wkrts, Berlin , ein„Führer durch die neuen Militär- Pensionsgesetze" erscheinen wird, auf den wir schon jetzt alle Interessenten aufmerksam machen. Ein Kulturbild aus der Kaserne. Ein systematischer Leuteschinder schlimmster Sorte stand am Mittwoch vor dem Dresdener Kriegs- g e r i ch t. Der Sergeant S ch i r m e l von der 6. Batterie des 3. Feldartillerie-Regiments Nr. 32 in Riesa , ein disziplinar häufig bestrafter Unteroffizier, benutzte seinen Posten als Futter- meister zur VerÜbung unglaublicher Gemeinheiten an den ihm unterstellten Leuten. Dabei ging der rohe Patron mit großem Raffinement vor, verübte seine Grausamkeiten meist nur dann, wenn kein Unberufener zugegen war, und wußte seine Opfer derart einzuschüchtern, daß keines wagte, sich zu beschweren. So ist es denn auch zu erklären, daß der Mann seine Schandtaten ein volles Jahr ausüben konnte. Nicht ein Tag verging, an dem nicht der eine oder andere Rekrut unter seinen Brutalitäten zu leiden gehabt hätte. So mußten eines Tages im Winter 1904/05 die Rekruten der Batterie nach dem Reitplatze ab- rücken, hier auf Befehl des Sergeanten die Eisdecken der zu- gefrorenen Wasserpfützen auftreten und dann mit den Händen das Wasser ausschöpfen und nach den Schleusen tragen. Einem der be- teiligten Leute erfroren infolgedessen die Hände. Mit am schlimmsten trieb es der Futtermeister mit dem Fahrer Paul. Diesen schlug er einmal ohne jeden triftigen Grund im Stalle mit der Peitsche. Als der Mann Miene machte, wegzulaufen, erteilte er ihm den ausdrücklichen Befehl stehen zu bleiben, anderenfalls er ihn wegen Ungehorsams zur Meldung bringen würde. Der Mann ge- horchte und bekam darauf zehn Peitschenhiebe aufgezählt, sodaß sein Körper über und über mit Schwielen bedeckt war. Der Fahrer Hunger mußte eines Tages mit dem Sergeanten nach der Geschirrkammer gehen. Dort angelangt, bemerkte der letztere zu dem Soldaten in höhnischem Ton: „Wie wäre es nun, wenn ich Dir eine runter haute, da hättest Du keine Zeugen 1" Momentan sah er zwar davon ab, handgreiflich zu werden, schloß den Mann aber etwa zehn Minuten ein und o h r- feigte ihn dann rechts und links, als dieser bei seiner Rückkehr angeblich nicht schnell genug Stellung nahm. Damit der Rekrut die Spuren der Mißhandlung nicht den Kameraden zeigen konnte, schloß er ihn dann nochmals auf längere Z e i t e i n. In zahlreichen anderen Fällen hat der Marsjünger die Leute geohrfeigt, mit dem Rohrstock und der Peitsche gezüchtigt, mit den Stiefeln ins Gesäß und auf die Füße getreten, gestoßen und ge- schlagen. Sch. wurde vor das Kriegsgericht in Chemnitz gestellt und wegen Mißhandlung und vorschriftswidriger Behandlung Unter- gebener, Mißbrauchs der Dienstgewalt, Freiheitsberaubung usw. zu 1 Jahr Gefängnis und Degradation verurteilt. Die zur Abur- teilung gelangten Fälle bildeten allerdings, wie auch das Gericht be- tonte, nur einen kleinen Teil der vom Angeklagten begangenen Soldatenmißhandlungen, da sich die Zeugen bei ihrer Häufigkeit meist.nicht mehr auf die Einzelheiten entsinnen konnten. Immerhin brachte die Verhandlung in Chemnitz noch eine weitere Reihe be- stimmter Fälle zur Sprache, so daß die Einleitung eines neuen Strafverfahrens notwendig wurde. Deshalb stand der Sergeant, der bereits seine Strafe im Festungsgefängnis zu Dresden verbüßt, abermals vor dem Kriegsgericht. Die diesmal zur Aburteilung ge- langenden Fälle lagen ähnlich wie die früheren. Das Gericht ver- urteilte den Angeklagten nunmehr zu insgesamt 1 Jahr 1 Monat Gefängnis und Degradation. _ Im Interesse der Disziplin! Stratzburg i. Elf., 12. Juni. (Eig. Ber.) Vor dem Kriegsgericht der 31. Division in Straßburg s. Elf. spielte sich soeben eine Verhandlung ab, die das in der deutschen Armee herrschende System der Erhaltung der Disziplin wieder ein- mal in das rechte Licht rückt. Man höre, um welches Delikt es sich handelt: Beim Turnen im Kasernenhof soll ein Gerät weggetragen werden, zu dessen Transport vier Mann, zwei vorn und zwei hinten, erforderlich sind. Ein Mann wird abberufen; der an dem einen Ende zckrückgebliebene Mann ist also allein und kann ohne Unter- stützung die Last nicht tragen. Er deutet das zuerst an, nach zwei- maligem Befehl seitens des Unteroffiziers erklärt er, die Arbeit allein nicht leisten zu können. Diese Szene sieht der dienstleitende Offizier, ruft d.en Soldaten zu sich und fragt ihn, wie er dazu käme, Widerred e zu führen. Darauf entgegnet der Gefragte, er habe zu seinen beiden Kameraden gesagt, eS müßten noch andere zufassen. Nun verbot ihm der Oberleutnant den Mund, da er nicht gefragt f?) sei. Der Soldat machte nun ganz mit Recht die Bemerkung, er habe keine Widerrede geführt. Dieser einfache Vorgang, in dem der gesunde Menschenverstand nie und nimmer ein strafrechtliches Moment sehen kann, brachte den Soldaten wegen Beharrens im Ungehorsam und Achtungsver- l e tz u n g vor das Gericht. Wenn also ein Mann eine Arbeit nicht leistet, weil er sie allein nicht leisten kann, so ist daS im Sinne der preutzisch-deutschen Militärjustiz ein Beharren im Ungehorsam; und wenn er eine Anschuldigung, die durch Schweigen als zugegeben angesehen werden würde, ausdrücklich von sich weist, so ist das— Achtungsverletzung! Die Achtung, die der Untergebene seinem Vor- gesetzten schuldig ist. besteht also darin, Anschuldigungen, die der Vorgesetzte ausspricht, zuzugeben, eben weil sie von einem Vor- gesetzten ausgesprochen werden. Fragen wir einmal im obigen Falle: was hätte eigentlich der Soldat tun sollen? Hätte er dem Oberleutnant keine Antwort gegeben, so wäre er auch bestraft worden. Aber derartige Erwägungen existieren für ein schneidiges deutsches Kriegsgericht nicht. Der Missetäter wurde zu der hör- renden Strafe von 7 Wochen Gefängnis verurteilt! Der Ankläger hatte die doppelte Strafe beantragt. „Im Interesse der Disziplin" mußte dieses Urteil gefällt werden. So werden sich die militärischen Richter beruhigen, wenn sie vielleicht noch ein wenig die Empfindung haben sollten, daß das Urteil dem allgemeinen Rechtsbewußtsein ins Gesicht schlägt. Die Disziplin muß ja erhalten bleiben, damit die Disziplinierten sich nicht scheuen, auf Vater und Mutter zu schießen! Aber auch diese Rechnung ist falsch!—_ Tie Justiz im Nationalitätenkampf. Die Gnesener Staats- anwaltschaft erhob sechs verschiedene BeleidigungS - anklagen gegen das Polenblatt„Lech", darunter eine wegen Majestätsbeleidißung und eine wegen Beleidigung pol- nischer Gutsbesitzer, die ihre Güter an Deutsche verkauft haben.— Nationalliberale Zerfahrenheit. Aus Frankfurt a. M. wird vom 15. Juni telegraphiert: Der Ausschutz der nationalliberalen Partei der Pfalz hat sich, wie die„Frf. Ztg." erfährt, gegen die Fahrkarten. steuer ausgesprochen und erklärt, daß er mit der Haltung der nationalliberalen Fraktion des preußischen Abgeordnetenhauses in der Schulgesetzfrage nicht einverstanden sein könne.— Die Opfer von GoabiS(Südwestafrika) werden jetzt durch die amtliche Verlustliste im einzelnen also nachgewiesen: Gefallen: Oberleutnant Waldemar Dannert, geboren am 17. 6. 76 zu Swine münde , früher im Füsilier-Regiment Nr. 34, Kopf- und Brustschuß. Leutnant Heinrich v. Abendroth. geboren am 27. 3. 83 zu HalberSdorf, früher im königlich sächsischen(Leib-) Grenadier- Regiment Nr. 100, Kopf- und Bauchschuß. Gefreiter Otto Ulrich, geboren am 29. 11. 83 zu Torgelow , früher im Pionier-Bataillon Nr. 2, Lrustschuß. Reiter Peter Brunner. geboren am 25. 3. 83 zu Brandau , srllher im 2. großherzoglich hessischen Dragoner-Re- giment Nr. 24, Brustschuß. Reiter Hermann Berndt, geboren am 27. 10. 85 zu Seifersdorf, früher im Feldartillerie- Re- giment Nr. 6. Kopfschuß. Gefreiter Otto Dietzel, früher im 5. lothringischen Jnfantene- Regiment Nr. 144. ge- boren am 18. 4. 83 zu Castrop , Herzschuß. Sergeant Paul Funke, geboren am 21. 5. 79 zu Mechau, srllher im Ulanen-Regiment Nr. 1, Beckenschuß. Reiter Hermann Dilz, geb. am 20. 8. 82 zu Alsleben , früher im Füfilier-Regiment Sit. öS. Bauchschuß. Streifschuß linleS Handgelenk . Reiter Franz Joswig. geboren am 1. 6. 83 zu Grün- blum, früher im Trambataillon Nr. 1, Kopfschuß. Schwer verwundet: Sergeant Paul Feller, geboren am 11. 9. 78 zu Fricdebach, früher im 1. königlich sächsischen Husaren- Regiment Nr. 13, Knochenschuß linken Oberarm. Unteroffizier Her- mann Luchterhand, geboren am 11. 10. 82 zu Ober-Hinrichshagen, früher im Ulanen-Regiment Nr. 9, Schuß unterhalb rechten Schlüssel- beins, Steinsplitter Gesicht. Leicht verwundet: Leutnant Herbert Parvel, geboren am 22. 6. 78 zu Erfurt , früher im Grenadier-Regiment Nr. 2, Stein- splitter linke Hand. Gefreiter Kurt Klappenbach, geb. am 29. 1. 83 zu Auerbach , früher im 1. königlich sächsischen Ulanen-Negiment Nr. 17, Steinsplitter linke Hand. Unteroffizier Rudolf Gehrmann, geboren am 25. 4. 82 zu Heilsberg, früher im Infanterieregiment Nr. 44, Ouerschuß Rücken. Reiter Paul Gädecke, geboren am 2t. 6. 30 zu Klein-Nofiau, früher im 5. Garderegiment zu Fuß, Streif- schuß rechte Hand. Reiter Jobannes Grothkopp, geboren am 3. 6. 82 zu Gettdorf, früher im Infanterieregiment Nr. 44, Geschoßsplitter linken Unterarm. Reiter Hans Schoer, geboren am 4. 11. 80 zu Hamburg , früher im Jnfanterie-Rcgiment Nr. 31. durch einen Brustschutz schwer ver- wandet und am 4. 6. 06 verstorben. Nähere Nachrichten über das Gefecht selbst fehlen noch.»» Hueland« Schweiz . Aus der Bundesversammlung. Letzte Wotfje ist die oberste Schweizerische Legislative zur ordent- lichen Juni-Seision zusammengetreten. Die Hauptpunkte der Tages- ordnung waren: Beratung des Geschäftsberichts des Bundesrates pro 1905 und Fortsetzung der Beratung über das schweizerische Zivilgesetzbuch. Der Nationalrat bietet in der gegenwärtigen Legislatur- Periode ein trostloses Bild. Seitdem durch den Gewaltstreich der vereinigten bürgerlichen Reaktion bei den Nationalratsivahlen vom letzten Herbst unsre Genossen Greulich, Studer und Brandt aus dem Rate eliminiert sind, wäre die Reaktion ganz unter sich, wenn nicht wenigstens Brüstlein und Heinrich Scherrer in der Körperschaft sätzen. Scherrer wird voraussichtlich noch im Verlauf dieser Session seine Motion betreffend EinigungSämter in Kollektivstreitigleiten zu be- gründen Gelegenheit haben, und dann wird es wohl eine grvtzere sozialpolitische Debatte geben. Der Chef des Eidgenössischen Finanzdepartements, Bundesrat Comtcsse, gab im Verlaufe der Beratung des Geschäftsberichtes im Nationalrate die Erklärung ab, datz die schweizerische Nationalbank mit dem 1. Januar 1907 ihre Tätigkeit beginnen könne. DaS ganze Emissionskapital im Betrage von 50 Millionen Frank ist gezeichnet. Es wird aber vorläufig nur die Hälfte des Grundkapitals, also 25 Millionen Frank, einbezahlt. Aus der Beratung des Geschäftsberichts im Nationalrat ist noch zu erwähnen, datz der Demokrat Dr. Hofmann bei der Besprechung über daS eidgenössische stattstische Bureau gewisse Reformen ver- langte, nameiitlidje eine schweizerische Statistik über die Lebens- mittelpreise— eine Forderung, die einem längst gefühlten Bedürfnis entspricht. AuS dem Bericht der schweizerischen Bundeshahnen war zu cnt« nehmen, datz das finanzielle Ergebnis pro 1905 um eine Million Frank günstiger ist als das von 1904. Aus dem S t ä n d e r a t ist nicht viel zu melden. Er erledigte vorerst den Geschäftsbericht und trat dann in die Weiterberatung des Zivilgesetzbuches ein. Während im Nationalrat der Schöpfer des Gesetzentwurfes, Nationalrat Huber, Professor der Rechte au der Universität Bern , referiert, ist im Ständerat der St. Galler liberal- konservative Hoffmann Berichterstatter. Letzterer gehört zwar der radikalen Fraktion an. ist aber konservativ bis in die Finger- spitzen hinein. Die Gesetzesberatungen im Ständerat sind im all- gemeinen viel ernster gehalten als im Nationalrat. Wenn hier z. B. beim Zivilgesetzbuch Professor Huber gesprochen hat, so hat der Papst seineu Spruch gefällt, und der Rat sagt meistens ohne weiteres Ja und Amen I Im Ständerat dagegen werden vielfach Ab- änderungSanträge eingebracht, und gar oft siegt hier die Kommissions- Minderheit. Aus den Verhandlungen des Ständerats in der letzten Woche ist zu erwähnen, datz dieser in Zustimmung zum Antrage des Bundesrats dem Fonds für die eidgenössische Kranken- und Unfall- Versicherung 3 Millionen Frank zugewiesen hat. Der Fonds steigt damit auf 15 Millionen. Bundesrat Deucher gab dabei die Er- klärung ab, er sowie die Bundesräte Forrer und Comtesse würden in der Lage sein, im September dieses Jahres dem Bundesrat den längst erwarteten neuen Entwurf über die Kranken- und Unfall- Versicherung vorzulegen. Merkwürdig ist, datz von Bundes wegen nichts zur Unter- stützung der Arbeitslosen getan wird! Da die Eidgenossenschaft ja den Kurs der Handelsvertragspolitik bestimmt, trägt sie doch die Verantwortung für die industriellen Krisen, wie sie ja auch die Zoll- einnahmen einstreicht, die aus dem Wucherzolltarif hervorgehen. Es ist deshalb geradezu eine Ungeheuerlichkeit, datz der Bund nichts für die Opfer seiner eigenen Wirtschaftspolitik tut. Hoffentlich wird einer der beiden sozialdemokratischen Nationalräte die wichtige Frage bald wieder einmal zur Sprache bringen. Sonst vermodern und vergilben die betreffenden Aktenstücke in den Mappen der Departementökanzlei des Jndustrieressorts.— Frankreich . Dreifus-Prozeß. Paris , 15. Juni. (W. T. B.) Der Kassationshof beschäftigte sich heute in geheimer Sitzung, die um Mittag eröffnet wurde, mit der Dreyfus-Angelegenheit. Den Vorsitz führte der erste Präsident des Kassationshofes, Senator Ballot Beaupre . Generalstaats- anwalt Baudouin und Dreyfus' Verteidiger Menard wohnten der geheimen Sitzung bei. Dieselbe war der Prüfung des von dem Major Targes im Auftrag des Kriegsministers vorgelegten geheimen militärischen Dossiers gewidmet und wurde um 2 Uhr geschlossen. In der morgigen Sitzung soll die Prüfung des diplomatischen Dossiers erfolgen, das von einem Vertreter dcS Ministers des Innern vorgelegt werden wird.— Die Regierungserklärung. Paris , 13. Juni. Die programmatische Erklärung, die Sarrien gestern anlätzlich des eigentlichen Beginnes der Kammerverhandlungen verlesen hat, bringt das Wesen des jetzigen Ministeriums getreu zum Ausdruck. Sie streift so ziemlich alle Probleme, nimmt aber zu keinem eine klare und entschiedene Stellung. In den Halb- und Viertelreformen, die sie ankündigt, spiegelt sich der Gegensatz zwischen den radikalen und den ge- mähigten Mitgliedern des Kabinetts, aber auch die Schwächlichkeit des bürgerlichen Radikalismus selbst, der halb gezogen wird, halb hinsinkt. Der eintönige und temperamentlose Aufsatz wurde vom Hause mit der verdienten Kälte entgegengenommen und'fand— von einigen auf den Sieg der Republikaner bezüglichen Wendungen ab- gesehen— nur bei den jetzt im Zentrum sitzenden gemäßigten Radikalen einigen Beifall. An einer Stelle' machte sich die Eni- täuschung und Unzufriedenheit in impulsiver Weise. Luft: Als der Ministerpräsident zur Frage der Kriegsgerichte kam und das Wort„R e f o r m" aussprach, erhob sich von allen Seiten der stürmische Ruf:„Nein! nein! Aufhebung!" Die folgende Debatte über die allgemeine Politik wurde mit einer ziemlich verlegenen Rede von Gerankt Richard ein- geleitet, der der Majorität eine väterliches:„Seid einig!" zurief, das deutlich eine Spitze gegen Pelletan und feine radikal- sozialistische Gruppe hatte. Der„parlamentarische" Sozialist Zeves bemühte sich zu beweisen, daß auch seine Parteigenossen daS sozialistische Endziel anstreben. Interessant wurde die Debatte erst, als die geeinigten Sozialisten zu Mite lamm. Genosse Eoostans zeigte den Widerspruch zwischen den demokratischen Redensarten un» ttt Praxis der gegenwärtigen Regierung an der Hand der Ereignisse in seinem Wahlkreise Montlueon auf, wo die Soldateska und die Justiz während der Maibewegung ohne jede Scham in den Dienst des Unternehmertums gestellt waren. Auf Constans folgte I a u r e s mit einem scharfen Angriff gegen Clemenceau , den Urheber der schmählichen Unterdrückungsmaßregcln wider die streikenden Bergarbeiter im Norden und den Urheber der un- würdigen Komplottkomödie. In ihrem zweiten Teile erhob sich Jaures ' Rede zu einer schwungvollen Darlegung der sozialistischen Ziele und der voraussichtlichen Art ihrer Verwirklichung. Jaures , der besonders von der Rechten ohne Unterlaß unterbrochen wurde, mutzte seine Rede erschöpft abbrechen. Wir werden nach ihrem Abschluß noch auf sie zurücklommen. Der Inhalt der Regierungserklärung ist im wesentlichen schon früher bekanntgegeben worden: Sie kündigt die allgemeine Amnestie an und verspricht in unbestimmten Ausdrücken Ver- waltungsreformen. In dem Absätze, der sich auf die äußere Politik bezieht, wird flüchtig von der„Befestigung der Allianz und der Freundschaften" gesprochen. Die Stelle über die Abrüstung ist so stilisiert, wie es am Beginn einer Session am Platze ist, für die der Marineminister eine ungeheuere Forderung vorbereitet, die der Bevölkerung durch ein fortwährendes Gerede über Er- sparungsabsichten schmackhafter gemacht werden soll. Es heißt da zum Beispiel: Frankreich wünsche, daß der Fortschritt der öffentlichen Meinung in Europa es möglich mache, an die Ein- schränkung der Rüstungen zu denken. Unter den fiskalischen Reformen steht die Einkommen- steuer an erster Stelle. Aber wie der betreffende Regierungs- entwurf aussehen wird, darüber gibt die Andeutung Klarheit: datz die Steuer„nicht inquisitorisch" sein und daß sie das Eigentum und die individuelle Freiheit nicht verletzen werde. Das heißt, daß die Kapitalisten das Siecht der Steuerhinterziehung be- halten sollen. Die Steuer wird offenbar nicht progressiv sein, es wird nur ganz allgemein versprochen, daß die großen und die kleinen Einkommen nicht mit der gleichen Abgabe belegt werden sollen. Auch soll— wie wir schon mitteilten— zwischen Ein- kommen, die aus Kapitalien, und solchen, die aus Arbeit stammen, ein Unterschied gemacht werden. Von den angekündigten sozialen Reformen ist einzig das Versprechen bemerkenswert: die Gewinnbeteiligung der Arbeiter als Bedingung für künftige Berg- Werkskonzessionen gesetzlich festzulegen. Von der Ver- kürzung der Arbeitszeit wird nur im allgemeinen versichert, daß trotz der Rücksicht auf die ausländische Konkurrenz die Möglichkeit gegeben sei, den„Forderungen einer arbeitsamen Demokratie" Rechnung zu tragen. Die Gcwcrkschaftsrechte sollen erweitert und das Recht der gewerkschaftlichen Vereinigung auf bisher aus- geschlossene Kategorien von Arbeitern ausgedehnt werden; dagegen wird den Beamten daS Streikrecht ausdrücklich verweigert. Von praktischer Bedeutung für die Arbeiterschaft— wenn auch nicht eine sozialpolitische Reform— ist die Zusage, das ganze Gebiet des Arbeitskontraktes endlich einer gesetzlichen Regelung zu unter» ziehen.—_ Paris , 15. Juni. (B. H. ) Ein neues Gelbbuch über Marokko wird der Kammer demnächst unterbreitet werden.— Zwei Gesetzentwürfe. Paris , 15. Juni. (W. T. B.) Der Deputierte Abbe Leinire brachte einen Gesetzentwurf ein, betreffend Aufnahme einer Anleihe von 500 Millionen Frank, welche dazu dienen soll, allen bedürftigen Familien, welche keinerlei Besitz haben, ein Stückchen Land zu geben. Der Deputierte Eoutant brachte einen Gesetzentwurf ein, durch welchen den Arbeitgebern untersagt werden soll, ausländischen Ar- beitern einen niedrigeren Lohn zu geben als den einheimischen.— Italien . „Menschenfreundliche Ideen",„edle Wünsche" und„hochherzige Anregungen". Auf eine Anftage Brunialtis in der Donnerstag-Sitzung der Deputiertenkammer: Welche Instruktionen die italienischen Dclc- gierten zur zweiten Haager Konferenz bezüglich des Beschlusses des englischen Unterhauses betreffend die Verringerung der Aus- gaben für Rüstungen erhalten würden, erklärte Minister des Aeußcren Tittoni , er freue sich, aussprechen zu können, daß die damaligen Ausführungen des Staatssekretärs Sir Edward Grey seine lebhafte Sympathie gefunden hätten und daß er bereits un- mittelbar nach Anhören derselben in seiner Eigenschaft als Bot» schafter die Aufmerksamkeit der italienischen Regierung auf die- selben gelenkt habe.— Ebenso spreche er heute als Minister öffent- lich die Zustimmung der Regierung zu diesen menschenfrcundliche« Ideen aus. Er sei stets der Ansicht gewesen, daß es für Italien eine Tollheit, ein Verbrechen gegen das Vaterland sein würde, wenn es allein seine Rüstungen vermindern würde, wahrend es sich in- mitten eines gewaltig bewaffneten Europas befinde, welches die Vervollkommnung der Rüstungen als Mittel zur Erhaltung deS Friedens betrachte.... Trotzdem glaube er, daß es ebenso eine Tollheit und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein würde, wenn man sich nicht in aufrichtiger Weise den Anregungen anschließen würde, die eine gemeinsame Verminderung der Rüstungen der Groß- mächte bezweckten oder auf jede Weise die Gefahr der Schrecken dcS Krieges fernhielten und die unschätzbaren Wohltaten des Friedens sicherstellten. Die italienische Politik sei stets ans Erhaltung des Friedens gerichtet gewesen, er sei daher glücklich, erklären zu können, daß die Vertreter Italiens auf der Haager Konferenz den Auftrag erhalten würden, die Anregung Englands zu unterstützen. Er möchte wünschen, daß der Plan einer allgemeinen Abrüstung sofortige praktische Anwendung finden möge. Doch fürchte man vielfach, daß dieser Plan noch einige Zeit ein edler Wunsch bleiben werde aus Mangel einer konkreten Formel, die jedermann sichere Gewähr dafür biete, daß er nicht allein abrüste..... .... Graf Goluchowski habe in seinem Expose bei Besprechung der ausgezeichneten Beziehungen zwischen Oesterreich-Ungarn und Italien erklärt, die loyale Haltung beider Regierungen habe die Versuche unverantwortlicher Stellen, ihr gutes Einvernehmen zu stören, zum Scheitern gebracht. Dieser Ausspruch scheine ihm sehr glücklich zu sein, denn er glaube, daß in allen Länoern die Unver- antwortlichen eine fortwährende Gefahr für den Frieden darstellten, sei es, indem sie in der Presse kleine Meinungsverschiedenheiten aufbauschen und verschärfen, sei es, indem sie in der öffentlichen Meinung unedle und unüberlegte Erregungen hervorrufen. Die Regierung müsse in ihren Beziehungen zum Auslande die von der Mehrheit des Parlaments und des Landes gewollte Politik be- folgen und könne nicht dulden, daß unverantwortliche Personen dieselbe stören oder bloßstellen. So lange feste Abkommen auf hj» Grundlage der hochherzigen Anregung Englands nicht möglich seien, werde dies seiner Meinung nach das beste Mittel sein, zur Auf- rechterhaltung des europäischen Friedens beizutragen.— Ende der„Gefangenschaft"? Rom , 15. Juni. (B. H. ) Der„Avanti" kommt auf feine Information zurück, wonach der Papst nach Castek San Gandolfo übersiedeln wird, und erklärt, der Papst vorlasse im Einverständnis mit der italienischen Regierung de» Vatikan. — Er werde nach seiner Ankunft in Gandolfo eine Enzyklika veröffentlichen, in der er die Gründe seiner Uebersiedclung angeben wird.— Spanien . Zwei merkwürdige Nachrichten. Barcelona , 15. Juni. (B. H. ) Hier wurden mehrerei Anarchisten verhaftet, weil sie einen Artikel veröffentlicht hatten, worin sie die Haltung des Chefredakteurs Rakens billigten.— Madrid» 15. Juni. (83. H.) Die in der Attentatsangelegenheit Verhafteten werden vpr ein Militärgericht gestellt,■»
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten