögliches: fie verlangt eine völlige Unparteilichkeit, die nun einmal nicht in der Macht des Menschen zu stehen scheint. Jedenfalls war der Präsident Tanzanelli während feiner zwei Tage dauernden Zusammenfassung des Prozesses nicht unparteiisch, sondern ließ deutlich durchblicken, daß er den Angeklagten für schuldig hielt. Warm und überzeugend kam durch feinen Mund die Auflage, trocken und matt die Verteidigung zu Worte. Wer den großen Einfluß dieser endgültigen Zusammenfassung auf die Geschworenen kennt, mußte annehmen, daß die Möglichkeit der Verurteilung bestand und mußte gleichzeitig tonstatieren, daß diese Bestimmung der italienischen Strafprozeßordnung, die die Synthese des Prozesses von einem Menschen machen läßt, der Partei ist, ob er will oder nicht, daß diese Bestimmung der Unparteilichkeit des Urteils und der Souveränität der Geschworenen Abbruch tut.
Während des Resümees hat auch der Angeklagte am Freispruch gezweifelt. Mit gequältem Ausdruck sah er bald auf den Präsidenten, Sald auf seine Verteidiger, als wolle er sagen: ja, fönnt Ihr denn jar nicht helfen. Modugno ist ein großer stattlicher Mann, nicht hübsch und nicht häßlich, mit abgehärmten, edigen Zügen, die etwas Schulmeisterliches haben, so daß man eher glaubt einen Gymnasiallehrer als einen Offizier vor sich zu haben. Er ist korrekt und beherrscht, aber erscheint unendlich müde und mutlos.
Freitag, 29. September 1905.
Ungewißheit über die Schuld sich nicht dazu entschlossen hatte, ein| Schandwerkzeuge wehrlos genug. Der japanische Gesandte aft Menschenleben zu vernichten. italienischen Hofe, Djama, der dem letzten Verhandlungstage beiAls die Karabinieri Modugno in den Käfig des Angeklagten wohnte, mag wohl eigentümliche Begriffe über europäische Gesittung zurückführten, um den Wahrspruch zu hören, ging er mit wankendem bekommen haben, als er einen wehrlosen Menschen in Eisen schließen Schritt; die bisherige fahle Blässe seines Gesichts war einer leichten und wie ein Raubtier einsperren fah. Es wäre wirklich an der Röte gewichen. Der Präsident teilte ihm das Ergebnis mit und Zeit, zu etwas humaneren Formen der Behandlung der Gefangenen Modugno versuchte zu sprechen, aber er konnte kein Wort sagen und überzugehen! schluckte nur, frampfhaft, wie einer, dem der Atem fehlt. Als dann die Verteidiger ihm die Hände in den Käfig reichten, wollte der Freigesprochene lächeln, aber die ungeheure Anstrengung, die es ihm foftete, um nicht in Tränen auszubrechen, verzerrte sein Geficht zum Grinsen. Man hatte den Eindruck, daß dieser Mann am Ende feiner Nervenkraft war und im Falle der Berurteilung physisch zusammengebrochen wäre, was der vorsorgliche Präsident vorher gesehen hatte, weshalb der Gefängnisarzt bereits im Saale wartete, um dem Verurteilten beizustehen.
Wollte man wenigstens die Lehre dieser großen Prozesse beachten, vielleicht ginge die Justiz dann etwas weniger barbarisch mit den armen Teufeln um, von deren vielfach tragischen Konflikten mit unserer Rechtspflege heut faum ein Echo in die Oeffentlichkeit dringt. Die Sensationsprozesse zeigen nämlich den Herren von oben, daß Angeklagte und Verbrecher auch Menschen sind. Das gilt für Arme und Reiche.
Aus der Frauenbewegung.
Nun, man hat seiner Hülfe nicht bedurft. Mit 6 gegen 6 Stimmen haben die Geschworenen die Schuldfrage verneint und wie immer, wenn die Wage im Gleichgewicht steht, tritt die Milde aufmerksam gemacht, daß die Verichterstattung der weib. Die sozialdemokratischen Frauen Berlins werden hiermit darauf des Gesezes an Stelle der toten Zahl. Modugno ist somit dem lichen Delegierten vom Parteitag am Montag, Leben zurückgegeben, nicht der Freiheit, denn er bleibt in militä- den 2. Oktober, abends 8 Uhr, in den Arminhallen, rischem Arrest wegen der Anklage über sein Verhalten in China . Kommandantenstr. 20, stattfindet. Jufolge des mit Wolfenbruch verUeberlassen wir den Mann, der uns als Mensch nicht inter- bundenen Gewitters war die zum 27. September einberufene Vereffiert und wohl auch keines Interesses wert ist, seinem Schicksal. ſammlung nur schwach besucht. Man beschloß deshalb die Vertagung. Nicht Modugno, aber der Prozeß Modugno verdient Beachtung. Wie Es wird erwartet, daß sich die Genossinnen zu der Versammlung alle unsere großen Sensationsprozesse weist er geradezu die am 2. Oktober recht zahlreich einsinden. Karikatur all der ohnehin so großen Schäden der italienischen Rechtspflege. Deshalb sind auch diese Sensationsprozesse nüßlich, wirklich nüßlich, weil sie laut und eindringlich predigen gegen den Unsinn und die Langsamkeit unserer Strafprozeßordnung, gegen die Geldmacht im Gerichtssaal und auch- indirekt gegen die nublose Grausamkeit des Strafvollzugs. Keine theoretische Darlegung fann je die Beweiskraft haben wie ein solcher Prozeß; und das Publikum, das aus Neugier kommt, halb grausam und halb sentimental, lernt, ohne zu wollen, Kritik üben an der Rechtspflege, die wohl von allen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft die stärkste Dosis Mittelalter enthält.
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Alle, die Modugno für schuldig halten, machen für den Freispruch nicht die Geschworenen, sondern ganz logischerweise die Schneckenhaftigkeit des Vorverfahrens verantwortlich. Wer will die Wahrhaftigkeit einer Aussage einschäßen, die sich auf 2½ Jahre zurück liegende Dinge bezieht, einer Aussage, die noch dazu 4 oder 5 mal wiederholt worden ist! Eine 2 Jahre dauernde Borunterfuchung ist geradezu dazu gemacht, um gewissenhafte Geschworene vor die qualvollsten Zweifel zu stellen.
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Als der Obmann der Geschworenen die rituellen Worte sprach: Bei meiner Ehre und bei meinem Gewissen, die Antwort der Geschworenen auf die Schuldfrage ist" nein", wich die beängstigende Stille einem plötzlichen, ganz unerwarteten Ausbruch des Jubels. Ich glaube, niemand, der diesen Jubelschrei gehört hat, mit dem das Kopf an Kopf stehende Publikum den Freispruch begrüßte, fann über die Bedeutung des Wahrspruchs im Zweifel sein. Das war nicht das Frohlocken des Schwurgerichtspöbels, der auf Frei- Auch tut es in hohem Maße einer rationellen Justiz Abbruch, sprechung gewettet hat und nun johlt, austobt, weil er Recht behielt. daß jeder Angeklagte so viel Verteidiger nehmen darf, wie er beDas war ein Schrei der Erlösung aus hundert Kehlen, das war, zahlen kann. Modugno hatte 8 Verteidiger, die 22 Tage mit ihren als wenn ein Alb von allen genommen worden, ein Jubel, der alles Reden ausgefüllt haben. Es waren, wie man in Italien Fürsten überflutete und alle mit fortriß. Nicht nur die Modugno Nahe- des Forums" nennt, Meister der Beredsamkeit, gewandte und ge= stehenden und die Damen der Tribüne weinten selbst vielen wiegte Advokaten. Wo bleibt hier das gleiche Recht für alle"? Karabinieri wurde die Augen feucht. Man mag über solche Aus- Viele Leute aus dem Volke, die Modugno für unschuldig halten, brüche der Menge denten, wie man will: hier war nichts Verab- fayen ganz offen: wenns aber ein armer Teufel gewesen wäre, redetes, nichts Demonstrierendes das war ein fast unwillkürlicher hätte er sich nicht frei gebracht." Das ist ein bitteres Wort und Schrei der Befreiung, weil plöblich die Angst wich, daß etwas Frucht der bittersten Erfahrung. Die viele Zeit, die die großen Grauenhaftes und Unwiderrufliches geschehen könne. Prozesse in Anspruch nehmen, wird durch das" Durchhetzen" der Es sei fern von uns, hinter dieser Stimmung der Menge aller kleinen, der Armen- Leute- Prozesse, wieder eingebracht. Schichten irgend eine mystische Wahrheit, eine vox populi, vox dei Was vo mStrafvollzug in die Prozeßverhandlungen hineinzu suchen. Für das Publikum wie für Geschworene und Richter ist dringt, ist auch ein guter Ansatz zur Kritik. Daß der Angeklagte die Schuldfrage nicht in einer plötzlichen Erleuchtung gelichtet und in einem wirklichen Käfig aus Eisenstangen gehalten wird, wie ein berneint worden. Das Problem, der quälende Zweifel ist geblieben, reißendes Tier, beleidigt die Menschenwürde. Auch das ganz sinnlose inußte bleiben, dazu sind die Indizien zu zahlreich und zu ernst. Anlegen der Handschellen ist eine unnüße Grausamkeit. Von vier Aber als eine Erlösung wurde es empfunden, daß man in dieser baumstarken Karabinieri gehütet, ist ein Verbrecher auch ohne die
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Der Bildungsverein für Frauen und Mädchen von Steglit und Umgegend hielt am 21. September bei Wahrendorf in Steglitz eine Versammlung ab, in der Herr Dr. Pintus einen Vortrag über Krebsleiden" hielt. Der Vortragende verstand es, durch eine populäre Darstellung die zahlreiche Zuhörerschaft aufs lebhafteste zu fesseln. Von einer Diskussion wurde Abstand genommen, nur machte die Vorsitzende noch bekannt, daß am 11. November im„ Birkenwäldchen" das Stiftungsfest des Vereins stattfindet. Erfreulich ist jetzt der gute Besuch der Versammlungen. Die Frau, als Mutter der Kinder, als Kameradin des Mannes, muß doch endlich einschen, daß ihr noch sehr vieles an ihrer Bildung fehlt. Die ihr gebotenen Vorträge lassen sie die heutige Zeit besser verstehen, lassen sie ihre Lage besser erkennen. Die Frau fommt einmal über die Schwelle ihrer vier Pfähle hinaus und darf sich als Mensch fühlen. Wie steht es aber mit den jungen Mädchen? Haben fie denn in der Schule schon so viel gelernt, daß sie feine Bildung mehr nötig haben? Oder müssen ihnen dann immer erst in späteren Jahren, vielleicht in der Ehe die Augen aufgehen? Hoffentlich ist unser Appell nicht vergebens und treten auch sie in Zukunft dem Verein bei. Die nächste Versammlung findet am 3. Oftober bei Grube in Friedenau statt.
Eingegangene Druckschriften. Gruber, Direktor des hygienischen Instituts der Universität München . Sygiene des Geschlechtslebens. Von Hofrat Prof. Dr. Mat Broschiert 1,20 M. Elegant gebunden 1,50 M. Bedeutung und Gefahren der Geschlechtskrankheiten. Von Univ. Dozent Dr. E. Riede in Leipzig . Preis 20 Pf. Ernst Heinrich Moriz, Berlagsbuchhandlung, Stuttgart . Beritas, Wie schützt sich der Kapitalist vor Verlusten an der Börse? ( Berlin , Deutsche Verlagsanstalt Patria.) Glaubensbekenntnis eines modernen Theologen.( Th. Schröter,
Bürich.)
Oesterreich vor dem Zusammenbruch.( Th. Schröter- Zürich .) 6. Martt, The weather forces of the planetary atmospheres. ( Nidau , E. Weber.)
Adrehbuch
für
seine Vororte.
1906.
Die Hauslisten für den Jahrgang 1906 sind nunmehr den Herren Hauseigentümern beziv. Verwaltern zur Weitergabe an die verehrlichen Haushaltungs- Vorstände zugegangen. Die letzteren werden hiermit gebeten, die erforderlichen Angaben recht genau und deutlich in die Hauslisten einzutragen und diese so schnell wie möglich weiterzugeben. Da die
Abholung der Hauslisten Dienstag, den 3. Oktober,
beginnt, so richte ich an diejenigen Haushaltungs- Vorstände in Berlin , denen die Hauslisten bisher noch nicht vorgelegt wurden, das Ersuchen, bei ihren Herren Hauseigentümern oder Verwaltern wegen der Liste Nachfrage zu halten und für die schleunigste Eintragung der erforderlichen Angaben Sorge zu tragen oder mir diese unverzüglich direkt zugehen zu lassen.
Im Hinblick darauf, daß die Bewohner der Reichshauptstadt das größte Interesse an einem vollkommenen und zuverlässigen Adreßbuche haben, darf ich wohl erwarten, daß alle Einwohner durch recht genaue Ausfüllung der Hauslisten und durch deren schleunige Weitergabe die mühevolle und kostspielige Zusammenstellung des Adreßbuchs unterstützen werden.
SW. 12, 8immerstraße 37-41.