Nr. 6.
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Redaktion: S. 68, Lindenstrasse 69.
Fernsprecher: Amt IV. Nr. 1983.
Wie wirkt das preußische
Dreiklaffenwahlrecht?
Ueber das Ergebnis der allgemeinen Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus im Jahre 1903 hat das statistische Landesamt eingehende Untersuchungen angestellt und veröffentlicht, aus denen man ein Bild von den Wirkungen des Dreiklassenwahlsystems, des elendesten und widersinnigsten aller Wahlsysteme, gewinnt.
Die Zahl der Urwähler, d. h. der über 24 Jahre alten berfügungsfähigen preußischen Staatsangehörigen männlichen Geschlechts macht rund ein Fünftel der Gesamteinwohnerzahl des Staates aus. Sie belief sich 1903 auf 7 101 963. Davon entfielen auf die erste Klasse 238 845 oder 3,36 Broz., auf die zweite Klasse 856 914 oder 12,07 Proz., auf die dritte 6 006 204 oder 84 57 Proz., so daß ein Wähler erster Selasse so viel Einfluß hat wie 25 Wähler dritter Klasse. Diese zweiter Klasse so viel wie 7 Wähler dritter Klasse. Diese Zahlen gelten natürlich nur im Durchschnitt für den ganzen Staat. Da die Drittelung in den einzelnen Wahlbezirken erfolgt, ergeben sich da stellenweise noch viel größere Unterschiede im Verhältnis der Wahlstimmen der drei Wählerklassen zu einander. Es kommt sehr häufig vor, daß ein einziger Urwähler die erste Slaffe für sich allein bildet, weil seine wirkliche oder auch nominelle Steuerleistung ein Drittel oder mehr von der Gesamtsteuersumme des Bezirkes ausmacht. Ja, auch die zweite Klasse wird noch häufig durch einen einzigen Urwähler gebildet. In kleineren Fabriforten kommt es deshalb vor, daß eine einzige Geschäftsfirma durch ihre Firmeninhaber und oberen Angestellten die beiden ersten Selaffen für sich monopolisiert. In den Gutsbezirken tut das der Gutsbesitzer mit seinen Angestellten so wie so durchweg. Nach amtlicher Feststellur gab es Wahlbezirke, in denen die beiden oberen Klassen durch je einen oder zwei Urwähler gebildet wurden; II. Staffe
I. Klaffe
"
1136 1770
70
79
"
Dienstag, den 9. Januar 1906.
Ist schon den Arbeitern beinahe bis zur Entrechtung das Wahlrecht durch das plutokratische Klassensystem berkürzt worden, so wirkt ein anderer Umstand noch weiter auf die Dezimierung ihrer an sich so wie so schon fümmerlichen Rechte hin. Das ist die Wahlkreiseinteilung, die aus dem Jahre 1860 datiert. Nach dem damaligen Bevölkerungsstand hatten die Wahlkreise eine annähernd gleiche Einwohnerzahl. Seitdem hat sich durch das Wachstum der großen Städte und der Industriebezirke die Bevölkerung er heblich verschoben, so daß jegt bei den Landtagswahlkreisen genau wie bei den Reichstagswahlkreisen in der Einwohnerzahl klaffende Unterschiede zutage treten, die auf eine abermalige Beeinträchtigung der Rechte der städtischen Wähler hinauslaufen. Wie diese Bevölkerungsverschiebung gewirft hat, mag an einigen Beispielen gezeigt werden. Dabei ist zu beachten, daß die Landtagswahlkreise meist auf die Wahl von zwei oder drei Abgeordneten zugeschnitten sind. Um einen richtigen Maßstab für den Vergleich zu gewinnen, sind deshalb in den folgenden Daten die Einwohnerzahlen und die Wählerzahlen der einzelnen Wahlkreise durch die Zahl ihrer Abgeordneten dividiert worden. Es entfielen demgemäß in den zehn größten Wahlkreisen auf je einen Abgeordneten: Einwohner Urwähler 374 475 89 796
344 253
84 323
323 647
67 696
304 223
62 810
264 259
56 659
210 702
47 078
207 951
54 015
196.681
46 009
188 020
41 204
186 265
43 381
Dagegen entfielen in den zehn kleinsten Wahlkreisen auf je einen Abgeordneten:
Einwohner Urwähler
1. Hohenzollern
33 390
6491
0
9
2. Norderdithmarschen..
37 515
8313
7619
115
"
131
39 698
7849
C
39 724
8654
˚
39 984
7605
•
41 021
9150
9
42 041
.
42 640
•
•
43 347
8366 9896 8663
1 Urwähler 2 Urwähler 1 Urwähler 2 Urwähler in den Städten. 478 Bezirke 634 Bezirke 9 Bezirke 16 Bezirke 1686 auf dem Lande. überhaupt. 2159 Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß in einigen dieser Abteilungen erster oder zweiter Klasse der alleinberechtigte Urwähler zwei Wahlmänner zu wählen hat, was bon der Größe des Wahlbezirkes abhängt, so daß ein solcher Urwählerproß dann schon in eine der niederen Klassen hinabsteigen muß, um sich da einen Wahlmannskollegen auszusuchen. Durchschnittlich kommt ein Wahlmann auf folgende Zahlen von Urwählern: in der II. Kl. in der I. KL. in der III. STI. 17,06
in den Städten. auf dem Lande überhaupt.
•
4,31
6,80 5,67
22,06
19,87
142,80
142,28
142,52
Selbst bei den Durchschnittszahlen für den ganzen Staat tritt also das ungeheuerliche Mißverhältnis zwischen den Stimmen der drei Klassen wieder grell zutage.
Expedition: S. 68, Lindenstrasse 69. Fernfprecher: Amt IV, 9r. 1984.
Jahre 1903 passierte das in 762 Abteilungen, und zwar in 618 Abteilungen erster Klaffe, in 87 Abteilungen zweiter Klasse und in 7 Abteilungen dritter Klasse. Selbst in Ber lin , wo die Wahlbeteiligung etwas höher war, konnte in 24 Abteilungen erster Klasse keine Wahlmännerwahl vorgenommen werden, weil kein Wähler erschienen war.
Die Wahlen von 1903 haben nun dadurch ein beson deres Gesicht gewonnen, daß dabei zum ersten Male eine Beteiligung der Sozialdemokratie in größerem Maßstabe stattgefunden hat. Da die Sozialdemokratie die politische Interessenvertretung des Proletariats iſt, refrutieren sich ihre Anhänger vorzugsweise aus den unbemittelten Volksschichten, die in der dritten Wählerklasse zusammengepfercht sind; nur ausnahmsweise erhält sie Zuwachs aus der bevorrechteten Wählerklasse und höchst selten natürlich kann sie in der ersten und zweiten Abteilung Wahlmannssize erobern. Zuungunsten unserer Partei wirkt also dieses perfide System mit aller Schärfe. Wir haben eine große Anzahl von Wählern aufgebracht, beherrschen in einzelnen Wahlkreisen die dritte Klasse vollständig, unsere Kandidaten fielen aber bei der Abgeordnetenwahl gegen die Koalition der bürgerlichen Parteien durch. Aus folgenden Zahlen erhellt deutlich, wie sehr das preußische Dreiklassenwahlsystem die Volksmeinig fälscht:
auf:
Urwählerstimmen brachten 1903 in ganz Preußen III. I. zusammen in% 221 019
I. I. II. I. .. 33629 69509
Freifinnige Vereinig.
5036 10761 25 982 60792 1665 3952
•
Freisimmige Volkspart. Zentrum
8593 21409 23327 54780
Sozialdemokraten
324157
19,39
32178
47975
2,87
169 446
256 220
15,33
16.785
1,00
43 243 178851
73245
4,38
251958
15,07
314 149
18,79
11118
782 12383 800984
( Die übrigen Parteigruppen find der Uebersichtlichkeit halber fortgelassen.)
Von der Gesamtzahl der in allen drei Klassen abgegebenen 1 671 613 Urwählerstimmen hatte also die Sozialdemokratie 18,79 Proz. erhalten. Entspräche die Verteilung der Abgeordneten auf die einzelnen Parteien der Gesamtzahl der von den Parteien aufgebrachten Wählerstimmen, so müßten von den 433 preußischen Abgeordneten 81 der Sozialdemokratie zugefallen sein. In Wirklichkeit hat fie feinen einzigen Sig erobert, weil die schwächeren bürgerlichen Parteien doch überall die größere Anzahl von Wahlmännern in der ersten und zweiten Klasse durchsetzten. An den Wahlen in Berlin fann man sehen, wie der Geldsack die Wagschale zu seinen Gunsten niederdrückt. Es erhielten Wählerstimmen; die Sozialdemokratie I. AI. II. I. III. st. 71 8895 847 28928 3045 50331 1047 29264 Insgesamt 222 5010 116918 Dagegen entfielen Wah Imänner auf
Aus einem Vergleich dieser Tabellen kann man sich leicht eine Vorstellung von der Wirkung der veralteten Wahlkreiseinteilung machen. So hat ein Wähler der Land1chaft Hohenzollern einen 14mal so starten Einfluß auf die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses als ein Wähler von Nord- Berlin 1( Besten) berlin . Der Regierung und den herrschenden Parteien Berlin 2( Süden) paßt diese Extrabegünstigung des flachen Landes gegenüber Berlin 3( Norden) 162 den großen Städten so trefflich in den Kram ihrer Inter - Berlin 4( Often) essenpolitik hinein, daß fie eben so wenig an eine gerechtere Neueinteilung der Wahlkreise denken wir an die Aufhebung des Dreiflassensystems überhaupt.
Den bisherigen Betrachtungen wurde die Wahlberech tigung zugrunde gelegt. Wie steht es nun aber mit der Wahlbeteiligung, insbesondere mit dem Anteil der politischen Parteien an den Wahlergeb= nissen?
Das preußische Volk hat von Anfang an die Schmach der Aufoktrovierung des Dreiflaffenwahlsystems mit einer außerordentlich schwachen Wahlbeteiligung quittiert. Bei den Reichstagswahlen sind etwa der Wähler durch schnittlich an die Urne gegangen. Die Schwankungen bei den einzelnen Wahlen sind gering. So stieg die Beteiligungsziffer von 68,43 Broz. im Jahre 1898 auf 75,49 Proz. im Jahre 1903 infolge der Bollkämpfe. 1887 bei den Septennatswahlen war die Beteiligung noch stärker; da belief sie sich auf 77,35 Proz.
Die plutokratische Klasseneinteilung wirkt aber obendrein in den einzelnen Wahlbezirken ganz verschiedenartig, je nach der sozialen Struktur der Einwohnerschaft. Besonders in großen Städten, wo gewisse Stadtteile als Wohnungsquartiere von den wohlhabenden Klassen bevorzugt werden, fann es vorkommen, daß Leute mit hohem Einkommen in die Dritte Klasse hinunterrutschen, während in anderen Stadtgegenden schon Proletarier mit einem wenig das Durchschnittsniveau gewöhnlicher Lohnarbeiter übersteigenden Einkommen in der zweiten oder gar ersten Klasse wählen. Bekannt ist, daß in der Wilhelmstraße in Berlin verschiedene Minister in der dritten Wählerklasse wählen, während die oberen beiden Klassen von Millionären monopolifiert werden. In einem Wahlbezirk in Altona wählen die Bordellwirte in der ersten, der Polizeipräsident in der dritten Selaffe. Umgekehrt ist es der Sozialdemokratie möglich gewesen, in Berlin und anderen großen Städten sogar eine Anzahl von Wahlmännern erster Klasse sich zu sichern, weil in Dem gegenüber ist die Beteiligung bei den einzelnen Wahlbezirken der Arbeiterviertel auch die Mehr- preußischen Landtagswahlen von jeher auffällig zahl der Urwähler erster Klasse aus Arbeitern bestand. Als schwach gewesen. Am höchsten war sie in der Konfliktszeit Beispiel mag dienen, daß die Grenze zwischen der der 60er Jahre, als die preußische Bourgeoisie einen schwächzweiten und ersten Klasse bei einer jährlichen lichen Versuch machte, gegen den Stachel des Militarismus Steuerleistung von 5 bis 30 m. in 481 ländlichen Bezirfen zu löfen. 1862 erschienen 34,3 Proz. der Wähler am Wahlund 25 städtischen Urwahlbezirken, während andererseits in tisch, und zwar von der ersten Klasse 61 Proz., von der 65 städtischen und 1 ländlichen Urwahlbezirk dritter zweiten Klasse 48 Proz, von der dritten Klasse 30,5 Proz. Klasse die obere Grenze über 3000 m. jährliche Die Gesamtbeteiligung fant dann nach der Kapitulation der Steuer hinausging. Solche Beispiele auffälliger Ungleich- oppofitionellen Bourgeoisie vor dem Militarismus im Jahre heit sind zwar fennzeichnend für die Absurdität des ganzen Verfahrens, sie zeigen aber auch um so deutlicher, was es mit der Behauptung auf sich hat, das preußische System bringe den berechtigten Einfluß von Bildung und Besitz zur Geltung. Tatsächlich ist es nur das Geldprozentum, das darin seine Orgien feiert. Die Bildungsaneignung ist zwar in der kapitalistischen Ordnung dem Besitzenden weit eher zugänglich als dem Nichtbesitzenden. Die tatsächliche Bildung ist aber feineswegs eine Begleiterscheinung des Befites, und die politische Bildung, die bei staatlichen Angelegenheiten in erster Reihe in Betracht kommt, ist unter dem klassenbewußten Proletariat heuzutage in Deutschland als Frucht jahrzehntelanger Klaffentämpfe weit höher entwickelt, als unter irgend welchen Schichten der herrschenden Klaffe,..
2
28
30
alle übrigen Parteien I. AI. II. RI. III. I. 811 2374 11704 925 2733 6515 1732 5948 12771
1050 3576 6090 2518 14631 37080
die Sozialdemokraten die übrigen Parteien
127 487
•
1100 530
803
910
1506
936
Am auffälligsten tritt das Resultat in Berlin 3, unserem günstigsten Wahlkreise, hervor. Wir brachten da insgesamt in allen drei Abteilungen etwa 2% mal so viel Stimmen auf als die Gegner und blieben bei der Abgeordnetenwahl dennoch mit 1100 Wahlmannsstimmen um 406 Stimmen hinter den bürgerlichen Parteien zurüd.
In einigen anderen Wahlkreisen, in denen die Sozialdemokratie ansehnliche Stimmenzahlen erhielt, ergaben sich folgende Resultate:
Es erhielten
In
327
ahImänner: die die Sozialdemokratie anderen Parteien 1038
667
1845
116
575
139
578
226
1300
145
647
206
359
96
245
141
199
136
827
163
8165
Frankfurt a. M.
84
549
88
831
127
2336
•
1867 auf 17,6 Pro3. Sie stieg nur wenig bei den nächsten Wahlen: 1893 auf 18,40 roz., 1898 auf 18,3 Proz. Erst die Beteiligung der Sozialdemokratie an den Wahlen von Essen, Duisburg 2c. 1903 brachte eine Beteiligungsziffer von 23,62 Broz. zuWie sehr das Dreiflasseruvuhlsystem zuungunsten des ftande, und zwar in der ersten Klasse 49,24 Proz., in der zweiten Klasse 34,27 Proz. und in der dritten Klaffe 21,18 Klassenbewußten Proletariats auf das Endergebnis der AbBrozent. Das erreicht immer noch nicht auch nur annähernd geordnetenwahlen einwirkt, erhellt am deutlichsten aus einem des Wahlausfalles bei den die Beteiligung bei den Reichstagswahlen. Naturgemäß ist ergleich die Beteiligung in der dritten Klasse, der Klasse der Ent- preußischen Reichstagswahlen 1903 und den rechteten, immer erheblich schwächer gewesen als in den bevor- furz nachher vorgenommenen Landtagswahlen. Es ist Trotzdem ist in einzelnen Bezirks- in diesem Vergleich in Betracht zu ziehen, daß auf rechteten Klassen. abteilungen gerade der ersten Klasse wegen Nichtbe- Preußen 236 Reichstagsabgeordnete entfallen, teiligung der Wähler überhaupt keine Wahl während es 433 Landtagsabgeordnete hat. von Wahlmännern zustande gekommen. Im lerzielten also 1903 in Preußen die Parteien Abgeordnete: