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Hr. 130. 23. 1. KnlM des Jorräts" Knlim lolMIntt. Freitag, 8. Juni IM. Arbeiterbildung und ihre natürlichen Orgattifationsformen.*) Alle Klagen der einsichtigen Parteigenossen über mangelhafte theoretische Schulung der großen Masse der Arbeiterklasse bleiben so lange unfruchtbar, bis der Nachweis gelingt, daß die historische EntWickelung selbst die Möglichkeit seiner Beseitigung erzeugt. Wir wissen, daß die schnell anwachsende Arbeiterbewegung große Anfor- derungen an die Arbeitskraft einer großen Zahl ihrer Mitglieder stellt. Aus diesem Bedürfnis heraus erklärt sich der Trieb der Gewerkschaftsorganisationen einzelnen ihrer Mitglieder, die sich aus irgend eine Weise, durch Aufopferung, Fleiß und Befähigung, aus der großen Zahl der anderen hervorgetan hatten, die Möglich- keit zu geben, ihre ganze Arbeitskraft dem Interesse und der Ent- Wickelung der Organisation zu widmen. Eine ganze Reihe be- soldcter Beamtenstellungen wurden geschaffen. Sowohl durch die organisationsfördernden Tendenzen der wirtschaftlichen EntWicke» lung, durch die größere Propaganda für die genossenschaftlichen Organisationen, zum Teil mit ermöglicht durch die Anstellung von Beamten, als auch durch die gewaltige EntWickelung des Unter- stützungswesens in den Gewerkschaften, erlangten diese eine Aus- dehnung, die selbst dem größten Pessimisten Freude bereiten muß. Aber je größer die Organisation, je mehr Vorteile sie dem einzelnen Berufskollegen gewähren kann, um so gewaltigere Anziehungskraft übt sie auch ganz selbsttätig auf die Indifferenten aus. Gleichzeitig werden aber auch die stets anwachsenden Verwaltungsarbeiten von einem stets größer werdenden Beamtenheer erledigt, und so wird durch die Entlastung der Berufskollegen für diese die Möglichkeit gegeben, auch andere als nurpraktische Arbeir für die Organi­sation zu leisten. Die Möglichkeit, eingehendere Studien über die Begründung und Voraussetzungen des wlssenschaftlichen Sozialls. muS zu treiben, ist damit für einen größeren Teil des proletari­schen Nachwuchses geschaffen. Obgleich aber wohl fast jede moderne gewerkschaftliche Organisation es mehr oder weniger als eine ihrer Aufgaben betrachtet,die geistigen Interessen" ihrer Mitglieder durch Aufklärung und Bildung zumehren" und zufördern", so ist das doch eine Aufgabe der sie weniger direkt als indirekt gerecht zu werden vermag. Ein weitergehendes Bedürfnis nach wissenschaftlicher Bildung kann weder eine politische, noch eine gewerkschaftliche Kampf organisation be- friedigen. Von dieser selbstverständlichen Voraussetzung ausgehend, ist auch die Arveiterklasse dazu über- gegangen, Organisationen zu schaffen, die die für den CmanzipationSkampf deS Proletariats so wichtige Aufgabe der gründlichen Schulung der Kämpfer nicht als Nebenzweck, sondern als ihre Hauptaufgabe haben. Das sind die Arbeiterbildungsschulen, Bildungsvereine usw. Auch Berlin   hat sich solch eine Bildungs- stätte in der Arbeiterbildungsschule geschaffen. Als Anfang der 00er Jahre das Sozialistengesetz siel, ergriff der eben erst nach Berlin  übergesiedelte Gen. Liebknecht die Initiative zur Gründung der Schule". Eine Reihe kleiner Organisationen, sogenannte DiS- kutierklubs, lösten sich zugunsten der Schule auf, in der sie ihre natürliche Zentralisation sahen. Sie selbst konnten ja doch dem BildungZvedürfniZ der Arbeiterschaft nicht im mindesten gerecht werden. Tie Begeisterung der Berliner   Arbeiter für die Schule war groß, allein in den ersten beiden Geschäftsjahren wurden M zuerst 6, später s Schulen gegen 4500 Schüler unterrichtet. Das Programm war durchaus vielseitig und wies folgende Unterrichts­fächer auf: Deutsch   in drei Stufen tober. mittel, unter). Log,k, Geschichte(alte, mittlere, neue), National-Oekonomie, Gesetzeskunde, Physiologie, Anatomie. Chemie. Mathematik und mathematische Geographie. Rechnen und Buchführung. Die Einnahmen betrugen in diesen 2 Jahren über 81 000 M., darunter waren allerdings fast 7000 M. Geschenke, und über 3100 M. wurden durch freiwillige Sammlungen aufgebracht. Aber so schnell die Begeisterung ent- flammte, so schnell war sie wieder verglommen. Es gelang der Schule" nicht, sich auf dieser breiten Basis finanziell selbständig zu machen. Eine schwere, jahrelang andauernde Krise brach herein, in der es nur mit äußerster Mühe gelang, die Schule in erheblich beschränktem Umfange, durch Abstoßung alles überflüssigen Ballastes, am Leben zu erhalten. Im Jahre 1805 waren zwar noch 2 Schulen, aber nur noch kaum 200 Schüler vorhanden, und trotz erheblicher Geschenke f 1358,20 M., über 25 Proz. der Gesamteinnahmen, dem nur 1277,60 M. eigentliche Beiträge gegenüberstanden), ergab sich am Jahresschluß ein Defizit von mehr als 000 M. Die Teilnehmer, zahl an den einzelnen Kursen schwankte zwischen 12 und 27 Per- wnen. Seitdem ist ein ständiges, wenn auch langsames Steigen der Tätigkeit der Schule und der Zahl der Teilnehmer an den Kursen zu vermerken. Im ersten Quartal 1006 wurden an 624 Hörer 785 Hörerkarten ausgegeben. Trotzdem entspricht aber dieses langsame Anwachsen in keiner Weise der Bedeutung der Schule und der Be- deutung und dem Wachstum der Berliner Arbeiterbewegung. Nun find in der letzten Zeit in einigen Städten, so in Bremen  . Kiel   usw. als Ersatz für die dauernde Einrichtung einer Schule Versuche mit Unterrichtskursen vor einer größeren Anzahl Parteigenossen, zum Teil mit Lehrer» der Berliner   Arbeiter-Kildungsschule, gemacht worden. Ich bin der Meinung, daß derartige Kurse in keiner Weise den Bedürfnissen nach Vertiefung der Bildung gerecht zu werden vermögen. So werden jetzt z. B. in Berlin   zirka 1200 Billetts ausgegeben für einen Cyklus historischer Vortrage, der vomVer- band der sozialdemokratischen Wahlvereine" veranstaltet wird. Nun frage ich, wie soll da der betreffende Lehrer einen nachhaltigen pädagogischen Einfluß auf seine Hörer ausüben können? In den Volkchchulen verlangen wir. daß auf eine Lehrkraft nicht mehr als zirka 30 Schüler entfallen, und hier gibt es Leute, die sich wirklich, trotz der 1200 Hörer, nachhaltige Erfolge versprechen! Wir haben keine Ursache. unS über die Wirkung derartiger Ver- anstaltungen Illusionen hinzugeben, wenn auch anzuerkennen ist. daß es immerhin einen Fortschritt bedeutet, wenn überhaupt etwas getan wird. Wer aber glaubt, daß durch das Anhören einiger Wissenschaft. lichex Vorträge das gesteckte Ziel erreicht werden kann, der gwt sich einer gründlichen Selbsttäuschung hin. So leicht darf man sich die Sache denn doch nicht vorstellen, es bedarf einer gründlichen, fach. männischen Einführung und einer eifrigen Lektüre, angestrengtester Arbeit, um zu halbwegs annehmbare» Resultate» zu kommen. So im Vorbeigehen erlangt man keine wissenschaftliche Bildung. So, wie wir uns die Geschichte als Lehrmeisterin dienen»assen sollen, so sollen un» auch die praktischen Erfahrungen, die wir im Laufe der Jahre gesammelt haben, eine Richtschnur für unser Handeln geben. Wenngleich ich auch nicht die Schwierigkeiten verkenne, die dem intelligenten Proletarier, der nach diesem hohen Ziele strebt, ent- gegenstehen, so bin ich trotzdem der Meinung, daß eigentlich in keiner Alasse so die historischen Voraussetzungen zum Verständnis der in der Gesellschaft wirtenden Gesetze vorhanden sind als beim modernen Proletariat. Es gibt ja leider auch in unseren Reihen Akademiker, die der bescheidenen Meinung sind, daß es eigentlich. «in Privileg der akademischen Inzucht sei. wissenschaftliche und theoretische Fragen zu verstehen. Im Grunde genommen läuft diese Vorstellung auf den gutgemeinten, aber spießbürgerlichen Rat hin- auS:Schuster bleib bei deinem Leisten". Es kann an dieser Stelle nicht unsere Aufgabe sein, die weitgehendsten Forderungen der Arveiterbildung»iner erschöpfenden Besprechung zu unterziehen, aber einem Projekt, das kürzlich in derNeuen Zeit" einen Befür- Wörter gefunden, möcht» ich doch noch eine kurze Besprechung widmen. In dem Artikel wird der Partei empfohlen, Geld flüssig zu machen zur Unterstützung bestehender und zur Gründung neuer *) Dieser Artikel wurde länger« Zeit zurückgestellt, weil wir im besonderen w ä h r e n d der Vorträge des Genossen Maurenbrecher eine Diskusston über den pädagogischen Wert derselben nicht für nützlich Zielten- Die Redaktio«. Diskutierklubs und zwar, weil diese angeblichder Partei die gröbste Arbeit abnehmen, und die bildungsfreundlichen Elemente der sozialdemokratischen Arbeiterschaft wenigstens zusammenhalten". Eine recht wunderliche Illusion, nach der es nicht der Partei- organisation bedarf, um diebildungsfreundlichen" Elemente der Partei zusammenzuhalten, sondern außerhalb der Partei bestehender Klubs. Ich bin dagegen der Ansicht, daß es die Aufgabe der be- stehenden Parteiorganisation ist, diebildungsfreundlichen" Elemente der Partei zusammenzuhalten, die jüngeren Genossen in die Ge- dankengänge des wissenschaftlichen Sozialismus einzuführen und Diskussionen über das Erfurter Programm oder die praktischen und politischen Tagesfragcn anzuregen. Es ist notwendig, ein regere» geistiges Leben in die bestehenden politischen Organisationen hinein- zutragen. Der Passus unserer WaUvereinsstcrtutenVorträge und Diskussionen über politische, wirtschaftliche und Wissenschaft- liche Fragen" zu veranstalten, muß verwirklicht werden. Auf diese Weise werden auch alle die hätzlichen Neben- erscheinungen, die solchen Miniaturorganisationen wie den Klubs an- haften, nämlich die Bildung von Cliquen und eingebildete Vielwisserei, aufhören. Jeder soll und mutz sich als Mitglied der großen politischen Organisation fühlen, in deren Interesse er zu wirken hat und die kleinlichen und persönlichen Interessen der kleinen Clique werden ver- schwinden. Die einzige Aufgabe, die der Verfasser des Artikels m der Neuen Zeit" für die Klubs reklamiert,den Mitgledern durch Aus- tausch der Ansichten über irgend ein vorgetragenes oder vorgelesenes Thema, ihre Meinung zu klären suchen, und noch dies oder jenes Neue dazu lernen zu wollen", ist die ureigenste Aufgabe der poli- tischen Organisation. Um dieser Aufgabe aber entsprechend gerecht werden zu können, ist es notwendig, die befähigten Kräfte in geeig- neter Weise auszubilden. Das bewirkt aber keinAuswusch der Gedanken", lost genug auch der Gedankenlosigkeit), sondern das kann nur erreicht werden, wenn unter tüchtiger, fachmännischer Leitung etwas Tüchtiges gelernt wird. Für Berlin   ist eS aber einzig die Arbeiter-Bildungsschule, die das zu bewerkstelligen ver» mag. Es sollte deshalb auch den Parteifunktionären und Bezirks- führern mehr als bisher zur Pflicht gemacht werden, sich dort die nötigen Kenntnisse für ein erfolgreiches Wirken in der Organisa. tion zu beschaffen. Die DiSkutierklubS sind eine historisch längst überholte Organisationsform und die Partei hat kein Interesse daran, Leichen zu galvanisieren. Wenn der Artikel in derNeuen Zeit" weiter kein Verdienst hat, so hat er wenigstens das. Ge- legenhcit gegeben zu haben, den Berliner   Arbeitern die ganze Bedeutungslosigkeit dieser Organisationen zu zeigen. Aber er hat trotzdem noch ein anderes Verdienst, und das ist. an einem drastischen Beispiel die Gefahren solcher Vereinsmeierei offen- zulegen. Ich wie? schon oben auf die Cliquenbilbung und eingebildete Vielwisserei, zu der solche KlubS führen, hin. Der betreffende Artikel zeigt, daß diese Gefahren wirklich vorhanden find. Der Verfasser macht da eine Swtistik auf und erklärt, daß kaum 10 Proz. der Genossen einige Kenntnis der marxistischen   Ge- dankengänge besitzen, diese 10 Proz. setzten sich wieder aus solchen zusammen, die Marx nur halb und deshalb mißverstanden haben, und aus solchen, die sich nur an einigewirkungsvolle Sätze", soll heißen Schlagworte klammern. Woher nimmt denn der Genosse solche Kenntnis von den 10 Proz.? Und über die 34 Schüler der Berliner   Arbeiter-Bildungsschule, die das Verbrechen begangen haben, sich die MarxschenTheorien über den Mehrwert" an- zuschaffen, Schüler, die sicher zum Teil schon jahrelange Hörer deS nationalökonomischen Kurses sind, und nun die dort empfangenen Anregungen und Kenntnisse durch eifriges Studieren der Quellen ergänzen wollen, gibt der Berfaffer jenes Artikel» zu verstehen, daß sie dieMarxschen Lehren" so zu handhaben verständen,wie der Eingeborene Australiens   die erste Feuerwaffe, die ihm in die Hände gerät". Dabei ist aber noch zu erwähnen, daß andere Schriften, wie zum Beispiel KautskySMarx' ökonomische Lehren", schon früher verkauft worden waren. Und in einem der Schlußsätze heißt eS:«Bei diesen(DiS- kussionen um die theoretischen Probleme) handelt eS sich lediglich um eine Begründung oder um wktische Fragen deS Klassenkampfes, die heute die Masse der Parteigenossen nur in ihrer Rückwirkung auf den praktischen Kampf interessieren." WaS soll das heißen? Ist überhaupt irgend eine Wissenschaft um ihrer selbst willen da und nicht vielmehr wegen ihrer Rückwirkung auf daS Leben? Man er- kennt hier die Früchte derVielseitigkeit des dargebotenen Lehr stoffeö... bei bürgerlichen Bildungsinstituten". Otto Geithner  . 17. Evangelisch-sozialer Kongreß. Jena  , den 6. Juni. Der 17. Evangelisch-soziale Kongreß trat heute vormittag 0 Uhr im Volkshause zusammen. Nach dem üblichen Gesang und Gebet erösftiete Professor Adolf Harnack   die Verhandlungen mit folgender begeistert aufgenommenen Ansprache: Mein erstes Wort ist ein Wort des Danke» und zugleich ein Ausdruck des Vertrauens. Tankbar erkennen wir es an, daß das Rcichsamt des Innern und sein verehrter Chef in wahrhaft sozialem Geiste die großen Fragen der Gegenwart würdigt. Wir haben sehr selten gedankt. Um so bedeutungsvoller ist es, wenn wir eS heute tun. Wir sind uns aber bewußt, daß an der Stelle ein Mann steht, der die kaiserliche Botschaft vom Jahre 1890 nicht vergessen hat. (Lebhafte Zustimmung.) 2. Wir erklären, daß wir unS auch durch die Entwickelung der Sozialdenwkrati», namentlich in ihren Aussprachen der letzten Jahre, durch all das Empörende, das wir erlebt und noch erleben, in unserer sozialen Haltung nicht irre machen lassen.(Bravol) Wir können es wohl begreifen, wenn national und sozial gesinnte Männer sich voll Ekel abwenden und kein Wort vgn neuen sozialen Forderungen für die nächste Zeit mehr hören wollen, Wir begreifen das, aber wir können es nicht billigen.(Beifall.) Wir beklagen tief, aber wir vermögen es nicht zu ändern, daß die Sozialdemokratie durch ihr unpatrioftschcS und negatives Verhalten das alte Regime zu ihrem Teile nur gestärkt und eine Situation geschaffen hat, in der den Arbeitern als Geschenk gegeben werden mutz, was sie in gemeinsamer Arbeit mit uns erringen könnten. Wer an diesem Zustand sind lediglich die schuld, die sich als einzigen Vertreter der arbeitende» Klasse aufspielen mächten.(Lebhafter Beifall.) 3. Wir halten unerschütterlich daran fest, bah soziale Dinge und soziale Fragen nicht, wie mm in einem herben Realismus gesagt hat, lediglich Fragen der Futtermenge und deS FutterplatzeS sind, sondern im höchsteil Sinne humane und sittliche Fragen. Hinter jeder Frage steht der fühlende Mensch, der Mensch, der«Nie Ehre hat. Die Forderung, daß kein Mensch eine bloße Ziffer, ein bloßes Mittel sei, zerstört den Wahn derer, die das Gewebe der arbeitenden Gesell« schaft in ein rein materielles Gewebe verwandeln wollen. Daher sind wir Sozialisten upd Individualisten zugleich, und sind das eine, weil wir das andere sind.. 4. Wenn wix uns evangekisch-sozial nennen, so denken wir dabei an das Evangelium und nicht an irgend welche» Konfessiona- lismus oder vielmehr nur an jenen protestantischen Konfessionalis- muS, der eine unerschütterliche Weitherzigkeit bedeutet und ei» Zeichen von Kraft ist. Es kann in deutschen Landen nicht besser werden, wenn nicht ein großes Gebiet nach dem anderen dein Bann. kreise eines engherzigen Konfessionaliömus entrissen wird.(Beifall.) 5. Wir weisen wie bisher den Vorwurf zurück, als sei unser Kongreß einseitig nur für die Arbeiterfrage interessiert. Aber wir haben gelernt, daß die weitaus größte Zahl dieser Probleme, wenn man sie schließlich bis in die Tiefe verfolgt, auf die Arbeiter, und auf die Ärbeitssrage zurückgehen..(BravftQ, Und endlich 6.Ihr seid ein unverantwortlicher und unfrucht- barer Debattierklub in zufälliger Zusammensetzung", rufen uns unsere Gegner zu. Selbst das wäre noch nicht das Schlimmste. Wären wir doch damit wenigstens über die Trägheit, Indifferenz und Gedankenlosigkeit hinweg, die in allen idealen Fragen die schlimmsten Feinde, ja die eigentlichen Verbrechen an der Gesellschaft sind. Aber unfruchtbar sind wir nicht. Das beweist der Anteil, den diese Kon- gresse direkt oder indirekt an außerordentlich zahlreichen Schöpfungen der sozialen Fürsorge haben. Aber vor allem ist das Wort, welches unsere Kraft und unsere Waffe ist, noch immer wie in den Tagen der Vorzeit das vornehmste, ja im gewissen Sinne das einzige Mittel, die Herzen zu entflammen und die Gesinnungen zu stählen. Als numerisch klemer Verein mit hohen Zielen werden wir bleiben, bis wir überflüssig geworden sind, bis wir uns selbst überflüssig gemacht haben. Einsttveilen sind wir noch da und so begrüße ich Sie herz» lich und warm und wünsche dieser Tagung Kraft, Fülle und Frieden. (Stürmischer Beifall.) Nach einem Kaiserhoch HarnackS hielten dann Prof. Dr. Link. Prorektor der Universität Jena, Oberbürgermeister Singer- Jena, Geh. Kirchenrat Oberhofprediger v. Spinner im Namen der Landeskirche, Prof. D. Thümmel als Dekan der theologischen Fakultät der Universität Jena, Superintendent B r a s ch als Re- Präsentant der evangelischen Gemeinde Jena  , Begrüßungsreden. Darauf nahm Pfarrer O. Rittclmeyer-Nürnberg das Wort zu seinem Vortrage über: Der Jenseitsglaube und die soziale Arbeit. Er begründete folgende Thesen: 1. Eine entschlossene soziale Tätigkeit ist nicht nur ohne Jenseits- glauben möglich, sondern der große Aufschwung der sozialen Arbeit fällt zeitlich und ursächlich mit dem Zurücktreten des Jenseits- glaubcns zusammen. Der Jenseitsglaube enthält in seiner vulgären Form starke kulturhemmende Elemente. 2. Die theoretisch ablehnende Stellung der Sozialdemokratie zum Jenseitsglauben ist mit praktischen Zugeständnissen an denselben verbunden und trägt die Keime weiterer Auflösung in sich. 3. Bis jetzt ist eS noch keiner Ethik gelungen, ein wirklich be» friedigendeS innerweltliches Kulturideal aufzurichten. Es gibt keine Kulturarbeit ohne Transzendenz, d. h. ohne versteckte Jenseits- gedanken. 4. Der christliche JenseitSglaube geht nicht aus solchen Er­wägungen hervor, auch nicht aus dem egoistischen Wunsch nach Er- Haltung der eigenen Persönlichkeit, sondern aus einem religiösen Erleben der höchsten Werte und Ziele, das im engsten Zusammen­hang mit dem Gottesglauben steht. 5. Durch die gegenwärtig« Krists, in die er eingetreten ist, wird der JenseitSglaube allerlei Umbildungen erfahren, unter denen die Einsicht von einem irgendwie bestehenden organischen Zusammenhang zwischen Diesseits und Jenseits die wichtigste ist. 6. Erst dann wird der JenseitSglaube die in ihm vorhandenen soziale» Kräfte ungehemmt entfalten, besonder? indem er die sitt- liche Kraft des Einzelnen stärkt und seine Achtung bor   den anderen aufrechthält und hebt, während die soziale Gesinnung ohne Jenseits- glauben starken Erschütterungen entgegengeht. An den Vortrag deS Pfarrers Dr. Rittelmeyer schloß sich eine längere theologisch-philosophische Debatte über Hemmung und Föroerung der sozialen Arbeit durch den Jenseitsglauben: eS sprachen unter vielen anderen Prof. v. Rathgen- Marburg  , Prof. V. Mendt- Jena  , Prof. Dr. Harnack« Berlin   und Privatdozent Dr. Hermann Türck-Jena. Nach einem kurzen Schlußworte des Referenten wurde dieser Gegenstand ohne Beschlußfassung ver- lassen. In der Nachmittagssitzung sprach Privaidozent Dr. Bernhard Harms über den Maximalarbeitstag. Er legte feinem Bortrage folgende Thesen zugrunde: I. Die tägliche Arbeitszeit der in den Fabriken und ihnen gleich. stehenden Anlagen beschäftigten unselbständigen Personen ist in deu  letzten Jahrzehnten mehr und mehr verkürzt worden; auch läßt sich eine ausgesprochene Tendenz zu weiterer Verkürzung der Arbeitszeit nicht verkennen. n. Aus sozialethischen und sanitären Gründen ist eS dringend er­wünscht, diese Tendenz so zu beeinflussen, daß die Verkürzung der Arbeitszeit nicht nur allgemein, sondern vor allem in gesundheitS, schädlichen Industrien, sowie für jugendliche und weibliche Arbeiter Platz greife. Besonders dringend ist die Perkürzung der Arbeitszeit für verheiratete, geschiedene und verwitwete Fabrikarbeiterinnen, und zwar in dem Umfange, daß eS ihnen möglich ist, in größerem Maße als bisher ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter ob« zuliegen. nr. Wirtschaftliche Rücksichten können für die Verkürzung der Arbeitszeit in besonders gesundheitsschädlichen Industrien und für jugendliche Arbeiter nicht ausschlaggebend sein. Hingegen ist die Verkürzung der Arbeitszeit Erwachsener in hygienisch einwandfreien Betrieben unter allen Umständen unter dem Gesichtswinkel ihrer ökonomischen Wirkung zu beurteilen. Hierbei wird man von dem Grundsatz ausgehen müssen, daß die Verkürzung der Arbeitszeit weder den Unternehmern eine Schmälerung ihrer Rente, noch den Arbeitern eine Kürzung ihre» Lohnes bringen darf. Dies ist nur dann denkbar, wenn die Arbeitsintensität so steigt, daß trotz der verkürzten Arbeitszeit das Quantum der Produktion nicht zurückgeht. In dem Maßeal» dies geschieht, kannbte Arbeitszeit unbedenklich verkürzt werden. IV. Die Frage, ob auf die Verkürzung der Arbeitszeit innerhalb deS volkswirtschaftlich möglichen Rahmens der Staat einen Einfluß ausüben soll, ist verschieden zu beantworten. Unerläßlich ist die Mitwirkung des Staates bei der Verkürzung der Arbeitszeit in gesundheitsschädlichen Industrien. Desgleichen kann auf gesetzliche Bestimmungen, welche die tägliche Beschäftigungsdauer der lugendltchsn Arbeiter beschränken, nicht verzichiet werden. Ii» einzelnen ist erwünscht, daß: 1. der Bundesrat von dem ihm auf Grund deS§ 120« der Gewerbeordnung zustehenden Recht der Normierung eine» hygienischen MaximalarbettStageS in größerem Umfange Gebrauch macht als e» bisher geschehen ist, besonder» mit' Rücksicht auf die grauen. 2.§ 135 der Geweroeordnung dahin abgeändert wird, daß für jugendliche" Fabrikarbeiterinnen, deren Schutzalter auf 18 Jahre zu erhöhen ist, und für jugendliche männliche Arbeiter der neunstündige Raximalarbeitötag festgelegt wird. Auch bei der Regelung der Arbeitszeit erwachsener Frauen ist die Mitwirkung des Staates erforderlich; nur muß hierbei die richtige Mitte geholten'werden zwischen dem sozialpolitisch Er- wünschten und dem volkswirtschaftlich Möglichen. Der zehnstündige Maximalarbeitstag für Frauen ist im ganzen spruchreif, doch bedarf ig bei seiner Einfuhrung weitgehender und langfristiger Uebeogang«. bestimmungen, vor allem für die Textilindustrie, und Ausnahme, bcftimmungen für du Saisongewcrbc. Dringend erwünscht ist die internationale Einführung deS lOstündigen Raximalarbetts« tage? für Frauen. Eine gesetzliche Regelung der Arbeitszeit erwachsener Männer i» hygienisch einwandfreien Betriebe»' empfiehlt sich nicht. Des, gleichen ist eine gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit verheirateter Krauen über die der ledigen hinau» nicht erwünscht; hingegen ist energisch aus die Einführung der fakultativen Hakitag«