Nr. 48. 23. Jahrgang. 2. vtüip i>cs Jonoirto" Kerlim MlisdlM Dienstag, 27. Febrnar 1906. Heimarbeit-Ausstellung. Porzellanindustrie. In der Hauptsache ist die Herstellung von Porzellanwaren aus technischen Gründen an die Fabrik gebunden. Nur einzelne Ver- Achtungen sind in die Heimarbeit übergegangen. Die Heimarbeit ist in der Porzellanindustrie bei weitem nicht so stark verbreitet wie in manchen anderen Industriezweigen. Wo sie aber anzutreffen ist, da zeigen sich dieselben Miststände und das gleiche Elend, wie wir es als eine kennzeichnende Begleiterscheinung jeder Heimarbeit finden. In den thüringischen Bezirken der Porzellan- iudustrie werden kleinere Gegenstände, wie Spielzeug, Nippessachen und dergleichen, von Heimarbeitern— oft sind es Frauen, denen Kinder behüflich sind— geformt, gegossen und verputzt. Die Arbeiter holen Formen und Porzellanniasse aus der Fabrik und bringen die fertig geformten Sachen zurück. Da diese im rohen, ungebrannten Zustande sehr leicht zerbrechen, so gibt es beim Trausport natürlich viel Schaden, den die Arbeiter zu tragen haben. Die Bezahlung dieser Arbeiten ist so gering, dast ein Verdienst von 20—24 Pf. pro Stunde zu den Seltenheiten gehört. Meistens sind die Stundenlöhne von den vom Porzellanarbeiter-Verband ausgestellten Sachen auf 13— 18 Pfennigen angegeben.— Auster den hier angeführten Arbeiten wird hauptsächlich das Bemalen der fertigen Porzellanwaren durch Heimarbeiter verrichtet. Nicht nur geringe Ware, sondern selbst Porzellanmalereien der schönsten Ausführung gehen aus den Händen der Heimarbeiter hervor. Da hängt in der Ausstellung ein Teller, der die Blicke aller Besucher auf sich lenkt. Die innere Fläche wird durch ein weibliches Bildnis bedeckt. Es ist eine Kunstleistung, die sich sehen lassen kann und ist doch dem Maler nur mit 13 M. pro Stück bezahlt worden. Wie lange der Künstler arbeiten »ruhte, um die 13 M. zu verdienen, ist leider nicht angegeben. Den Rand desselben Tellers hat ein anderer Maler— in Dresden — sehr kunstvoll mit Goldornamenten auf rotem Grrrnde dekoriert. Dieser Maler, eine t ü ch t i g e K r a f t, der die von ihm ausgeführten geschmackvollen Muster selber entwirft, hat an der vorliegenden Arbeit in der S t u n d e 8 3 P f. verdient. Das war aber eine ausnahmsweise gut bezahlte Arbeit. Sonst pflegt derselbe Maler nur'SO— 65 Pf. pro Stunde zu verdienen, und das bei kun st gewerbliche»Lei st ungen erstenRanges. — Bei minder guten Malereien fallen denn auch die Löhne ganz be- deutend. Andere der ausgestellten Arbeiten, die immer noch als recht gute Leistungen gelten können, brachten nur noch 50 Pf. Stundenlohn. Die Maler, welche gewöhn- liche Handwerksleistungen liefern, die zwar kein künstlerisches Talent, aber doch erhebliche Gewandtheit und Geschicklichkeit ver- raten, stehen in ihrem Verdienst nicht besser da, wie die Arbeiter in den elendesten Zweigen der Hausindustrie. Ein Wochenverdienst von 7—15 M. wird in verschiedenen Orten Thüringens beim Bemalen von Pfeifenköpfen verdient. Ein Wochenverdienst von 18 M. gehört zu den Seltenheiten. In Gotha , wo allerlei NippeSsachei! von Heimarbeitern bemalt werden, gilt ein Stundenverdienst von 33 Pf. als etwas ganz ungewöhnliches. Ein Artikel, der diese» Verdienst brachte, wurde als besondere Vergünstigung nur an Angehörige der Fabrikbeamten ausgegeben. Das erregte den Unwillen der berufs- rnähigen Porzellanmaler, die an ähnlichen Arbeiten nur 21. 15, ja S Pf. pro Stund» verdienen und nicht einmal dauernd Beschäftigung haben. In andere Zweig« der keramischen Industrie führt uns die Aus- stellung des christlichen Verbandes keramischer Ar- beiter. Da sehen wir Tonpfeifen, im Westerwald an- gefertigt, bei deren Herstellung ein Stundenlohn von 20—22 Pf. verdient wird, glasierte Ton waren, Spielsachen und andere Kleinigkeiten, die Stundenlöhne von 27—36 Pf. bringen, Schiefer- tafeln, die in Neuhalben sOberfranken) angefertigt sind und den Arbeitern Stundenlöhne von 10— 14'/-! Pf. bringen.— In dieser Abteilung liegt auch eine Sammlung von Glasperlen aus. Anscheinend sind sie bestimmt, in Gestalt von Perlenschnüren ländlichen Schönen als Sonntagsschmuck zu dienen. Sie könnten aber auch zu Rosenkränzen, wie sie die katholischen Beter ge- brauchen, verwendet werden. Die Löhne, welche bei der An- fertigung dieser Perlen verdient werden, gehören zu den elendesten der ganzen Ausstellung. Betragen sie doch nicht niehr als 1—5 Pf. pro Stunde. Die Heimat dieser Perleninditstrie ist U n t e r l i n d in der Oberpfalz . Hüte und Mützen. Der Zentralverein der Hutmacher stellt Erzeugnisse der Dresdener Strohhutfabrikation aus. Das Zusammen» nähen des Strohgeflechts und das Garnieren der fertige» Hüte ist Heimarbeit, womit Stundenlöhne von 12— 18 Pf. ver- dient werden.— Die Berliner Hutindustrie ist durch ein Exemplar vertreten, das wohl hauptsächlich wegen der Eigenart seines Ursprunges ausgestellt ist. Ein Lumpenknäuel, das man nur mit Mühe als die Ruine eines ehemaligen Zpliuderhutes erkennt, niacht verschiedene Stadien der Bearbeitung durch und erscheint schließlich wieder als funkelnagelneue Angströhre. Es handelt sich bei dieser Fabrikation nicht um einen Einzelfall, sondern, tvie uns versichert wird, um einen besonderen Jnduftrieziveig, der die Hutfragmente, tuelche mit Lumpensendungen aus England herüberkommen, durch Heimarbeiter zu neuen Zylinderhüten umwandeln läßt, die in Waren- Häusern zu billigen Preisen verkaust werden. Verschiedene Arten von Mützen stellt der Kürschnerverband aus- Die Stellung des Mannes, dessen Haupt zu bedecken die Mütze bestimmt ist, scheint ausschlaggebend zu sein für die Qualität der Arbeit und damit auch für die Höhe des Lohnes. An dem Barett eines Landgerichrsdirektors verdient der Arbeiter pro Stunde 42'/z Pf. Dienst, nützen für Polizei-, Eisenbahn- und Postbeamte bringen Stundenlöhne von 35. 27Va, 25 Pf., eine Mütze für Berliner Omnibus- angestellte wird mit einein Stundenlohn von 20 Pf. bezahlt. Die Osfiziersmütze bringt 42>/z Pf., die Exlramütze für de» Soldaten aber nur 25 Pf. pro Stunde. Eine Anzahl verschiedener Sportmützen ergeben Stundenlöhne von 10—17 Pf. Künstliche Blume ». Wer bei einem Besuch der sächsischen Schweiz von der Haupt- tour der Touristen abweicht und kurz vor Schandau sich vom Elbtal in das Sebuitztal wendet, der gelangt bald in das freundlich gelegene Städtchen S e b n i tz. Hier sieht man fast hinter jedem Fenster der kleinen Häuser Frauen und Mädchen, oft auch Kinder, über der Arbeit gebeugt. Emsig regen sich die geschickten Hände der fleißigen Arbeiterinnen, als wollten sie dem Frühling, der draußen Gärten und Fluren mit farbenprächtigen Blüten geschnnickt hat, Konkurrenz bereiten, denn auch sie, die Ärbeiterinnen, fertigen Blumen und Blätter an, die in den besseren Ausführungen den Kindern Floras täuschend ähnlich sehen. Sebnitz und die ganze Gegend von dort bis Neustadt ist ein Hauptplatz für die Herstellung von künst- lichen Blumen und Blättern, die aus den Händen der Heim- ärbeiterinnen in die Magazine der Grossisten, von da in alle Welt wanden» und schließlich als Hut-»md Toilettenschmuck der Damen Verwendung finden. Fragen wir nach den Löhnen, welche bei der Herstellung der künstlichen Blumen verdient werden, so gibt die Antwort ein ebenso trübes Bild, wie wir eS in allen Zweigen der Heimarbeit sehen. Da finden wir in der vom Verband der Blumen- und Blätterarbeiterinnen arrangierten Ausstellung, daß in Sebnitz ein Stundenlohn von 12 Pf. schon als ein verhältnismäßig hoher angesehen werden muß. Oft sagen uns die Zettel an den ausgestellten Gegenständen, daß die Löhne bis 6, ja 4 Pf. p r o I St un de hinabgehen. Aber selbst das ist noch nicht die niedrigste ii Lohngrenze. Nicht selten arbeitet eine Frau nnt einen, oder mehreren " Kindern zusammen. Häufig sind die Angaben, daß eine Frau und ein Kind zusammen 12, 8'/z, T'/j, 62/3, 6 und in einem Falle sogar nur 2'/3Pf. pro Stunde verdienen. Andere Angaben sagen, daß eine Frau mit zwei Kindern zusammen nur 10 Pf. und eine mit drei Kindern von 10—14 Jahren zusammen- arbeitende Frau in der Stunde n u r 15 Pf. verdient. Eine andere Frau mit drei Kindern bringt es sogar mir auf 10 Pf. pro Stunde. Nicht besser sieht es in anderen Hauptorten der Blumenindustrie aus. An den ausgestellten Dresdener Erzeugnissen sind Stunden- löhne von 5—10 Pf. verzeichnet. In Berlin scheint der Verdienst ein wenig höher zu sein. Wir finden an den aus Berlin stammen- den Sachen Stundenlöhne von 14—20 Pf., vereinzelt auch 25—30 Pf. verzeichnet. Vielleicht handelt es sich hier um besonders qualifizierte Arbeiten. Daß die Verhältnisse in Berlin im allgemeinen nicht günstiger sind als anderswo, geht schon daraus hervor, daß sich in der Berliner Abteilung ein Myrtenkranz befindet, welcher der Arbeiterin nicht mehr als einen Stundenverdien st von 7 Pf. brachte. AuS Berlin sind auch Vögel und bunte Federn ausgestellt, die zur Garnierung von Damenhüten dienen und Stundenlöhne von 12—15, selten 20 Pf. einbringen.— Also Hungerlöhne überall. Sowohl in Berlin wie in Dresden , Neustadt, Sebnitz und wo sonst noch der prächtige Blumenschmuck für die Damenwelt angefertigt wird. Kartonnagen, Papierwaren. Mehr und mehr ist es in letzter Zeit Brauch geworden, Waren aller Art in ansprechender, schön aussehender Verpackung, die außer- dem auch noch der Reklame dient, zum Verkauf zu bringen. Die Kartonnagenindustrie, welche derartige Emballagen herstellt, hat dadurch einen großen Aufschwung erfahren. Wenn auch die in Fabriken betriebene Maschinenarbeit in der Kartonnagenindustrie die größte Rolle spielt, so ist doch daneben auch die Heimarbeit in diesem Industriezweige weit verbreitet, besonders im sächsischen Erzgebirge und in Baden. Aber auch an anderen Orten ist die Heimarbeit m der Kartonnagenindustrie anzutreffen. So finden wir in der vom Deutschen Buchbinderverband arrangierten Ausstellung eine Samm- lung hübscher Zigarettenschachteln, die in Dresden angefertigt sind und Stundenlöhne von 16— 20 Pf. einbringen. Dieser Verdienst erscheint aber noch günstig im Vergleich mit dem, was die Heimarbeiter in Baden erzielen. Aus Lahr ist eine Kollektion von runden und ovalen Schachteln da, wie sie in den Apotheken zum Verpacken von Pillen und Pulvern benutzt werden. An diesen Gegenständen ist der Verdienst ein äußerst erbärmlicher. Stundenlöhne von 10—12 Pf. sind Ausnahmen. In den meisten Fällen wird nicht mehr als 9, 8, 6, 5» ja 3>/z Pf. pro Stunde verdient. Diese Art Kartonnagen werden nur von Frauen hergestellt, welche eigene und fremde Kinber zur Hülfe leistung heranziehen. Die Ausbeutung fremder Kinder ist durch das Kinderschutzgesetz und die infolgedessen geübte Kontrolle erheblich eingeschränkt worden. Vor dem wurden schulpflichtige Kinder an Schultagen bis zu 8 Stunden und in der Ferienzeit bis zu 12 Stunde» täglich beschäftigt für einen Monatslohn von 2—4 M.— Man vergesse nicht, daß es sich hier um Schachteln für Pillen und Pulver handelt, die in der Heimarbeit unter den elendesten Verhältnissen hergestellt werden. Nicht selten mag ein solcher Karton neben den heilkräftigen Pillen, die der Apotheker hineingetan hat. Krankheitskeime bergen, die sich in der Stube der badischen Heimarbeiterin in das Schächtelchen hineingeschmuggelt haben. Brillenfutterale werden ebenfalls als Heimarbeiten an- gefertigt. Aus Rathenow sind solche ausgestellt, welche Stunden- löhne von 18—27 Pf. bringen. Etuis für Ringe, Uhren, Zigarrenspitzen usw. sind Erzeugnisse der Heimarbeit in Eisenberg (Thüringen ). An den ausgestellten Sachen dieser Art sind Stundenlöhne von 14—19 Pf. verzeichnet. In das Fach der Buchbinderei gehören zwei Artikel, die bei vielen AuSstellungsbestichern besonderes Interesse erwecken. Es ist eine Papierserviette mit der Firma„Aschingers Bierquelte". Das Geschäft, welches diese Servietten für Aschinger fabriziert, läßt dieselben von Heimarbeiterinnen falzen, zählen und zusammenbinden. Dafür wird ein Arbeitslohn von 35 Pf. für 1000 Stück gezahlt, was einen Stundenlohn von 1 7>/z Pfennig ergibt, während der Tarif, den die Buchbin der-Organisation mit den Arbeitgebern vereinbart hat, für diese Arbeit 65 Pf. für 1000 Stück festsetzt. Dasselbe gilt für einen ausgestellten Reklamezettel der Hufna-gelfabrik von Möller».Schreiber. Auch für diese Arbeit(Falzen usw.) erhält die Heimarbeiterin nur die Hälfte des Lohnes, den der Buchbindertarif Vorsicht, und verdient dabei in der Stunde 16 Pf. Papierwaren der verschiedensten Art, als: Gratulations- karten, Reklaniebildcr. Kottillonartikel, Atrappen und dergleichen werden von Heimarbeitern fertiggestellt. Eine ganze Anzahl solcher Gegenstände sahen wir in der Ausstellung. Dinge, die bestimmt sind, beim fröhlichen Fest zur Erheiterung der Gesellschaft beizutragen. Auch an diesen der Lust und dem Frohsinn dienenden Sachen haftet das Elend' der Heimarbeiterinnen, die bei der Her- stellung dieser bunten Dinge Stundenlöhne von 10, 14, höchstens 18—20 Pf. verdienten. In einem anderen Räume der Slusstellung hat der christ- liche Gewerkverein der Heimarbeiterinnen gleich- falls einige Produkte der Papienndustrie ausgestellt, die zu den schlechtest entlohnten Arbeiten der Hausindustrie gehören. Ein er» beblicher Teil dieser Dinge stammt aus Halle. Da sind unter andern Scherzartikel, welche Tiere darstellen, deren auszievarer Körper von gefaltetem Papier gebildet ist. An diesen Sachen werden Stundenlöhne von 3—10 P f., höchstens 17 Pf. verdient. Ketten aus gekräuseltem Papier bringen nur 3 Pf. Stuudenlohu, Papierblumen, welche nachher in die bekannten Wachsblumen um- gewandelt werden, erzielten 11'/« Pf. Stundenlohn, und beim Düten- kleben werden 9, 10, höchstens 15 Pf. pro Stunde verdient. Eine sehr schlecht bezahlte Arbeit ist die Anfertigung von„Haussegen". DaS sind fromme Sprüche, die mit Wolle und Goldfäden auf Papier - kanevas gestickt werden. Eine mühsame, die Augen anstrengende Arbeit, bei der an zwei ausgestellten Exemplaren pro Stunde 12 P f., an einem dritten sogar nur 7% Pf. pro Stunde ver- dient iverden. „Lerne leiden, ohne zu klagen" lesen wir auf einem der„HauS- fegen". Wir überschauen noch einmal die Fülle des Elends, die hier sechs Wochen lang ausgestellt war. Die Zehntausende, die Hundert- tausende von Arbeitern und Arbeiterinnen der Hausindustrie, sie haben gelitten, sie haben das bitterste Elend getragenseit Generationen, sie leiden heute noch unter dem entsetzlichsten Druck profitwütiger Kapitalisten. Sie klagten nicht, sie trugen ihr jammervolles Dasein »reist ohne Murren, und überließen sich willig der schamlosesten kapitalistischen Ausbeutung. Wird es jetzt vielleicht besser werden? Wird die Ausstellung des Elends Anlaß geben, den von unserer Seite längst geforderten gesetzlichen Schutz den Heimarbeitern zuteil werde» zu lassen? In dieser Zeit, wo das Wort gefallen ist: Die Kompottschüssel der Arbeiter ist gefüllt, darf man keine großen Hoffnungen auf die Gesetzgebung setzen. Doch, wie sich auch die Regierung und die herrschenden Klassen zur Frage des Hein, arbeiter- schützes stellen mögen: die Hauptsache ist, daß die klassenbewußte Arbeiterschaft Aufklärung in die dunklen Winkel der Heimarbeit trägt, damit auch diese Aermsten der Proletarier zum Selbstbewußtsein erweckt werden, daß sie nicht mehr leiden, ohne zu klagen, nicht mehr schliften, ohne zu murren, sondern sich zusammenschließen mit ihren Leidensgenossen und dem Unternehmer ihre Forderungen stellen. Es ist gewiß eine schwere Aufgabe, dem Gedanken der Organisation in den Kreisen der Heimarbeiter Geltung zu ver- schaffen. Aber es sind doch schon recht erfteuliche Anfänge in dieser Hinsicht gemacht. Daß es auf dem einmal betretenen Wege weiter geht, dafür wird die organisierte klassenbewußte Arbeiterschaft sorgen. Ein Beitrag zur Eingemeindungsfrage Ein recht trübes Bild von der wirtschaftlichen Entwickelung Lichtenbergs entwirft der Gemeindevorstand in einer Vorlage betreffend Annahme der Städteordnung und der Ver- einigung mit Berlin . Und die Ursache, welche die Gemeinde auf den Weg der Schuldenwirtschaft drängt, ihr die Aussicht auf finanziellen Zusammenbruch eröffnet, liegt außerhalb der Einflußsphäre der Vertvaltung. Die Ursache bleibt dauernd ruinös wirksam, wenn nicht die verlangte Eingemeindung vollzogen wird. Die Gemeinde stellt damit kein un- berechtigtes Verlangen, sie verlangt nicht schmarotzender Kost- gänger von Berlii, zu werden, ihre Forderung ist die logische Konsequenz einer Entwickelung, die keiner Gemeinde das Recht gibt, besondere Verdienste zii reklamieren, ebensowcmg wie inan einzelne Gemeinden dafür verantwortlich machen kann. Der allgemeine„Zug nach dem Westen" ist es, der in den Budgets der nördlichen und östlichen Gemeinden böse Störungen verursacht. Es sind nämlich keine Sachsen- gänger, die nach dem Westen ziehen; fast aus- schließlich sind es Leute, die sich des Besitzes An- nehmlichkeit erfreuen. den industriellen Bezirken den Rücken kehren, um in den Villenorten die Tugend besseren Genictzens zu üben. Wie sich die Wirtschaftslage Lichtenbergs gestaltete, dafür einige Zahlen. Die steuerliche Belastung pro Kopf der Bevölkerung stieg von 1895 bis 1903 für Gemeindeverwaltung von 1,7 M. aus 3,9 M., Polizei- Verwaltung von 0,4 M. auf 0,8 M., Schulverwaltung von 3,7 M. auf 7,3 M., Armenverwaltung von 1.5 M. auf 2 M., öffentliche Straßen usw. von 0,8 auf 3,2 M. Es mag hierbei bemerkt werden, daß die Gehälter der Beamten im allgemeinen als zu niedrig bezeichnet werden müssen, besonders die Bezüge der unteren Beamten bedürfen dringend der Aufbesserung. Bei der Gemeindeverwaltung ent- fällt im Durchschnitt auf je einen mittleren Beamten ein Ge- halt von 2108 M., auf je einen Unterbeamten 1656 M., auf nicht dem Ortsstatut unterstehende Bureaubcamte usw. 1220 M. Die Gehälter sind gewiß nicht zu reichlich bemessen, dagegen erscheint die Anzahl der Vcrwaltungsbeamten zu hoch. Außer Polizeibeamten, technischem Personal usw., also lediglich im inneren Verwaltungsdienst, sind 60 Beamte beschäftigt, das macht auf je 800 Einwohner einen Beamten. Die Steigerung der Schul- lasten ist in der Hauptsache auf den„reichen Himmelssegen", dessen sich die heimischen und zuziehenden Prolctarierfamilien erfreuen, zurückzuführen. Den Reichtum straft der Himmel meist durch beschränkte Kinderzahl. Nicht durch ordentliche Einnahmen konnten die erforderlichen Mittel aufgebracht werden. Die Schulen sind auf„Pump gebaut". Die Summe der Zinsen, die für die zu Schulzwecken aufgenommenen An- leihen entrichtet werden müssen, beläuft sich pro Kopf der Bevölkerung auf 1,1 Mark! Dabei fehlt es noch an Klassenräumen: 26 fliegende Klassen mußten eingerichtet werden. Ganz außerordentlich erhöhten sich die Straßenbaukosten. Auch unser Pflaster steht auf Hypotheken. Die Verzinsung der Anleihen für Straßenausbau beanspruchten 1895 pro Kopf 0,8 M., 1903 aber schon 3,2 M. Die Schuldnachweisungen bringen das nette Sümmchen von 9 486 500 M. zusammen. Der Tilgungs- und Zinsendienst beansprucht 525 736,96 M. Und auf diesem Wege zum Bankrott marschiert die Gemeinde lustig weiter.— Das wird ja ein netter„Zukunftsstaat". Wie der Gemeindevorstand bemerkt, hat man, um noch stärkerem Abzug vorzubeugen, die direkten Steuern durch sozusagen künstliche Frisuren möglichst niedrig gehalten, aber dieser Schrecken ohne Ende mutz doch schließlich ein Ende mit Schrecken nehmen. Wie die„Völkerwanderung" steuerlich in den einzelnen Gemeinden wirkt, beleuchtet eine tabellarische, der Vorlage angehängte Zusammenstellung. Hiernach ist der Ertrag der Umsatzsteuer, auf den Kopf der Bevölkerung berechnet, in den westlichen Vororten zirka 3—5 M., in den östlichen zirka 1,2—2,5 M.(Lichtenberg zirka 1,7 M.). Von dem staatlichen Veranlagungsfoll der Grund- und Gebäudesteuer entfallen in Berlin und im Westen auf den Kopf der Bevölkerung zirka 5—7 M., im Osten dagegen nur zirka 2—3 M.(Lichtenberg zirka 2,1 M.) In sämtlichen Vororten erfolgt die Besteuerung des Grundbesitzes in der Form der Grundwertsteuer. Der dieser Steuer zu» gründe liegende Wert beläuft sich auf den Kopf der Be- v öl kennig in den westlichen Nachbargemeinden Berlins auf zirka 4000 bis 8000 M., in den östlichen bloß auf zirka 1500 bis 3000 M.(Lichtenberg 2280 M.). Die Gemeindeeinkommen- steuer zu 100 Proz. bringt in Berlin und in den westlichen Vororten pro Kopf der Bevölkerung zirka 11 bis 20 M., in den östlichen jedoch nur zirka 3 bis 8 M.(in Lichtenberg zirka 4,8 M.). Hierbei ist noch zu berücksichtigen, daß Berlin und verschiedene westliche Vororte Zuschläge zu den untersten Stufen der Einkommensteuer nicht erheben. Aus den wenigen Zahlen geht allein schon klar und deutlich hervor,'daß die Stcuerkraft— und zwar nicht nur auf dem Gebiete der Personalsteuern— vom Westen nach deni Osten zu ganz außerordentlich abnimmt. Jedenfalls kann nach allem diesen an der Tatsache, daß der Osten immer steuerschwächcr und ärmer wird, der Westen jedoch an Reichtum zunimmt, nicht gezweifelt werden. Da nun Lichtenberg als ein Teil von Groß-Berlin in seiner Entwickelung fast ausschließlich von der Art der Ent- Wickelung des Ganzen abhängt und zu den östlichen Vororten gehört, so ist seine bedenkliche wirtschaftliche Lage als eine notwendige Folge der oben besprochenen eigentümlichen Ge- staltung der wirtschaftlichen Verhältnisse von Groß-Berlin anzusehen. Diese allgcnieme Entwickelung der zu Groß-Berlin ge- hörenden Gemeinden ist aber nicht aufzuhalten, und es gibt kein brauchbares und geeignetes Mittel, um derselben eine andere für Lichtenberg günstigere Richtung zu geben. Unter diesen Umständen mutz Lichtenberg finanziell auf eine andere Weise geholfen werden. Die gesonderte kommunale Selbständigkeit der Stadt Berlin und seiner Vororte war so lauge gerechtfertigt, als diese Gemeinden nicht zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet zusammengewachsen waren. Nachdem sie aber allmählich zu
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