Durch dieses Rundschreiben ist aufgeklärt, wie es kam,daß es auch in Fällen absoluter Schuldlosigkeit und bei aus-gezeichnetsten Verbindungen unmöglich war. Begnadigungenzu erlangen. Der Zar hat sich ja des Rechtes und der Pflichtbegeben, selbst die furchtbarsten Ungeheuerlichkeiten der Feld-kriegsgerichte zu korrigieren.Diese Justizmorde werden sich an ihm und seinenKreaturen noch einmal rächen!Taschen zu!Der„Nuss. Kurier" schreibt:I» den russische» Finanzkreise» kursiert boS Gerücht, daß dertussische Finanzminister Kokoffzew seinen Posten verlassen unddann, von dem Zaren mit einer besonderen Mission betraut, sofortdie geeigneten Schritte zur Realisierung einer größeren Anleihe ein-leiten wird.'Die„Schwarze Bande" bei der Reinwaschung der Mördervon Sirdlce.Die russische Korrespondenz stellt uns die nachstehenden Aus-fuhrungen der„Nuskoje Snamia", des Organs der schwarzen Bandezur Verfügung:„Wage nur die Negierung abzuleugnen, daß die Judcn�und dieRevolutionäre dieser Tage aus dem Auslande kolosialc Summenfür revolutionäre Zwecke erhalten haben. Das kann die Regierungnicht, denn das Geld ist zugeschickt worden und angekommen. Wirwissen das und haben Beweise dafür; und sollte der Fall eintreten,daß die Forderungen von Sliosberg und Günzburg erfüllt wendenund die Siedlecer Juden vom Feldgericht befreit werden, dann wirddie beleidigte russische Armee das Recht haben, zu glauben, daßrevolutionäre Gelder nicht nur für Propaganda unter russischenMatrosen, sondern auch zur Bestechung von höherenBeamten Rustlands verwendet werden. Es wird ein jeder imRecht sein zu sagen, daß die Juden die Vertreterder Regie-rung bestochen haben. So bedenket denn, ihr HerrenMinister, in welche Lage Ihr schließlich geratet, wenn Ihr statt mitden frechen Juden Sliosberg und Günzburg. mit dem beleidigtenrussischen Offizierkorps zu tun haben werdet."Der Zweck dieser Ausführung ist vollständig klar. Da es akten-mäßig feststeht, daß in Siedlce Revolutionäre nicht vorhanden gc-Wesen sind, und da somit der Pogrom sich ganz gnverhüllt als einebarbarische Menschenschlächterei erweist, muß etwas geschehen, umdie schuldigen Offiziere zu rechtfertigen. Der Weg, den dieschwarze Bande eingeschlagen, ist der, daß die Verhafteten vonSiedler, die tatsächlich unschuldig sinch durch die Feldkriegsgerichtcals schuldig verurteilt werden sollen. Dann ist der Beweis geliefert.daß die Offiziere in Siedlce so handeln mutzten, wie sie gehandelthaben. Deshalb droht die schwarze Bande den Ministern mit demZorn der russischen Armee, und sucht die Minister als Bestocheneder Juden hinzustellen. Ausfühungen dieser Art sind trotz derZensur gestattet. Die Zensur existiert nur noch für die liberalenBlätter, nachdem alle weiter links stehenden Blätter bereits unter-drückt sind.Die Stimmung auf dem Laude.Aus dem Bezirke Gdow des Gouvernements Petersburgwird der Petersburger Zeitung„Towarischtj" geschrieben:„Je mehr der Spätherbst herannaht, desto nervöser wirddie Spannung der Bauern. Die Entrichtung der Steuern warauch früher ziemlich schwach; in der letzten Zeit werden sieaber vollkommen verweigert. Die durch die schlechten Agrar-Verhältnisse hervorgerufene Gärung ist besonders dort intensiv,wo sich Apanagenland befindet. Es empörte die Bauern,als sie in Erfahrung brachten, daß die Apanagenkeine Steuern zu leisten verpflichtet sind und dabeigroße Preise für Heu, Bau- und Brennholz von denBauern forderten. Infolgedessen herrscht zwischen denBauern und den Angestellten der Apanagen ein gespanntesVerhältnis. Vorläufig hat der Kampf einen ökonomischenCharatter. Etwa vor einen, Jahre war es den Bauern ge-lungen, die damals auf den Apanagengütern geltenden Holz-preise um das Dreifache zu reduzieren. Damals gab dieApanagen-Verwaltung leicht nach, und die begonnene Gärungtvurde lahmgelegt. Jetzt ist die Spannung wieder da. DieBauern schrecken sogar vor Tätlichkeiten nicht zurück— einemAngestellten wurden die Fensterscheiben eingeworfen, demanderen eine Heuscheune niedergebrannt.... Man be-obachtet in allen Dörfern eine ganz besondere Er-regung. Während der letzten zwei Jahre haben sichStimmung und Ansichten der Bauern stark ver-ändert. Das Liedersingen und Witzemachen der Dorf-jugend ist dahin. Die Jungen wie die Alten denken energischüber ihre Lage nach. Gespräche über politische Angelegen-heiten sind eine alltägliche Erscheinung und zwar nicht nurauf den sogenannten Abendgesellschaften, sondern auch auf denWolostjversammlungen.Die provinzielle Zeitung„Sewero-SaPadny-kraj" meldet,daß in den Dörfern des Bezirkes Bialystock eine tiefe Gärungvor sich gehe. Die Bauern verüben Ueberfälle auf dieSchnapsbuden und nehmen AbHolzungen privater Forsten vor.AuS dem Gouvernement Jaroslawl wird geschrieben, daßin den Bezirken Myschkin, Mologa und Uglitfch eine weit an-gelegte Agitation der extremen Parteien eingesetzt habe. Inmehreren Dorfgemeinden weigern sich die Bauern, Steuernzu entrichten. Die Semstwo-Kassen sind leer. Besondersrevolutionär gestimmt sind die Bauern des Bezirkes Mologa.Die Lage dort ist so ernst, daß alle Semsky Natschalniki(Landeshauptleute) den Dienst aufgeben. Ein Stellvertretereines solchen Semsky Natschalnik wurde durch Drohbriefe undbeunruhigende Nachrichten aller Art geisteskrank und mußteins Krankenhaus abgeführt werden. Verhaftungen und Haus-suchungen dauern fort.Aus den, Bezirke Simferopol kommen Nachrichten voneiner starken Gärung der Wolostj Saraimin. Man befürchtet,daß während der Rekrutenaushebung ernste Ereignisse sich ab-spielen könnten. Eine Revision der Reservisten, die in diesenTagen vorgenommen werden sollte, ist plötzlich verschoben.Man stellt das in Zusammenhang mit der Gärung unter denBauern.Im Gouvernement Smolensk kam es zu ernsten Aus-schreitungen. Es gibt Verwundete. Die Bauern sind gegendie Landwächter sehr ausgebracht."Aus Lodz.Lodz, 10. Oktober. Gestern wurde das Gefängnisgebäude inder Dlugastraße vom Militär stark bewacht und es wurden alleangrenzenden Straßen abgesperrt. Die Maßnahme regte die Be-völkerung sehr auf und allerlei unmögliche Gerüchte wurden sofortin Umlauf gesetzt. In Wirklichkeit fand im Gefängnis eine geheimeFeldgerichtssitzung statt. Um 7 Uhr war das Stadtviertel vonPastanten geräumt und vier Kompagnien Infanterie hielten vordem Gefängnis Posta. Inzwischen wuchs die Aufregung derEinwohner. Schon um 4 Uhr nachmittags legten die Arbeitersämtlicher Fabriken die Arbeit nieder. Heute in aller Frühewurden fünf Mann standrechtlich erschaffen. Die Verurteilten wurdenunter starkem Militärschutz nach außerhalb der Stadt gebracht. Dortangelangt, kamen sie an eine kleine Wiese, wo bereits fünf Grubenausgegraben standen. Punkt 5 Uhr 4S morgens tönte das Kam-mando und sofort knallten die Gewehrschüsse. Als der Arzt denTod festgestellt hatte, legte man die Leichen in die Graben, über-schüttete"sie mit Sand und ebnete dann die Erde ganz glatt. Werdie Erschossenen find, ist unbekannt. Sie stammen nicht aus Lodzund wurden vorgestern dorthin per Bahn gebracht. SämtlicheFabriken stehen außer Betrieb, da die Arbeiter streiken. Der Straßen-bahnverkehr ist eingestellt. Das Gefängnis bleibt stark bewacht; dasFeldgericht tagt dort weiter.(Franks. Ztg.)Lodz, 12. Oktober. Die Behörden haben den hier herrschendenanarchischen Zusiänden nicht zu steuern verstanden. Der Streikdauert fort. Keine Zeitungen erscheinen.'Die Terroristen jagtenalle Fleischer ans dem Schlachthause, es herrscht daher Fleisch-Mangel. Viele Einwohner Verlasien die Stadt. Ein Schutzmannwurde durch drei Unbekannte erschossen. Als der Oberst desWladimirschen Infanterieregiments Obrutfchew Dzielna die Straßepassierte, wurden vier Rcvolverschüsfe durch Unbekannte auf ihn ab-gefeuert. Das Attentat mißlang jedoch. Der Kriegsbezirk-Zchef hatden Befehl des Bezirksgouverneurs von Petrikau veröffentlicht, dem-zufolge alle Industriellen, die ihren Arbeitern während des jetzigenStreiks Lohn bezahlen, 8000 Rubel bezahlen müssen oder mit dreiMonaten Gefängnis bestraft werden. Derselbe Befehl erging an dieKaufmannschaft.Warschau, 13. Oktober.(„Voss. Ztg.") Zu Lodz ist derAus st and zum Teil beendet.Bombenfunde.Tiflis» 12. Oktober. Bei Durchsuchungen in zwei armenischenKirchen in Schuscha wurden im Altarraume 29 geladene Bomben.Gewehre, Patronen, Dolche und Säcke mit in Petroleum getränktenHobelspänen gefunden, die dazu bestimmt waren, die Kirche inBrand zu setzen. In einer anderen Kirche fand man 17 geladeneBomben. Drei Priester sowie mehrere Angestellte der Kirchen wurdenverhaftet.poUrtlche Ucberfuht.Berlin, den 13. Oktober.Grenzsperre und Fleischteuerung.Die„Köln. Volksztg." scheint bei ihrer Erörterung derFleischteuerung nach dem Wahlspruch„8uum cuique" zu verfahren. Nachdem sie in letzter Zeit zur Beschwichtigung ihrerLeserschaft in den Kreisen der Gewerbetreibenden undindustriellen Arbeiter für eine Oeffnung der Grenzen unterEinführung der nötigen Sicherheitsmaßnahmen plädiert hat,bringt sie zur Abwechslung in ihrer Mittagsausgave vom12. d. M. wieder einen für die Herren Landwirte bestimmtenArtikel, der beweisen soll, daß die Grenzöffnung eigentlich garkeinen Zweck hat.Der Ruf nach einer ganzen oder teilweisen Oeffnung derGrenzen ist nun das einfachste und bequemste Mittel, um einenSündenbock für die Teuerung zu haben. Zu einem sehr großen Teilaber handelt es sich lediglich um ein in der Politik geprägtesSchlagwort; die Volkswirtschaft selbst rechtfertigt dieses nicht.Einmal ist die Grenze nicht gegen die Einfuhr von fremdem Viehgesperrt und sodann ist das Ausland selbst nicht in der Lage, unserheblich mehr Vieh abzugeben; es ist bereits an der Grenze derLeistungsfähigkeit angelangt. Eine weite Oeffnung der Grenzenim allgemeinen bringt die Gefahr der Verseuchung des wertvollendeutschen Viehbestandes mit sich. Millionen sind dann verlorenund aus der Fleischteuerung entsteht eine Fleischnot.In weiten Kreisen ist man der Ansicht, daß unsere Grenzegegen jede Vieheinfuhr gesperrt sei; was aber total unrichtig ist.Die Statistik gibt über den Wert der Viehemsuhr nach Deutschlandfolgendes Bild:1902 1903 1904 190S�Jungvieh 21.6 Mill.M. 2S.7Mill.M. 24,4Mill.M. 31.9Mlll.M.* Kühe.. 39,2„„ 41,5„„ 34,6„ 42,1„„Ochsen..34„„ 46,7„„ 50„„ 43,2„„Schweine 8,4„„ 8,3„„ 7.2„„ 8,4.,„Dabei ist noch zu beachten, baß wir eine nicht unerheblicheAusfuhr von Schafen aufzuweisen haben. Die Vieheinfuhr istnun durch die neuen Handelsverträge nicht beschränkt worden;lediglich das Viehseuchenabkommen mit Oesterreich-Ungarn gibtnur die Möglichkeit der Präventivsperre statt der bisherigen Sperrenach nachgewiesener Einschleppung der Seuche. Wie hat sich nundie Vieheinfuhr unter der Herrschaft des neuen Zolltarifes ge-staltet? Es liegen eben jetzt die neuesten monatlichen Nachweisevom August vor, die einen Rückblick über daS Halbjahr März-Angust 1906, also das erste Halbstjahr der neuen Handelsverträge,geben. Danach stellt sich in diesen, Zeitraum die Vieheinfuhr inStückzahl und Schätzungswert folgendermaßen dar:Jungvieh 36 424 Stück im Werte von 12,6 Mill. M.Kühe... 31 430„„„„ 18,12.,„Ochsen.. 30 618„„„„ 17,75„„Schweine. 46 465„„„„ 5,67„„Es ist nun zu beachten, daß wir im ersten Halbjahre 1906gegenüber dem Borjahre eine kleine Ermäßigung der Fleischpreiseverzeichnen konnten; jetzt erst setzt wieder eine Steigerung ein.Aber trotzdem ist die Vieheinfuhr unter der Herrschaft des neuenZolltarifes nicht unter dem Durchschnitt der Einfuhr der viervorhergehenden Jahre geblieben, sondern hält sich ganz genauan diewn.Weshalb liefert uns aber das Ausland nicht mehr Vieh,wenn die Preise bei uns so hoch sind? Weil es nichts mehrabzugeben hat; es steht an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit,wie sich namentlich sehr deutlich aus der Einfuhr vonSchweinen ergibt. Rußland hatte unter der Herrschaftder alten Handelsverträge das Recht, jährlich 70 720 StückSchweine nach Deutschland einzuführen. Es nützte dieses Kon-tingent auch stets voll anS und führte von 1902 bis 1905 jährlichSchweine im Werte von 8.4 Millionen, 8,3 Millionen. 7,2 Mill.und 8,4 Mill. Mark Schweine ein. Seit 1. März 1906 aber hatRußland das Recht, jährlich 130 000 Stück Schweine über die Grenzezu führen. In der Zeit vom 1. März bis 31. August aber hat esnur 44 672 Stück eingeführt; in diesen sechs Monaten hätte esjedoch 65000 Stück einführen dürfen. Weshalb hat es seinKontingent nur zu zwei Drittel ausgenützt? Weil es keineSchweine abgeben konnte. Der Handel würde sich diesesrentable Geschäft nicht entgehen lassen. Ein ganz ähnliches Bildzeigt sich in Oesterreich; dieses hatte früher gar kein Schweine-kontingent. Seit 1. März 1906 aber hat es das Rechtder jährlichen Einfuhr von 80 600 Stück Schweinen. Es war jedochnicht in der Lage, dieieS Recht voll auszunutzen. Vom 1. Märzbis 31. August 1906 führte es nur 1524 Stück ein. während es40 000 Stück hätte einführen dürfen I Also auch hier keine Aus-füllung der Einfuhr, und doch ist der Viehhandel mit Oesterreichsehr gut organisiert I Das Nachbarland hat eben kein überflüssigesVieh. Was kann uns also da eine Oeffimng der Grenzen nützen?Gar nichts; wohl aber viel schaden IDie von der„Köln. Volksztg." erwähnten Ziffern sindzwar an und für sich richtig; nur beweisen sie nicht, wasdurch sie bewiesen werden soll. Gerade aus jenen Ländern,die vornehmlich in der Lage wären, uns mit dem fehlendenSchlachtvieh zu versorgen, ist nämlich die Einfuhr verboten.Rinder dürfen z. B. weder aus Holland noch aus Rußlandeingeführt werden, und die Einfuhr aus Dänemark darf nurüber bestimmte Häfen unter Einhaltung lästiger, die Spesenenorm erhöhender Ouarantänevorschriften geschehen, währendSchweine lediglich aus Oesterreich und aus Rußlandeingeführt werden dürfen. und zwar aus Ruß-land nur in Oberschlesien, nicht in andere deutscheLandesteile. Der Import aus Rußland aber wird zurzeitdurch die rcvolittionäre Gärung gehindert, während inOesterreich die Schivcinepreise infolge ungünstiger Futtermittel-ernten beträchtlich gestiegen sind. Dennoch würde sicherlichdie Einfuhr ven dort einen viel höheren Stand erreichthaben, wenn nicht mit dem 1. März die Viehzölle um einMehrfaches erhöht worden wären.Daß nun hierin der Grund zu suchen ist, beweist die Tat-fache, daß die nicht in gleichem Maße beschränkte Fleischein-'fuhr zugenommen hat. Es wurden nämlich eingeführt:Rindfleisch:1902: 1903: 1904: 1903:17 000 Tonnen 15 000 Tonnen 17 300 Tonnen 26 900 Tonne»i. W. v. i. W. v. i. W. v. i. W. v.13 Mill. M. 14,4 Mill. M. 16,4 Mill. M. 23.1 Mill. M.Schweinefleisch:1902: 1903: 1904: 1905:38 300 Tonnen 13300 Tonnen 10 600 Tonnen 27 000 Tonneni. W. v. i. W. v. i. W. v. i. W. v.40,7 Mill. M. 16,3 Mill. M. 10,1 Mill. M. 27.5 Mill. M.Seitdem ist die Fleischeinfuhr noch gestiegen, obgleich feitdem 1. März d. I. der Vertragszollsatz auf 27 Pf., der all-gemeine Zollsatz auf 45 Pf. pro Kilogramm erhöht wordenist. Die Einfuhr von Rindfleisch stellte sich z. B. im erstenHalbjahr 1906 bereits auf 13 600 Tonnen, die Einfuhr vonSchweinefleisch(mit Einschluß von Schinken) aus 31000Tonnen.Erbauliche Scharfmacherreden.H a l l e a. S.. 12. Oktober.Wegen Verletzung des Urheberrechtes war heute der GenosieMolkenbuhr, Redakteur des„V o l k s b l a t t s", von der Straf--kammer angeklagt, weil er den wesentlichen Inhalt einer Redeohne Genehmigung des Autors nachgedruckt haben sollte. Am Abenddes 19. Mai hatte der Maurermeister Lummert aus Hamburg.Vorsitzender des dortigen Unternehmervcrbandes, hier vor etwa60 bis 70 Arbeitgebern in den Kaisersälen eine Rede gehalten, inder er u. a. für eine kraftvoll einsetzende General-aussperrung der Bauarbeiter einttat. Redner mußte aberdas Zugeständnis machen, daß sich die Heranziehung auswärtigerArbetter bei Streiks nicht empfehle. Denn Ausländer(Italiener usw.)wären meistens schlechte Arbeiter, die viel verdürben und wenig leisteten.Ein Auszug jener Rede, die nicht flir die Oeffentlichkeit bestimmtwar. erschien unter der Spitzmarke:„Niedriger hängen; ausdem Hexenkessel des Unternehmerverbandes für das Baugewerbe"im„Volksblatt". Herr Lummert und der Geschäftsführer deshiesigen Verbandes, dem das aufgenommene Protokoll auf derStraße verloren gegangen, nachher aber von unbekannter Seitewieder zugestellt worden war, stellten Strafantrag wegen unerlaubten Nachdrucks. Redakteur Molkenbuhr erklärte, seinen Ge-währsmann, der ihm das Material zu dem Referat zu-gestellt habe, nicht nennen zu können. Den Abdruck desAuszuges der Rede habe er im Interesse der Arbeiterbewegungfür notwendig gehalten. Staatsanwalt Schlutter meinte.daß es sich im vorliegenden Falle um eine ganz geheimeSache gehandelt habe. Die sozialdemokrattsche Partei habe inBeziehung auf Veröffentlichung von geheimen Sachen ein sehrweitesGewissen. Die Strafabmessung liege deshalb mehr aufdem rein moralischen Gebiete und es sei eine Geldstrafe von1000 M. zu beantragen. Der Verteidiger RechtsanwallDr. Landsberg- Magdeburg entgegnete, der Staatsanwalt habegar keinen Anlaß, im vorliegenden Falle die Moral so sehr zu be-tonen; auch die Unternehmer veröffentlichten geheime Dinge überdie Gewerkschaften der Arbeiter, wenn sie ihre Positton dadurchstärken könnten. Jede Partei bringe geheime Sachen ans Tages-licht. Der Angeklagte sei freizusprechen. DaS Gericht stellte sichaber auf den Standpunkt des Staatsanwalts und verhängte eineGeldsttafe von 600 M.Der Gerichtssaal wird für manche Staatsanwälte und Richterimmer mehr zu einer Arena, auf der sie gegen die Sozialdemokratteunrichtige Vorwürfe zu erheben sich berechtigt fühlen, nachdem derpreußische Justizminister ein scharfes Borgehen gegen die Sozial-demokraten empfohlen hat. Man wird es der Staatsanwaltschaftnachfühlen können, weshalb sie sich zum Kampf gegen die Sozial-demolratie ein Kampffeld wählt, wo die von ihr ungerecht undbeweislos angegriffene und verdächttgte Partei durch das Gesetzbehindert ist sich zu verteidigen. Auch dem Hallenser Staats-anwalt wird der Grundsatz«Vorsicht ist der bessere Teilder Tapferkeit" für sein Privatleben— und dazu sollte seinepolittsche Betätigung gehören— nicht passen. Wie wäre es.wenn er in einer sozialdemokratischen Versammlung, in der ihmvolle Redefteiheit sicher ist, seine Anschauungen über Moral zurDiskusston stellt? Im Gerichtssaal, so meinte einmal einbiederer Oberttibunalsrat, sollte der Richter sich vor seinen, demAngeklagten entgegenstehenden politischen Anschauungen hüten, umunparteiisch sein oder zum mindesten scheinen zu können. Uns solles recht sein, wenn durch solche Art des Aufttetens von Staats-anwälten in immer mehr Kreise die Ueberzeugung dringt: dieheutige Rechtsprechung kann die Aufgabe, Richterin überHandlungen zu sein, um so weniger erfüllen, als sie zurRächerin der polittschen Ueberzeugung des Angeklagten auf-gerufen wird.Die Anklagesache hat auch, abgesehen von den pikanten Tragi-komödien, mit denen der Vertreter der Anklage sie würzen zumüssen meinte, ein öffentliches Interesse nach anderer Richtung hin.Genosse Molkenbuhr ist wegen vermeintlicher Verletzung des Urheber-rechts verurteilt. Diese Verurteilung ist mit dem Gesetz nicht ver-einbar. Wenn sie es wäre, so wäre eine schleunige Aende-rung des Urheberrechtsgesetzes dringend er-forderlich. Nach dem Gesetz über das Urheberrecht sind Redennur dann geschützt, wenn sie„dem Zwecke der Erbauung,der Belehrung oder der Unterhaltung" dienen. Die Scharstnacher.rede gehört hierher nicht. Seine Rede ist eine solche,die„bei einer Verhandlung politischer und ähnlicher Versammlungen gehalten" wurde. Solche Reden sind nach§ 7ck des Ge-setzeS vom 11. Juni 1870 ausdrücklich dem Urheberrecht ent-zogen. Das Urheberrechtsgesetz von» 19. Juni 1901 hielt eS fürselbstverständlich, daß nach der neuen allgemeinen Fassung derartigeReden vor Nachdruck nicht geschützt sind.Wird das Reichsgericht das ungerechte Urteil aufheben?—Deutfcbcs ReicheTöbeln-Rosiwcin.Döbeln, 12. Oktober.Die Nachwahl im 10. sächsischen Reichstagswahlkreise Döbeln-Roßwein findet am Montag, den 22. Oktober, statt. Unsere Partei-genossen haben sofort den Wahlkampf mit der gebotenen Energieaufgenommen, nachdem die Kandidatenfrage durch die Aufstellungdes Genossen Karl Pinkau- Leipzig eine rasche Erledigung ge-funden hatte. Genosse Pinkau begann mit einer Versammlungs-agition, die ihn im Verlaufe der Wochen in alle Teile des räumlichausgedehnten Kreises führte. Wenn Versammlungen die Stim-mung der Wähler richtig wiederspiegeln, hat sich unser Kandidatrasch große Sympathie zu erringen verstanden. Neben Pinkausprachen eine Anzahl sozialdemokratische ReichstagsabgeordneteSachsens. Die Konservativen, Nationalliberalen und Antisemiten,die sich zum gemeinsamen Borgehen einigten, hatten es nicht leicht,