Nr. 136. W.Iahrgllug.Freitag, 15. Jan! 1906.Die Revolution in Rußland.Die Duma.Petersl>urg, 14. Juni. Hiesigen Blättem zufolge lvird die Reichs�Duma längstens bis zum 28. Juni beisammenbleiben und sich dann vertagen. Nach der Vertagung sollauch der Rücktritt des Kabinetts Goremylin erfolgenund dieses durch ein liberales Kabinett ersetzt werden.Petersburg, 14. Juni. In der heutigen Sitzung der Duma der-zichteten mehrere Abgeordnete unter lebhaftem Beifall auf das Wort,während einige andere lange Rede» hielten. Man erwartete eineErklärung des Oberprokurators im Kriegsministerium, Generalleutnants Pawlow über die Todesstrafe. Pawlow hat heute denKrieasminister um die Erlaubnis gebeten, der Duma den Berichtschriftlich zu überreichen und ihn nicht persönlich zu verlesen.Die Agrarfrage.Petersburg, 14. Juni.(SB. T. B.)(Von einem besonderen Be-richterstatter.) In einer gestern unter dem Vorsitz des ProfesiorPetrazycki abgehaltenen privaten Beratung sprachen sich die b ä u e r--lichen Duma-Abgeordneten bestimmt gegen die Bildungeines Landfonds zur Verpachtung an landarme Bauern und für dieUeberlasiung von durch Enteignung verfügbar zu machenden Landesaus Privatbesitz an die Bauern als volles Eigentum aus.Zur Lage.Die Lage in den Häfen des Schwarzen MeereS istsehr bedenklich. In Sewastopol hat jeder Verkehr zur See auf-gehört. In Odessa streiken alle Hafenarbeiter, Matrosen, Heizerund auch Köche. Bis jetzt gingen noch die Nikalajewer Dampfer,doch nun haben auch sie ihre Fahrten eingestellt. Der Verkehr mitNikolajew muß per Bahn erfolgen, was statt 8 Stunden Fahrt—36 Stunden, statt 3 Rubel Kosten 17 Rubel bedeutet. Nochschlimmer ist es mit C h e r s o n. das per Dampfer sonst in achtStunden, jetzt erst in 36 Stunden zu erreichen ist. Zugleich laufenGerüchte von einem belvaffneten Aufstande und von Attentaten ein.Viele Einwohner verlassen die Stadt. Unter den Matrosen undSoldaten herrscht große Unzufriedenheit. Gerüchtweise verlautetauch von einem bevorstehenden Eisenbahnerstreik, der Sewastopolvöllig abschneiden würde, da der Dampferverkehr mit Odessaund anderen Schwarzen Meer-Häfen infolge des Streiks bereitseingestellt ist.Auch in Petersburg gärt es. Die Schiffer auf den Barken,welche Bau-, Nutz- und Brennholz, Kohle und andere Materialiennach Petersburg und in die Umgegend liefern, sind in den Ausstandgetreten. Die Schiffer verlangen von den Prinzipalen Er-höhung des Arbeitslohnes um 25 Prozent nicht nur für sich,sondern auch für die ihnen unterstellten Arbeiter, deren Zahl sichauf 2000 beläuft.Infolge dieses Streiks sind gegenwärtig die Preise für Holzund Kohle bereits bedeutend gestiegen. Wie die„Dwadzaty 28el"meldet, herrscht auch in Kronstadt unter den Matrosen Erregung,weil in der vorigen Woche zwei Matrosen vom Panzerkreuzer„Gromoboi" von einer Kavalleriepatrouille mit Nagaiken geschlagenwurden. Die Matrosen hatten einem Offizier die Ehrenbezeugungverweigert. Die Matrosen halten Massenmeetings ab. Auf denSchiffen sind Vorsichtsmaßregeln getroffen, auf eimgen find die Ver-schlüsfe der Geschütze entfernt worden.Auch die Bauern scheinen mit den Reden in der Duma nichtbefriedigt. Wie die.Birschewija Wjedomosti" meldet, wurden imGouvernement Poltawa Proklamationen verbreitet, in denen dieBauern aufgefordert werden, nicht in den Wirtschaftsgebäuden derGutsherren zu schlafen, da diese den Flammen gelveiht sind. Auchaus den anderen Gouvernements kommen ähnliche Nach-richten, wie z.B. aus Kasan, Woronesch nndSaratow. In Balaschowist ein GutshauS niedergebrannt worden. Im Gouvernement Kasan,wo die Notlage sehr groß ist, vereinigen sich arbeitslose Bauern zuBanden und plündern Herrengüter. Dort hat ein Bauernkongreßstattgefunden, auf dem die Ideen der Sozialrevolutionäre siegten.Im Kreise Sadonsk im Gouvernement Woronesch sind die Guts-Herren in die Stadt geflüchtet.Aus Charkow ivird gemeldet, daß im Kreise Sumy seitDezember 1100 Bauern verhaftet worden sind.Verhaftungen unter den Truppe«.Wie die„Ketsch"(„Kadetten"-Organ) erfährt, sind in der Zeitvom 24. bis zum 27. Mai in den Petersburger Truppenteilen zahl-reiche Verhaftungen erfolgt. So wurden z. B. im Chevaliergarde-regiment drei Unteroffiziere verhaftet. Im 18. Sappeurbataillonwiederum sind zwei Unteroffiziere und im Preobrashenski-Regimentmehrere Unteroffiziere verhaftet worden.—Die Regierung läßt indes alle Meldungen über angeblich imHeere aufgetretene Meutereien als falsch bezeichnen. Die Regierungkönne sich unbedingt auf die Armee verlassen.Demnächst würden 600 000 Mann nach dem Süden gehen unddie Ruhe wieder herstellen.Die Arbeitslosen auf dem flachen Lande.Die Gouverneure haben dem Ministerium des Innern Berichteüber die große Ansammlung von Arbeitslosen in den Dörfern ein-geschickt, welche auS den Restdenzen und den Gouvernementsstädtenausgewiesen sind. Den Arbeitslosen fehlt es an jeder Möglichkeit.Arbeit zu erhalten, und sie fallen in der Prodinz ihren ohnehindarbenden Angehörigen zur Last. Besonders macht sich daS in denWolgagouvernements geltend, wo die Stimmung der Arbeitsloseneine sehr gefährliche ist und Agrarunruhen erwartet werden. Ineinigen Kreisen an der Wolga ist infolge des Hungers der Skorbutausgebrochen und hat furchtbare Dimensionen angenommen.Ei» AuSlieferuugsautrag Väterchens.Petersburg, 14. Juni. Der„Nowoje Wremja" zufolge hatRußland bei der schweizerischen Regierung beantragt, daß der R e-volutionär Ingenieur Rutenberg, der sich nach derSchweiz geflüchtet hat, als gemeiner Mörder ausgeliefertwerde, nachdem die Untersuchung ergeben habe. daß der ehe-m a l i g e Priester G a p o n von Rutenberg und zlvei Helsemdesselben ermordet worden.Die Angaben der russischen Behörden über die TäterschaftSiutenbergS verdienen natürlich das intensivste Mißtrauen. Aufalle Fälle ist eS eine unverschä in te Frechheit, daßdie Inspiratoren der„Schwarzen Banden", Kreaturen, die schlimmersind als gemeine Mörder, einen politischen Mord zum gemeinenMord zu stempeln wagen._Allgememer Fürs orgeerziehungstag.In der heutigen zweiten und letzten Sitzung führte der Ober-Präsident Graf v. Zedlitz und Trützschler in einer Be-grüßungsrede u. a. miS: Ich will nicht verhehlen, daß ich diesanguinischen Hoffnungen, die an daS Gesetz vielfach geknüpftwurden, nicht geteilt habe. Dazu sind die Schäden in unseremVolks- und gesellschaftlichen Leben zu tief. Ich halt« eS aber jeden-falls für dringend notwendig, den Versuch zu machen, eine Besserungdurch das Gesetz herbeizuführen. Erfolge sind meiner Meinung nachaber nur zu erzielen, wenn der Ausführung des Gesetze» reichepraktische Erfahrungen zur Seite stehen. Ihre Beratungen, der Aus-tausch ihrer Erfahrungen bildet auch eine Stufe auf dem Wege zurBesserung der auf dem Gebiete des jugendlichen Fürsorgewesensvorhaiwenen Schäden. Deshalb tviiuscht die königliche Staats-regierung Ihren Beratungen den besten Erfolg und ist bereit, IhrenI Bestrebungen jede Unterstützung zuteil werden zu lasten. Soweitt ich persönlich dazu imstande bin, können Sie auf meine volle Unter1 stützung rechnen.v Der Erziehungstag beschäftigte sich danach mit der Frage:Fürsorgeerziehung oder Gefängnis?Anstaltsvorsteher Wicher(Wohlau) faßte seine Ausführungenin folgenden Leitsätzen zusammen:1. Die Bestrebungen der Neuzeit, Verbrechen vorzubeugen unddie gefährdeten Jugendlichen vor dem sittlichen Verfall zu be-wahren, sind mit großer Freude zu begrüßen und zu unterstützen:doch kann durch alle diese Maßnahmen, selbst durch eine idealgedachte Handhabung des Fürsorgeerziehungsgcsetzes nicht immerverhindert werden, daß ein Teil der Minderjährigen der sittlichenVerwahrlosung und dem Verbrechertum anheiinfällt.2. Fürsorgeerziehung und Gefängnis stehen darum häufig inWechselbeziehung zu einander. Die jugendlichen Uebeltäter wandernbald aus dem Gefängnis in die Fürsorgeerziehungsanstalt oderumgekehrt.„„3. Aeltere Fürsorgezöglings ziehen manchmal daS Gefängnisder Fürsorgeerziehungsanstalt vor und begehen Verbrechen, nurum ins Gefängnis hineinzukommen.4. Die Ursachen dieser unnatürlichen Erscheinung sind mannig-faltig. Sie sind zu suchen:a) bei de» Zöglingen selbst,b) in der Art der Rechtsprechung.c) in der Art deS Strafvollzuges undä) in der Organisation und der Verwaltung der Gefängnisse undder Erziehungsanstalten.6. Dem Uebelstande, der Furcht der gefährdeten Jugendlichenvor der Fürsorgeerziehung und den Erziehungsanstalten muß nachKräften entgegengearbeitet werden, und zwar:a) durch eine angemessene Erziehung und Belehrung der gefähr-deten Jugendlichen, besonders durch Weckung des in ihnenschlummernden Ehrgefühls,b) durch Vermeidung von gerichtlichen Anzeigen bei kleinen Ver-gehen der Jugendlichen, welche durch die Erziehungsfaktorenwie Eltern, Lehrer, Vormünder und dergleichen geahndetwerden können, durch häufigere Anwendung des§ 1, Abs. 1deS Fürsorgeerziehungsgesctzes bei der Bestimmung derJugendlichen zur Fürsorgeerziehung, durch Einführung vonbesonderen Gerichten für Jugendliche und durch häufigere An-Wendung des gerichtlichen Verweises statt der Verurterlung zukurzen Haft- und Gefängnisstrafen.o) durch ausgiebigere Auivcndung der Aussetzung der Strafvoll-streckung und der bedingten Begnadigung,ä) durch Unterbringung der jugendlichen Uebeltäter, wenn eSdurchaus sein muß, in Gefängnisse für Jugendliche undSchaffmig einer besonderen Hausordnung für diese Straf-anstalten,v) durch Beseitigung des Gefängnischarakters einzelner Er-ziehungsanstalten wie durch Vermehrung aller Maßnahmen.welche die Erziehung der jugendlichen Verwahrlosten fördernkönnen.6. Im Interesse der verwahrlosten Jugend ist der Unter-bringung derselben in Fürsorgeerziehung vor der Jnternierung inein ArinenhauS, Korrektionshaus oder Gefängnis der Vorzug zugeben.7. Die Fürsorgeerziehung darf nur in seltenen Fällen durchVerbüßung von Gefängnisstrafen unte»brochen werden, da sie da-durch nur ungünstig beeinflußt wird.8. Alle maßgebenden Faktoren, Behörden, Anstaltsleiter undAnstaltsbeamte werden auf Mittel und Wege sinnen müssen, dieFürsorgeerziehung im Sinne des Wortes zu handhaben. DieZöglinge müssen mit Liebe, Geduld und Nachsicht und vor allemunter Berücksichtigung ihrer Individualität behandelt werden;dann wird die Furcht vor der Fürsorgeerziehung aus den Köpfender jugendlichen Verwahrlosten schwinden. Sie werden das Ge-fängnis nicht aufsuchen und der Zweck des Fiirsorgeerziehungs-gesetzes wird sicherer erreicht werden.Gefängnisdirektor H ü l s b e r g- Wohlau: Der Prügelstrafewerde niemand das Wort reden wollen. Man habe in früherenJahren mit der Prügelstrafe nichts erzielt. AlS internes Disziplinar-inittel bei ganz außergewöhnlichen Roheiten wäre die Prügelstrafefür jugendliche Gefangene vielleicht wünschenswert. Eine betrübendeErscheinung sei es, daß aus der Fürsorgeanstalt Entwichene auf ihrerverbotenen Wanderschaft Straftaten begehe», um nicht zurück in dieErziehungsanstalten, sondern ins Gefängnis zu kommen. Fast beijeder Neueinlieferung erlebe man es, daß die Burschen auf die Fragenach dem Grunde ihres EntlaufenS und ihrer Straftat in freimütigfrivoler Weife erklären: Ich wollte ins Gefängnis, in die Erziehungs-anstalt bringt mich keiner mehr hinein. Allerdings sei dies dieHefe der Zöglinge. Ein großer Ucbelstand sei, daß ein sehr großerTeil der Knaben viel zu spät in die Fürsorgeerziehung komme, oft-mals wenn sie schon ein- oder mehrere Male im Gefängnis waren.Oftmals haben ihn, jugendliche rückfällige Verbrecher erklärt:„Wennmir das erste Mal die Strafe erlassen worden und ich dafür gleichin eine Erziehungsanstalt gekommen wäre, so wäre ich jetzt einordentlicher Junge, hätte etwas Tüchtiges gelernt und wäre vielleichtnie mehr vor den Strafrichtcr gekommen." Es empfehle sich auch,jugendliche Strafgefangene»ach Verbüßung ihrer Strafe, anstatt ineine Erziehungsanstalt in eine geordnete Familienpflege bei einemBauer oder Handwerker unterzubringen. Die Furcht derJungen vor der Fürsorgeerziehung sei selb st ver-ständlich eine unnatürliche Erscheinung. Wirmüssen uns vielleicht sagen, daß die Für-sorge für unsere verbrecherische Jugend nichtimmer in der rechten Weise gehandhabt wird, daßMängel und Schäden zutage getreten sind, dieeine dringende Abstellung, eine gründliche Re-form erheischen. Heute, wo die Familienverhältnisse in breitenSchichten mehr oder minder zerrüttet, die Familicnbande gelockertseien, zumal in den Städten und großen Industriezentren, wachsenviele Kinder ohne Liebe, ohne Pflege, ohne Lebensfreude auf. Damüssen sie dem Vater alltäglich das nötige Ouantum Schnaps holen,werden oft auf Bettel und Diebstahl ausgeschickt, da hören sie stetsschimpfen auf jegliche Autorität, auf die Obrigkeit, Kirche und Schule.Die konfirmierten Knaben treten nur zu einem geringen Teil in dieLehre; die meisten gehen bloß auf Arbeit und werden gewöhnlichFabrikarbeiter. Als solche sind sie vollständig Herren über ihre freieZeit, allen schlechten Einflüssen preisgegeben. Da gilt es frühzeitigden Hebel der Bewahrung und Rettung anzusetzen, ehe die Ver-brecherlaufbahn beschritten wird. Die strafunmündigen Kinder müsseneiner sorgfältigen, geordneten Erziehung zugeführt, die aus der Schuleentlassenen in Fortbildungsschulen zusammengehalten, in Jünglings-vereinen gesammelt werden.Errichtung von Jugendgerichten.Unbedeutende Vergehen von Schulkindern dürften nicht auf ge-richtlichem Wege, sondern auf dem der Schulzucht geahndet werden.Wahrlich, eS tut mir jedesmal rn der Seele weh,und ich finde es allen pädagogischen Anschauungenins Gesicht geschlagen, wenn Bürschchen, die kaumüber den Tisch sehen können, aus der Schule heraus-gerissen, ins Gefängnis eingeliefert werden. Sieschauen gewöhnlich fröhlich drein, als hätten sie auch nicht imgeringsten etwas verbrochen, als müßte es so sein, daß sie einmalzur Abwechselung hinter Schloß und Riegel kominen. Oftmalsweinen sie jämmerlich, daß sie in die einsame Zelle wandern undfortan ans Monate der Anflicht von Vater und Mutter ent-behren sollen. Fürwahr, eS ist eine Härte, solchen un-gezogenen Jungen, die vermöge ihres unklaren Sittlichkeits-vewußtseins und ihrer �bestimmbaren.Charakterbildung! leicht be»stimmbar sind, wegen geringfügiger Bergehen für ihr ganzes Lebenden Stempel von Verbrechern aufzudrücken. Und welche Gefahrerwächst aus der Rückkehr eines Knaben aus dem Gefängnis in dieSchule seines Heimatortes für seine Kameraden? Es ist dringendnotwendig, daß der Richter von dem§ 56 des Strafgesetzbuches,dem sogenannten Einsichts-Paragraphen, den weitesten Gebrauchmache. lI 56 Str.-G.-B. besagt: Ein Angeschuldigter, welcher zueiner Zeit, als er das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahrvollendet hatte, eine strafbare Handlung begangen hat, ist frei-zusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Erkenntnis ihrerStrafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß). Es empfiehlt sichnach dem Vorbilde anderer Staaten die Einrichtung von Jugend-geeichten, auch für Jugendliche von 14 bis 18 Jahren bei-erstmaligem Fehltritt. Jugendliche müssen nach Möglichkeitvor dem Gefängnis verschont und lieber der Strafeder Zwangserziehung überwiesen werden. Die Feststellungde? Vorhandenseins oder Fehlens der Einsicht ist eine derschwierigsten Aufgaben. Die heilsamen Folgen der Bekämpfung desVerbrechens durch Erziehung zeigen sich in England. Während dortdie Zahl der jugendlichen Verbrecher im beständigen Sinken begriffenist, wächst sie bei u»S in geradezu gefahrdrohender Weife. Fast 5000Jugendliche werden jährlich bestraft, das sind 9 Proz. aller Gesetzes-brecher überhaupt. 24 Proz. sind bereits ein- oder mehrere Malevorbestraft. Als Strafverbüßungsanstalten für Jugendliche dürfenselbstverständlich nur solche Gefängnisse in Frage kommen, die ent-weder ausschließlich für Jugendliche bestimmt sind, oder eine Jugend-abteilung aufweisen, in der die Insassen von jedem Verkehr mit er-wachsenen Verbrechern ausgeschlossen sind.Die wichtigste Frage im Strafvollzug an den Jugend-lichen ist:WaS soll mit den Entlassenen geschehen?Er versuche es mit der Unterbringung in einer Dienst« oderLehrstelle. Jungen, die sich im Gefängnis gut geführt und fleißiggearbeitet haben, sollte man nicht nachträglich, gewissermaßen alsNachkur in eine Erziehungsanstalt bringen. Zum mindesten sollteman vorher ein Gutachten der Gefängnisdirektion über ihr Verhalteneinholen.„Kein Willckum".Sehr zu empfehlen sei es, die Zöglinge in den Erziehungs-anstalten so zu behandeln, daß sie zu der Einsicht kominen, dieAnstalt wolle ihnen das Vaterhaus ersetzen. Es müsse denJungen gesagt werden, daß ihnen beim Eintritt in die Anstalt kein„Willekum"(Prügel) winkt. Gänzlich falsch sei, Zöglinge zur Straf-verbüßung ans der Erziehungsanstalt ins Gefängnis zu führen. Esmüßten Einrichtungen getroffen werden, kurze Gefängnisstrafen inden Anstatten abbüßen zu lassen. Durch solches Eintreten für dieZöglinge wachse ihr Vertrauen, und sie gewinnen die Anstalt undihren Leiter lieb. Letzterer müsse überhaupt in engster Beziehung zuden Zöglingen stehen, so daß sie zu ihm aufblicke» wie zu einemVater, dem sie zu jeder Zeit alle ihre großen und kleinen Sorgenund Wünsche ohne Scheu vortragen. Zu letzteren gehörtauch die Befriedigung ihres gewöhnlich kolossalen Appetits. Lassenwir die Jungen sich ruhig einmal den Magen überladen, wir habenes auch früher manchmal getan.(Heiterkeit.) Allerdings müsse derLeiter der Anstalt auch für HülfSkräfte sorgen, die nicht meinen, mitSchimpfen, Fluchen und heimlicher Verabreichung von Püffen werdedie beste Erziehung getrieben, die vielmehr durch väterliche, wohl-wollende, wenn auch ernste und strenge Behandlung zeigen, daß siemit den Zöglingen fühlen und ihr Bestes im Auge habe». Wenn dieErholungszeit der Zöglinge nicht zu knapp bemessen werde, wennmit den Zöglingen größere Spaziergänge unternommen, tägliche Turnübungen und Bewegungsspiele, bei festlichen Gelegenheiten thcatra-tische und inusikalische Aufführungen veranstaltet werden, wenn ihnengute Unterhalluugsbücher und Spiele zur Verfügung stehen, kurz,wenn die Zöglinge in allen Einrichtungen und Veranstaltungen sehen,daß man ihnen das Elternhaus möglichst ersetzen wolle, dann werdensie die Anstalt als ihre zweite Heimat ansehen.(Lebhafter, lang-anhaltender Beifall.)Pastor Roth- Gr.-Rosen: Die JungenS ziehen das Gefängnisder Erziehungsanstalt vor, weil in dem ersteren genau die Dauerbemessen sei. Es müsse auch Verbitterung hervorrufen, wenn ent-gegen dem Grundsatz:„No bis in idorn", die JungenS nach derStrafverbüßung noch in eine Erziehungsanstalt kommen.Pastor E i ch b e r g- Groß-Strchlitz: Man solle in erster Reiheeine Besserung jugendlicher Verbrecher ins Auge fassen. Gefängnis-oder Zuchthausstrafen tragen aber keineswegs dazu bei, dafürsprechen die vielen Rückfälligkeiten. ES empfehle sich daS Apostel-wort bei den jugendlichen Verbrechern:„Glaube, Liebe. Hoffnung,diese drei, und die Liebe ist die größeste unter ihnen", praktisch zurAnwendung zu bringen.Oberlehrer B l u n k- Ohlsdorf bei Hamburg: In Hamburghabe man noch niemals gehört, daß Fürsorgczöglinge den Aufenthaltim Gefängnis der Erziehungsanstalt vorziehen. Der Redner tratim weiteren für Errichtung von Jugendgerichten nach dem Vorbildevon Nordamerika ein.— Pfarrer Peters(Plötzensee bei Berlin)betonte in längerer Rede die Notwendigkeit, sich zu entscheiden, obErziehungsanstalt oder Gefängnis.BormimdschastSgerichte.Pastor Seifert- Strausberg befürlvortete folgenden Antrag>.„Der allgemeine Fürsorgeerziehungstag spricht den Wunsch aus, daßdie Straffachen gegen Jugendliche, soweit eS irgend möglich ist.demselben Richter wie die Vormundschaftssachen überwiesen werdenund daß für eine zweckmäßige Schulung dieser Richter Sorge ge-tragen wird."Anstaltsvorsteher K a u d e r- Grottkau teilte eine Reihe vonEittweichungen mit. Trotzdem befürwortete er nicht gefängnisartigeEinrichtungen, sondern liebevolle Behandlung.— Frau Rcgierimgs-rat Weg» er-Breslau: Ganz besonders für Mädchen empfehlensich Jugendgerichte. Mädchen werden von den Strasitichteru oftmalsin einer Weife ausgefragt, daß, wenn sie noch nicht ganz verdorbenfeien, sittlich gefährdet werden. Die Rednerin beantragt im weiteren,zu beschließen, an zuständiger Stelle vorstellig zu werden, daß dasStrasinündigkeitsalter auf das sechzehnte, die bedingte Zurechnung?-fähigkeit aus das 21 sie Lebensjahr heraufgesetzt werde.RegierungSaffessor Dr. K n a p p e- Brannschwcig teilte mit. daßin Braunschweig bereits Bestimmungen für den Strafvollzug Jugend-licher getroffen sei.Fräulein Cäcilie Sachs(Breslau) rügte es. daß die Unter-bringung Jugendlicher in die Fürsorgeanstalten oftmals wegen desStreites, ob Staat oder Gemeinde d,e Kosten zu tragen haben, eineganz ungebührlich lange Verzögerung erfahren.Pastor Backhausen(Hannover) befürwortete folgenden An-trag:„Der Allgemeine Fürsorgeerziehungstag richtet an den HerrnJustizminister die Bitte, die Strafrichter anzuweisen, daß einJugendlicher, wenn er in die Fürsorgeerziehung überwiesen ist,wegen derjenigen Vergehen, die seine Ueberweisung in die Für-sorgeerziehung herbeiführten, nicht auch zugleich bestrast wird,fondern das Verfahren gegen ihn einzustellen ist, falls die Art deSVergehens es irgendwie zuläßt."Auf Antrag des Oberlehrers B l u n k- Ohlsdorf wurde be-schloffen, sämtliche Anträge dem Vorstände zur Berücksichtigung zuüberweisen. Diesem Antrage wurde zugestimmt.Pastor B I o ch w i tz- Frankfurt a. O. sprach über:Die Schwierigkeit der Erziehung der älteren weiblichen Fürsorge»zöglinge, insonderheit der Prostituierten.Der Redner legte seinem Vortrage folgende Leitfäden zugrunde:1. Die Größe der Schwierigkeit wird offenbar, wenn dosZiel der Aufgabe, die Zöglinge zu religiös-sittlichen Persönlich-reiten«u erziehen, mit dem Zustand religlös-sittlicher Verkommen«