die deutsche Reichsregierung die Notwendigkeit anerkenne daß den Herettkindern der Religionsunterricht in der Muttersprache erteilt wird. Ob der preußische Minister Präsident nun dem Reichskanzler diplomatische Vorstellungen machen wird, daß das Reich in seiner Behandlung der Herero - linder der rechten preußischen Germantsationsschneidigkeit in so erschreckendem Maße ermangele? Es ist nichts unmöglich. Auch nicht, daß der preußische Ministerpräsident Fürst Bitlow dem deutschen Reichskanzler Fürsten Bülow diplomatische Noten überreicht. Versicherte uns doch der Staatssekretär der Justiz, der Herr Nieberding. in seiner Antwort auf die Interpellation mit unerschütterlicher Bureaukratenfeierlichkeit, daß der Reichskanzler erfahrungs gemäß nicht in der Lage sei, der preußischen Regierung Vorstellungen über ihre Polenpolitik zu machen. Und mit demselben unerschütterlichen, würdevollen Ernste erwiderte er auf die lakonische Zwischenbemerkung des Genossen Singer, daß der Reichskanzler ja unter anderem auch preußischer Ministerpräsident sei, die Worte:»Als solcher ist er hier nicht repräsentiert!" Herr Nieberding be antwortete die Interpellation mit der Erklärung, daß er sie nicht beantworten dürfe. Erstens wegen der mangelnden Kompetenz des Reichstages in preußischer Polenpolitik, zweitens, weil die deutsche Reichsregierung die Unabhängigkeit der Richter als teuerstes Kleinod schützt und vor der Zumutung der Kabinettsjustiz in ihrem starken Gefühl für Recht entsetzt zurückschaudert wie eine keusche Jungfrau von der unreinen Umarmung des Wüstlings. Tie Eltern, denen die Kinder entrissen wurden, haben ja da? Recht zur Beschwerde und sogar an nicht weniger als zwei Instanzen! Päpstlicher noch als der Papst, erklärten die Sprecher der Konservativen und der Freikonservativen, daß ihre Frak- tionen wegen Verneinung der Kompetenz des Reichstags sich nicht an der Erörterung beteiligen würden. Herr v. Tiede- mann, das T des Hakatistenvereins, konnte es freilich trotz dem nicht unterlassen, der preußischen Regierung noch schnel eiw-paar scharfmachende Worte gegen die Polen zu sagen. Erst mit dem Redner der' Nationalliberalen, dem Mecklenburger Büsing, begann die eigentliche Debatte. Ein sozialdemokratischer Zwischenruf hat seine Ausführungen ebenso treffend wie knapp charakterisiert:„Ter ist ja schlimmer wie Tiedemann!" Es war wildgewordener Chauvinismus, der in tollem Laufe über alle Schranken der Logik und Ge� rcchtigkeit hinwegsetzte. Aber bei aller Verwirrung des moralischen Gefühls, bei aller Verranntheit, die den Redner erklären ließ, daß er keinen Verstoß gegen ein Reichsgesetz in der Anwendung der Fürsorgeerziehungsbestiminung auf die Eltern streikender Polenkinder sehe, mußte dieser Redner doch zugestehen, daß er an die Eignung dieses Mittels nicht glaube! In Bebel trat endlich der Redner auf die Tribüne, der die Erörterung auf grundsätzliche Höhe hob. Frisch und lebendig, als hätten ihn die Strapazen der Kolonialdebatte ganz unberührt gelassen, packte er die Sache an und den Rahmen der Interpellationen sprengend, holte er zu einer gründlichen Abrechnung mit der Unterdrückungspolitik gegen die fremden Nationalitäten und mit den Handlangern dieser Politik aus. In glücklicher Gegenüberstellung von einst und jetzt zeigte er, wie herrlich weit— zurück wir es gebracht haben. Wenn der Nationalliberalismus nicht so grenzenlos verkommen wäre, die Röte der Scham hätte nicht von seinen Wangen weichen tonnen, als Bebel seine Streiche führte. Wie mag Herrn Büsing zumute gewesen sein, als Bebel ihn an die lodernde Empörung des deutschen Bürgertums wider die Dänen erinnerte, als sie vor 64 an den Schleswig-Hob steinern nicht zur Hälfte das taten, was jetzt Preußen an den Polen und Dänen tut! Es war nicht bloß Kritik in dieser Rede. An der Politik Frankreichs im Elsaß zeigte Bebel die Grundzüge einer vernünftigen Nationalitätenpolitik, wie sie die bürgerliche Gesellschaft zu treiben verinag. Aber auch das Zentrum erhielt neben den Liberalen seine Lektion, sein Ver trauensdusel in deutsche Richterobjektivität erfuhr eine scharfe Kennzeichnung und der Exkurs Bebels über die Weltlichkeit der Schule wird den Klerikalen nicht besonders angenehm geklungen haben. Es war eine Rede, die nach allen Seiten Ausblicke auf die Grundsätze der Sozialdemokratie eröffnete Aus der Fortsetzung der Debatte, die die vom freb sinnigen Standpunkte aus recht anerkennenswerten Reden der Abgg. Träger und Gothein bracht,. dazwischen ein großes Polenfressen des Abg. Liebermann von Sonnenberg , der selbst Büsing noch zu übertrumpfen vermochte, ist besonders die Schlußrede hervorzuheben. Was der Abgeordnete Hansen im Namen der dänischen Minderheit ausführte, das hätte an dem Anfange der Be ratung stehen müssen! Denn sie enthielt die furchtbarste Anklage gegen die preußische Äermanisationspolitik. Der Fall dieser deutsch -dänischen Mutter, der man zehn Kinder nahm, weil sie ihren Aeltesten in eine dänische Druckerei in die Lehre gab, dieser herzzerreißende Fall der armen Witwe schreit gen Himmel! Selbst die grimmigsten Schwarzseher hätten diesen Mißbrauch der Justiz für die Zwecke der Ger- manisationspolitik nicht für möglich gehalten! Bei den Entscheidungen des Amtsgerichts zu Zabrze ist doch noch ein Mittelglied, ist noch der Vorwand eines Verstoßes gegen die Schulordnung, hier aber ist die nackte, grausamste Bestrafung der Gesinnung! Das ist die blanke Barbarei! Das ist die Achterklärung für jede Opposition! Das ist ein Faustschlag ins Gesicht der Kultur! So meint ihr? Nichts von alledem! Fragt Herrn v. Studt, fragt Herrn Beseler! Das ist preußische Fürsorge- erziehung, das ist edelste Blüte der Humanität, da die Organe des Staates sich der sittlich gefährdeten Jugend annehmen! Wozu ist deutsche Justiz nicht zu haben? Wozu nicht? Am Schandpfahl. Die beispiellose DoppeMamage, die das Zentrum in der Kolonialdebatte erlitten hat. wird durch die Urteile der Presse in bengalische Beleuchtung gerückt. War die Blamage, die Herr Dernburg dem Zentrum durch Aufdeckung seines schmählichen Schacherus und Pracherns«m die Vertuschung der Kolonialstandale bereitet hatte, schon ungeheuerlich, so hat das Zentrum durch die feige Preisgabe des Herrn Roeren und sein hundedemlltiges Kuschen vor der Faust seines Bändigers die Blamage ins Unermeß- liche gesteigert! Eine solch jammervolle Unterwerfung hatte nach den Vorgängen vom Montag kein Mensch für möglich gehalten. So schrieb die .Boss. Ztg.": »Herr Roeren wird von seiner Fraktion nicht im Stiche ge- lassen werden." Die„Deutsche TageS-Ztg." meinte: »Sicherlich hat Herr Dernburg sich das Zentrum durch sein gestriges Vorgehen zum Feinde aeinacht, und man darf gespannt sein, lvie der Zweikampf, der sich jetzt zweifellos weiter fortsetzt, enden wird." Der„Hamb. Korrespondent" sagte: »Wichtiger aber und dringender ist, daß neben der Wieder- belebung der KolonialkrifiS der Eintritt einer politischen Krisis droht, deren EntWickelung und Tragweite im Augenblick noch völlig unabsehbar ist. Fürst Bülow notorisch ein Fremid des Zentrums, Exzellenz Dernburg ein Verächter und Gegner aller politischen Traditionen im ullramontanen Sinne, das Zentrum zum Widerstände und wahrscheinlich auch zum Gegen- schlage entschlossen... das ist wahrhustig eine Situation, die den Optimismus gründlich zum Teufel jagen muß." Daß sich das Zentrum die ihm widerfahrene unerhörte Brüs- kierung gefallen lassen werde, ohne wenigstens für den Augenblick einmal die Zähne gezeigt zu haben, erschien um so unmöglicher, als sich die ganze Presse der Rechten und des Rechts-Liberalismus in dithyrambischen Lobpreisungen des„Börsenjobbers" und tollsten Verhöhnungen des so urlräftig maulschellierten Zentrums erging. So jubelte der fromme„Reichsbote" dem„Börsen� jobber" zu: „In mächtiger Erregung— Dernburg weiß wohl, wie gefähr- lich der Kampf gegen das albnächlige Zcnttmn ist— stieß er seine Auklage hervor, und von einem Gefühl der Be- freiung sprach er. als er seine erste Rede beschloß. Als er aber zum zweitenmal auf die beleidigenden Augriffe Roerens, zu denen der Präsident schwieg, geantwortet hatte, und in dem stolzen Gefühl: Ich hab'S gewagt! in das fieberhaft erregte und doch atemlos lauschende Haus rief:„Diese Eiterbeule mußte aufgestochen werden, ich habe sie aufgestochen, und ich trage gen» die Konsequenzen!" da toste ein BenallSorkan durchs Hans, minutenlang sich wiederholend... Herr Dernburg aber wird aus der machrvollen Beifallskundgebung gesehen haben, daß das deutsche Boll d e m m u t i g e n Manne begeistert zustimmt, der in dieser Zeit des allgemeinen Kriechens vor dem Zentrum st o l z die Zumutung z n r ü ck w e i st. sich seinem Willen unterzuordnen. Dernbnrgs Auftreten war eine Tat, die ihm den Dank aller Vaterlands- freunde sicher t." Und in demselben Stile schrieb die„Köln . Ztg.": „Ein Gefühl der Erleichterung geht heute durch das Land. Dankbar steht die Bürgerschaft zu dem tapferen Manne, der sich in wenigen Tagen eine politische Vergangenheit geschaffen hat und sich auch nicht um den Preis der Bewilligung der Kolonialbahn zu einer politischen Erpressung bereit findet. Es wirkt wie Befreiung, daß Dernburg den ultramontancn Druck» der auf dem Lande lastet, endlich alig'cschnttelt hat. Den Zentrums- Herren war der Kamm zu hoch geschwollen.... Dernburg hat den Kämpen Roeren glatt in den Sand ge- setzt. Roeren ist als Richter unabsetzbar. Aber dem Ab- geordneten Roeren ruft heute die öffentliche Meinung ins Ohr: Nehmen Sie Abschied!" Kräftigere Töne noch schlug die„ R H.-W e st f. Ztg. an: „Wahrlich, ein Mann. Nicht einer der vielgewandten, die mit süßem Lächeln und höflichem Diener sich mit allem abzufinden wissen. Sondern einer derer, die man in Deutschland schier für ausgestorben wähnte, denen schmachvolle Verleumdung die Zornes- aber schwellen und die Faust sich ballen läßt. Einer, wie wir ihn seit Jahren. Jahrzehnten ersehnten, und der sich durch seine gestrige Tat verdienter um Deutschlands Größe. um Deutschlands Ehre gemacht hat, als alle Nachfolger Bismarcks und alle Kolonialdirek- toren zusammengenommen. Seine Tat. Denn eine solche ivar es und eine mutige dazu, der mächtigsten Partei im Reiche so seinen Zorn und seine Verachtung ins Gesicht zu sagen." Und trotz solch beispielloser Provokationen, trotz solch jauchzender Triumphgesänge, trotz des verächtlichsten Hohnes kuschte das Zentrum wie ein geprügelter Hund! Wie bereits erwähnt, setzte das führende Zentrumsorgan, die Germania ". Herrn Roeren bereits in der Morgennummer vom Dienstag den Stuhl vor die Tür, indem sie sein Renconwe mit Dernburg als eine«persönliche Auseinandersetzung" hinzustellen die Stirn hatte. Dabei brachte es das Blatt fertig, sich über die absolute Rücksichtslosigkeit" des neuen Kolonialherrn zu entrüsten. der sich ungeniert über„parlamentarische Grundsätze und parlamen- tarische Gepflogenheiten" hinwegsetze, dafür nun freilich„die Kon- e q u e n z e n auf sich nehmen müsse". Nun, diese„Konsequenzen" bestanden dann in der Dienstag- itzung des Reichstags darin, daß der Reichskanzler Herrn Dernburg vor versammeltem Hause seine vollste Billigung für ein Vorgehen aussprach und zu dem Schaden des Herrn Roeren noch unverhohlenen Spott hinzufügte! Und das Zentrum zwang Herrn Roeren in derselben Sitzung zu de- und wehmütiger Revokation, während es Herni Dernburg durch Herm Erzberger noch allerlei schamlose Komplimente machen ließ! Daß die„Germania " dann am Mittwoch, als die Unterwerfung deS Zentrums bereits vollzogen war, nachträglich nochmals über die„absolute Rücksichtslosigkeit" DernburgS greint und das Vor- gehen Roerens als ebenso korrekt bezeichnet, wie die Angriffe deS Kolonialdirektors als„unberechtigt",„gehässig" und„verdächtigend", erhöht nur den tollen Humor der ganzen Affäre! Mit Recht spottet die„National-Zeitung": „Wenn Herr Roeren in allem wohlgetan hat, wenn alles, was er unternommen hat, in lauterster Absicht geschah und vor der breiten Oeffentlichkeit zu vertreten ist; wenn nicht Herr Roeren, sondern Herr Stübel allein den schärfsten Tadel verdient: weshalb in aller Welt mußte Herr Roeren dann erst von seiner Fraktion abrücken? So wie ihn Herr Erzberger nachher schilderte, verdiente er ja beinahe heilig gesprochen zu werden I Und es war unrecht von dem edlen Manne, daß er seine Fraktion an dem Verdienste seiner besten Taten nicht wollte teilhaben lassen. Selbstsucht und Eigennutz sollten einer so reinen Seele eigentlich fern liegen." Nun, die Akten über die ungeheure Blamage des Zentrums sind noch lange nicht geschlossen. Bon recht? und links wird dieser moralische Zusammenbruch frukttfiziert werden. So schreibt der Reichsbote": „Und wenn die herrschende Partei jetzt gar kleinlaut kuscht und Herrn Roeren abzuschütteln wachtet, so wollen wir dafür sorgen, daß auch dieser Attentäter an den R ö ck- schößen des Zentrums hängen bleibt. Für dieses hat er gestritten, sein Häuptling ist er— gewesen, ist er wohl noch. Daß man ihn desavouiert, weil er zu dreist, zu täppisch, zu un- glücklich war, weil er auf Granit biß. was tut s? Beide gehören zusammen.... Die Blamage vergißt das Zentrum nie." Run, die Angriffe von der Rechten und den liberalen Kon- kurrenten nm die Gunst der Regierung wird das Zentrum vielleicht dadurch abzuschlagen versuchen, daß eS nun erst recht Regierungs- parte» wird; damit wird es aber den Angriffen der Sozial« emokratie um so wehrloser preisgegeben sein!-- *•*. DcutFcbca Reich. Lanbtagswahl in Württemberg . Das württembergische Volk steht vor der Entscheidung. Heute haben nach einer seit Monaten mit äußerster Anstrengung be- tricbenen Agitation die Landtagswahlen begonnen. Roch gestern fanden in vielen Orten große sozialdemokratische Wahlvcrsawm« kungen statt, in Stuttgart zwei— nun geht's zur Wahlschlacht. Die Sozialdemokratie zieht mit frohen Hoffnungen in den Kamps. Die württcmbergischen Genossen haben es an Rührtgkejt. und Auf- opferung nicht fehlen lassen. Doch, wie im ganzen das Wahl- resultat ausfallen wird, entzieht sich der Berechnung; denn den jetzigen Wahlen liegt ein neues Wahlgesetz zugrunde, daL teilweise recht verwickelte Verhältnisse geschaffen hat. Durch die VerfassungS- reform im Juli dieses Jahres sind aus der Zweiten Kammer L3 Mitglieder ausgeschlossen worden und teiltveise in die Erste Kammer übergesiedelt. Von den 93 Mitgliedern der Zweiten Kammer blieben nur die 63 Abgeordneten der Obcramtsbczirke und sechs Vertreter der sechs„guten Städte"(Stuttgart , die siebente„gute Stadt", scheidet aus), die nach wie vor mit absoluter Mehrheit im ersten Wahlgang gewählt werden; doch ist neu, daß im zweiten Wahlgang die einfache Mehrheit genügt. Als Ersatz für die aus- scheidenden Delegierten sind 23 Abgeordnete durch Verhältniswahl zu wählen. Davon erhält Stuttgart 6 Abgeordnete an Stelle des einen. Diese sechs werden mittels„Proporz" bei den allgemeinen Wahlen gewählt. Die Wahl der weiteren 1? Abgeordneten findet einen Monat später statt, zu welchem Zweck das Land in zwei große Landtagswahltreise geteilt wird, von denen der eine acht, der andere neun Abgeordnete mittels„Proporz" zu wählen hat. Das aktive Wahlrecht bleibt wie bisher auf 25 Jahre festgesetzt, erfährt'aber iusoscru eine Aeudpruilg, als ein Wähler, der eine cmpsangenL Armenuntcrstützung vor Schluß der Wählerliste zurückzahlt, das Wahlrecht wiedererlangt. Im übrigen sind die Voraussetzungen fast dieselben wie beim Reichstagswahlrecht. Heute, am Mittwoch, werden zunächst die Wahlen in den 63 Oberamtsbezirken, in den sechs„guten Städten"(Ludwigsburg , Hcilbronn, Ulm. Reutlingen , Tübingen und Ellwangen ) sowie die Proportionalwahlcn in Stuttgart vorgenommen. Glück auf!— Ausweisung bestrafter Personen. Der Prozeß deS„Hauptmanns von Köpenick" wird vielleicht zur Folge haben, daß die gesetzlichen Bestimmungen über Ausweisung bestrafter Personen einer Revision unterzogen werden, wenigstens versichert die-„N. Ges.-Korr.", daß in Ncgierungslreisen eine Aenderung der betreffenden Bestimmungen ernstlich in Betracht ge- zogen wird. Sie schreibt: „Das Schicksal des Schuhmachers Voigt hat, wie wir zu- verlässig hören, in Regierungskreisen Anlaß zu ernstlichen Er- wägungen gegeben, aus welche Weise das gegenwärtig be- siebende System der Ausweisung innerhalb der einzelnen deutschen Bundesstaaten zweckmäßig abgeändert werden könne. Es soll Vorsorge getroffen werden, daß arbeitswillige Sttäf- linge nach ihrer Entlassung nicht mehr durch solche Aus- Weisungsmaßregeln— gute Führung während der Sttafzeit und nachher vorausgesetzt— am ehrlichen Fortkommen behindert werden. Wie man hört, bringen Kaiser Wilhelm und besonders auch seine Gemahlin, die Kaiserin, dieser Frage ein sehr lebhaftes Interesse entgegen, und wir haben Grund zur Annahme, daß die Anregung zu gesetzgeberischen Vorschlägen in der angedeuteten Richtung direkt vom Monarchen selbst ausgegangen ist. Es ist Ivahrscheinlich, daß der„Fall" des Hauptmanns von Köpenick von diesem Gesichtspunkte aus bereits in nächster Zeit im Reichstage, vielleicht auch im preußischen Abgeordnetenhause, zur Sprache ge- bracht werden wird." Jahrelang hat nicht nur die sozialdemokratische, sondern auch ein Teil der liberalen Presse jene Ausweisungsbestimmungen bekämpft; aber erst mußte die Tragikomödie von Köpenick kommen, um den erleuchteten Regierungskreisen das Verständnis für die schädliche Widersinnigleit der heutigen AusweisungspraxiS zu schärfen.— Das Unglück bei Annen wurde in der gestrigen Sitzung der sozialdemokrattschen Fraktion ein- ;ehend besprochen. In der Fraktion herrschte darüber Ueberein- timmung, daß so schnell wie möglich, spätestens bei der zweiten Lesung des Etats, Anträge nach der Richtung hin zu stellen seien, daß erstens Borkehrungen getroffen werden, durch welche dem vorgebeugt wird, daß explosionSgesährliche Stoffe in der Nähe bewohnter Ort- chatten lagern, und daß ferner Mittel zur Linderung des großen durch den furchtbaren Unglücksfall herbeigeführten Elends vom Reich zur Verfügung gestellt werden. Von einer I n t e r- pellation wurde mit Rücksicht darauf Abstand genommen, daß nach glaubhaften Nachrichten die Regierung sich mit der Untersuchung der Ursachen der Explosion»wch befaßt. Schwarzblaues Wahlkartell. Die„Nationalzeituug" schreibt: Die Zentrumspartei soll angeblich den von Zentrumsioahlern aus- gehenden Protest gegen die Wahl des nationalliberalen Abgcord- neten Boltz zurückgezogen haben." Wie? Ist das schwarzblaue Wahlkartell für die nächsten RoichStagswahlen bereits perfekt und die Zurückziehung jenes Protestes der erste Liebesdienst, den die icbwarzen Kartellbrüder den blauen leisten? Zwar ist in der Wahlprüfungskommission noch nichts über die gemeldete Kartell- gefälligkeit bekannt, und eia Protest kann auch nur von den Protest- erhebcrn, nicht von einer polirischen Partei zurückgezogen werden. Aber der Pakt zwischen den Konservativen, Nationalliberalen und dem Zentrum hat sich ja bei den Wahlprüfungen in der laufenden Legislaturperiode so trefflich bewährt, daß diese Gcgenscitigteits« gesellschast zur Sicherung der eigenen Mandate und zur Ab- erkennung der Mandate der Linken nun vielleicht diesen weiteren Schritt wagt. Vielleicht verpflichten sich die Kartrllisten, nach künftigen Wahlen überhaupt keine Proteste gegen eine Wahl dieser Kartcllparteicn zu erheben, oder man erklärt die Linke als vogel- frei für die amtliche Wahlbecinfluffung. Dazu bedarf eS nach den Praktiken der Wahlprüfungskommission nur noch einer dreisten öffentlichen Erklärung seitens» des schtvarzblaucn Kartells. Herr Bold aber wird sich wohl kaum noch einer Neuwahl unterziehe» müssen; die Schwarzen werden ihn davor bewahrcm Herr» Arendt ins Stammbuch. Die„Frankfurter Zeitung " packt dem Peters- getreuen Herrn Arendt gegenüber folgende interessattte Reminiszenz aus: „ES war im Oktober 1896, als der bisherige Kolonialdirektor Kayser sich im Kolonialrat über die Gründe seines Rück- trittS äußerte, über die gegen ihn gerichteten offenen und ver- steckten Augriffe„einer kleinen Clique" von Leuten und speziell über die von dem Abg. Dr. Arendt geübten Einwirkungen zugunsten einer Anstellung von Dr. Peters, Einwirkungen, die mit dem drohenden Hinweis auf die mächtigen Freunde von Peters unterstützt wurden. Da Herr Arendt jetzt wieder so eifrig die Rehabilitierung von Dr. Peters betteibt. auf dessen Fall wir nach Abschluß der Kolonialdebatte noch zurückkommen werden, sei ihm diese Erinnerung gewidmet." Man sieht, der Unschuldsengel Arendt hat sein parlamen- tarisches Mandat niemals mißbraucht!— Der Segen unserer Kolonien. Zu welch aberwitzigen Flottcnrüstungrn unsere Kolonialpolitik schließlich führen wird, beweist folgende Auslassung der„Rhein.- WestfälischenZeitung": „Im Anschluß an unseren Leitartikel in der SonutagauSgabe über die neue Aera in der Kolonialpolitik erhalten wir von einem Flottenfreunde folgende Zuschrift: Jeden Pfennig, den wir m die Kolonien stecken, ohne daß wir auch gleichzeitig alles tun. um unseren Flottenbau zu beschleunigen, ist unter Umständen weggeworfenes Geld. Bei dem heutigen Stand unserer Flotte und bei dem Schneckrngang, in dem sie ausgebant werden
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