Dr. 290. 28. Jahrgang.Donnerstag, 18. DeMber 1906.Der Massenstreik vor Gericht.Vor der Strafkammer in Weimar hatte sich gestern die Ge-ttossin Rosa Luxemburg wegen der Rede verantworten, diesie auf dem Jenner Parteitag in der Diskussion über denMassenstreik gehalten hat. Der Zuhörerraum war dicht gefüllt, teilswaren die Parteigenossen erschienen, teils die Damen der höchstenBourgeoisie, die gekonimen waren, um dem Schauspiel der VerHand-lung gegen unsere Genossin beizuwohnen. Auch der Landgerichts-Präsident war zur Stelle und selbst ein Vertreter des Mnisteriumsfehlte nicht. Die Staatsanwallschast vertrat Staatsanwalt DoktorB l o ch m a n n, Verteidiger war Rechtsanwalt Kurt R o s e n f e l daus Berlin.Kurz nach 8 Uhr eröffnete der Vorsitzende die Verhandlung.Nach Erledigung der Formalitäten erklärte Genossin Luxemburg ausBefragen, sie ziehe es vor. sich zunächst zur Sache nicht zu äutzern,nur soviel wolle sie sagen, datz sie entschieden bestreitet, sich irgend-wie straibar gemacht zu haben. Bezüglich des Wortlauts ihrer Redeverweise sie auf das offizielle Parteitagsprotokoll.Dies wurde nunmehr verlesen, und zwar vom Referat des Ge-nosien Bebel an bis zu der Rede der Genossin Luxemburg. Bei derVerlesung der Rede des Genossen Bebel wird der PassuS über denHeineschen Artikel in der Mitte abgebrochen.Der Verleidiger beantragt, gerade diese Stelle zu verlesen. Diesgeschieht. Die Stelle lautet:»Er lHeine) weist dann darauf hin. welch ungeheuerliche Ur-teile die Gerichte, namentlich die Militärgerichte fällen würden, weilcS nach seiner Meinung gar nicht möglich ist. eine so große undgewaltige Bewegung in ruhiger Weise durchzuführen, schon an-gesichts der Provokation der Gegner. Als ich mit einem Partei-genossen über den Artikel sprach, sagte dieser: Heine hat.natürlich ohne cS zu wollen, einem Staatsanwalt ausgezeichnetesMaterial zu einer Rede geboten. Ich antwortete, so dumm istkein Staatsanwalt; eS sind ja nicht gerade die Dümmsten, dieStaatsanwälte werden.(Heine: Wenigstens so dumm sind sienichtig Stadthagen: Doch, die Dümmsten sind es. Heiterkeit.)Ich bin ja überzeugt, Genosse Stadthagen, daß Sie viel klügersind, als alle Staatsanwälte zusammen.(Große Heiterkeit.)Nein, so dum in ist selbst der dümmste Staats-anwalt nicht; mit derartigen Anklagen, wiesie uns Heine ausmalt, würde er selbst voreinen: Klassengericht abblitzen."Der Staatsanwalt beantragt nunmehr, auch die Rede der An-geklagten aus dem letztjährigen Parteitag in Mannheim zur Ver-lesung zu bringen.Hierzu erklärt der Verteidiger, daß er zwar nicht einsebenkönne, wozu diese gar nicht zur Anklage stehende Rede verlesenwerden solle, die Angeklagte habe aber nichts zu verheimlichen unddenke gar nicht daran, ihre Anschauungen zu verbergen, und des-halb wolle er der Verlesung auch dieser Rede nicht widersprechen.Die. Verlesung erfolgt.Als einziger Zeuge wird vernommen der PolizeikommissarVogel-Jena, der auf dem Parteitage als.Ueberwachender"fungierte. Er beginnt zu erzählen, was die Angeklagte ungefährgesagt habe. Doch das interessierte die Richter nicht. Der Vorsitzendefragt, wie die Angeklagte geredet und welchen Eindruck die Redegemacht habe. Der Zeuge bekundet: Die Angeklagte hat sehrerregt und in großer Aufregung gesprochen. Ich hörte siezum ersten Male, aber ich hatte den Eindruck, daß daS ihre Art seiund sie immer so spräche. Der Eindruck auf die Anwesendenist schwer zu schildern; ich hatte den Eindruck, daß mandie Angeklagte nicht ernst nimmt. Ein Student hat mir das be«fiätigt, denn er hat sich auch darüber lustig gemacht. Ich habe dasauch bei den Reden der Frauen Zietz und Zetkin bemerkt, daß mandie Frauen nicht ernst nimmt, denn wir sind noch nicht so weit, daßsich die Männer von Frauen in der Politik beeinflussen lassen.(DieRichter lächeln.) Der Beifall des Parteitages ist nach meinerEmpfindung nur ironisch, nur spöttisch gemeint gewesen. Trotzdemaber glaube ich, daß es der Angeklagten ernst war. Ich hatte denEindruck, daß die Angeklagte nicht im Augenblick, sondernfür den gegebenen Fall zu Gewalttätigkeiten aufreize.Verteidiger: Wenn Sie den Eindruck halten, glaubten Sie nicht.daß hier zu strafbaren Handlungen aufgefordert wurde und wolltenSie die Angeklagte nicht sofort verhaften? Bors.: Das ist dochzweierlei, da nicht jeder, der Strafbares begeht, sofort verhastetwird.Augekl.: Habe ich nach der Meinung des Zeugen zu einemeventuellen Massenstreik oder zu»Gewalttätigkeiten" aufgefordert?Zeuge: Ich weiß wohl, daß beides nicht identisch ist, aber derMassenstreik wird zu Gewalttätigkeiten führen. Bors.: Das ist Ihrepersönliche Ansicht.Damit ist die Beweisaufnahme geschlossen.Der Staatsanwalt Dr. Blochman» plädiert: Nachdem Bebelauf dem Parteitage zugunsten des Massenstreiks gesprochen hatte,äußerten andere Redner Bedenken dagegen, weil der Massen-streik zu einer gewaltsamen Revolution mit einer Niederlage derArbeiter fükiren würde. Dann kam die Angeklagte und sprach mitHohn und Spott gegen diese Bedenken, zumal wir im Jahre der»glorreichen russischen Revolution" lebten.„Wir wären ja Esel.wenn wir daraus nicht lernen wollten" und, so äußerte sie undbetonte, daß wir aucki in Deutschland aus dem Punkte seien, wo dieEvolution in die Revolution umschlage. Heine erwidert sie,er habe keine Fühlung mit den Massen, die stets ihr Blutverspritzt hätten, wie die Geschichte beweise, jetzt aber solledas Blut ciimial für die eigene Klasse verspritzt werden. DaS sinddie Hauptpunkte der Rede, die sich weniger init dem Massenstreik alsmit der Revolution befasse. Ja. die Angeklagte erwähnte nur abund zu den Massenstreik, um über die Hauptsache, die Revolutionreden zu können. Dadurch wird aber die Anreizung zu Gewalt-tätigkeiten in die so wie so schon verwirrten Massen ge-schleudert, und der Hinweis auf daS Kommunistische Manifest.daß die Proletarier nicht« zu verlieren hätten als ihreKetten, kröne den»blutigen Ernst" der Rede. Die An»geklagte will, daß die Ziele der Sozialdemokratie nicht aufparlamentarischem Wege oder auf dem Wege des Massenstreiks er-reicht werden, sondern durch gewaltsamen Umsturz; und die Redesollte die Massen aufreizen, ihre Ketten zersprengen. Wie in Ruß-land, so solle e« auch bei uns geschehen. Das allesstellt Aufforderungen zu Gewalttätigkeiten dar. Aber die Wortesind auch schon geeignet, die Massen in innerste Erregungzu versetzen. Daß der Zeuge die Rede nicht ernst genommen habe,damit tut er der Angeklagten keinen Gefallen, denn eS kommt geradein Betracht und fällt strafverschälseud inS Gewicht, daß die Ange-klagte eine große Rolle i» der Partei spielt und durch ihre RückfichtS-losigtcit bedeutenden Einfluß hat und somit besonders gefährlich ist.Ich beantrage vier Monate Gefängnis.Verteidiger Rechtsanwalt Kurt Rosenfeld: Ich bitte denGerichtshof, hier ganz außer Betracht zu lassen, ob die Angeklagtein Erregung gesprochen oder Führerin einer großen Partei ist; hrerkommt nur die Handlung der Angeklagten in Betracht. Und dafehlen zur Erfüllung des Z 130 alle Merkmale. Man hätte ja dieAntlagc überhaupt nicht erhoben, wenn nicht anfänglich einfalscher Bericht in einer Zeitung erschienen wäre.Nach dein falsche» und als falsch zugegebenen Bericht der»Jenaischen Zeitung"' sollte die Angeklagte gesagt haben:„Wir sindgewillt, die Gesellschastsordnung gewaltsam zu ändern". Ausdiesen Bericht hin wurde das Verfahren eingeleitet, die Anklageaber noch erhoben, als sich schon herausgestellt hatte, daß die An-geklagte jene Worte nicht gesagt hatte. Jetzt mußte nun selbstder Polizeikommissar aussagen, daß er nicht den Eindruck hatte,als sei zu Gewalträtiakeiten aufgereizt worden. Das ist schon ent-Broschüre' erst wieder.unwiderleglich lehrt, daßbeschlossen werden könne.scheidend. Der Staatsanwalt legt dem Wort Revolution einenBegriff unter, der im Widerspruch steht zur Wissenschast und zurGesamtauffassung der sozialdemokratischen Partei. In Jena pflegteman eine Diskussion über den politischen Massenstreik, wobei eSsich nicht um eine Aufforderung oder gar Proklamierung eines solchenhandelte. Die Angeklagte steht auf dem Standpunkt, daß ein Massenstreik und eine Revolution nicht künstlich gemacht werden könnenund nur Ergebnisse der historischen Enlwickelung find. Siebetont in ihrer kürzlich erschienenen"daß gerade die russische Revolutton dasein Massenstreik nicht aus freien StückenSie schreibt:»Die vereinzelten Beispiele von Beschlüffen und Abmachungendes russischen Parteivorstandes, die wirklich den Massenstreik aussteien Stücken proklamieren sollten, wie z. B. der letzte Versuchim August dieses Jahres nach der Duma- Auflösung, sind fastgänzlich gescheitert. Wenn uns also die russische Revolutton etwaslehrt, so ist es vor allem, daß der Massenstreik nicht künstlich»ge-macht", nicht ins Blaue hinein„beschlossen", nicht.propagiert"wird, sondern daß er eine historische Erscheinung ist, die sich ingewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicherNotwendigkeit ergibt.Nicht durch abstrakte Spekulattonen also über die Möglichkeitoder Unmöglichkeit, den Nutzen oder die Schädlichkeit des Massen-streiks, sondern durch die Erforschung derjenigen Momente undderjenigen sozialen Verhältniffe, aus denen der Maffenstteik inder gegenwärtigen Phase des Klassenkampfes erwächst, mit anderenWorten: nicht durch subjektive Beurteilung des MasienstteikS vomStandpunkte des Wünfchbaren, sondern durch objekttve Unter-suchung der Quellen des Massenstreiks vom Standpunkte desgeschichtlich Notwendigen kann daS Problem allem erfaßt und auchdiskutiert werden."Genau denselben Standpunkt hat die Angeklagte auch in ihrerMannheimer Rede vertreten, deren Verlesung der Herr Staatsanwaltdankenswerterweise selbst beantragt hat.Die Angeklagte, die dies geichrieben und gesprochen hat, kannunmöglich zur soforttgen Inszenierung des MasienstteikS, geschweigezur Revolutton aufgefordert haben. Aber selbst wenn sie eS hätte,so lväre darin nichts Strafbares, denn der Streik ist gesetzlich erlaubtund auch derjenige zur Erringung politischen Einflusses. Demnachkann eine Aufforderung zum Maffenstteik niemals strafbar sein.Die Gerichte haben wiederholt dahin entschieden, daß die Aufforderungzum Massenstreik nicht strafbar sei. weil mit der Durchführung einesMasienstteikS nicht notwendig Gesetzesverletzungen und strafbareHandlungen verbunden sein müssen. Der Staatsanwalt operiertfortgesetzt mit dem Hinweise der Angeklagten auf Rußland,dabei sind die russiichen Arbeiter nur in ihren Kampfgetrieben worden und bringen nur notwendige Opfer.höchst auffällig ist es, daß der Staatsanwalt in der Zitierung derSchlußsätze des Kommunistischen Manifestes etwas besonders Straf-bares findet. Diese Schrift ist doch nicht verboten, sie ist vielmehrin vielen Auflagen in Deutschland verbreitet und in Berlin er-schienen. Uebrigens wandte sich die Angeklagte nicht an. diegroßen Massen, sondern an die Delegierten zum Parteitag,und zwar zu dem Zwecke, sie geneigt zu machen, dieResolutton Bebel anzunehmen, in der nur fiir gewisse Fälle.„gegebenenfalls" die Anwendung des Massenstreiks für zulässig er-klärt wird. Die Angeklagte kann demnach gar nicht»verschiedeneBevölkerunaSklassen" zu Gewalttätigkeiten angereizt haben;ganz zu schweigen von einer den»öffentlichen Frieden ge-fährdenden Weise", da selbst der Polizeibeamte, der ja kraftseines Amte» mehr wie jeder andere dazu neigt, Sttaf-bares wahrzunehmen, diesmal keinen Anlaß zum Eingreifen ge-funden hat. ES ist doch unverständlich, daß die Erörterungdes Problems des Massenstreiks st r a f b a r, die Aus«führung aber gestattet sein soll. Die ganze BersammlungS«sreiheit würde untergraben und vernichtet sein, wenn eine solcheRede nicht mehr gehalten werden dürfte. Fehlen demnach alleVoraussetzungen des§ 130. so muß Freisprechung erfolgen.Der Staatsanwalt: Selbst Bebel hat auf dem Parteitagegesagt, daß die Angeklagte eine echt revolutionäre Rede gehaltenhabe und David hat erklärt, die Rede der Angeklagten sei einRückschlag in den alten RevolutionariSmuS. Es sei doch offensichtlich,daß die Angeklagte vom Maffenstreik lediglich deshalb spreche, umunter diesem Schein die Rede auf die Revolution halten zu können.Es sei auch in Jena nicht lediglich ein« theoretffche Diskussion ge-lvesen, an der die Angeklagte teilgenommen hat. In Mannheim hatsie ebenfalls über den Massenstreik und von seiner Anlvendung fürden Fall einer Intervention Preußens in Rußland und bei inter-nationalen Verwickelungen gesprochen. ES müsse weiter berück.sichttgt werden, daß dte Straßenkrawalle in Sachsenund vor allem in Hamburg in ursächlichem Zu-sammenhang mit den Reden der Angeklagtenständen.Der Verteidiger erhebt gegen den Versuch des Staatsanwalts,die Angeklagte für die Vorgange in Hamburg verantwortlich zuniachen, Protest. Die dortigen Ereignisse seien nicht Schuld derSozialdemokraten, sondern, wie gerichtlich festgestellt sei, Schuldder Hamburger Polizei. Dies werde eventuell der Polizeipräsidentvon Hamburg selbst bekunden müssen. ES scheine schlecht um dieSache des Staatsanwalts zu stehen, daß er solche Dinge, die mitder Red« der Angeklagten auch nicht das Geringste zu tun hätten,und außerdem unrichtig seien, in die Verhandlung hineinziehe.Borsitzender: Ich erteile nunmehr der Angeklagten das Wort.Ich ersuche sie aber, sich kurz zu fassen. � � �Verteidiger: Ich muh darum bitten, daß die Redefrerheltder Angeklagten nicht beschränkt wird.Borfiliender: Ich wollte nur Wiederholungen vorbeugen.Rosa Luxemburg: Herr Gerichtspräsident, ich pflege mich auchsonst nicht zu wiederholen. Ich will nur, nachdem mein Verteidigerdie juristischen Gesichtspunkte hervorgehoben hat, einige Ausführungenüber meine in meiner Partei allgemeine Auffassung in der Fragedes Massenstreiks und der Gewaltanwenduntz machen. Zunächst eineBemerkung über das letzte Argument des Herrn Staatsanwalts.Ich muß offen sagend, daß ich geradezu erstaunt war über den Leicht.sini», mit dem ein offizieller Vertreter des Rechts einer Drei.Millionenpartei, wie die Sozialdemokratie, die Schuld bei solchenVorgängen wie die Hamburger Straßenkrawalle unterschieben kann.Der Vorsitzende unterbricht die Angeklagte, um den AusdruckL e i ch t s i n il zu rügen und warnt sie vor dergleichen Aeußerungen,die der Sache gar nicht dienlich seien.„„Rosa Luxemburg: Ich glaube aber gerade auf die, sagen wir,Leichtigkeit hinweisen zu müssen, mit der der Staatsanwalt uns,entgegen einer ausdrücklichen gerichtlichen Feststellung, für dieHamburger Krawalle verantwortlich machen will, denn diese Probeist auch charakteristisch für die Leichtigkeit, mit der er im gegebenenFall mir in meiner Jenaer Parteitagsrede die Absicht zuschiebt, zuGewalttätigkeiten angereizt zu haben. �Vor allem sei mein erregter Ton em belastendes Moment.Nun, der Ton ist ja individuelle Temperamentssache. Aber eS istdoch klar, daß man sehr erregt sprechen und dabei eine strengwissenschaftliche Auffassung vertreten kann, ebenso wie man sehrruhig reden und dabei eine sehr krüde, unwissenschaftliche und ausireizende Auffassung darlegen kann. WaS meine Auffassung in derMassenstrcikfrage� betrifft, so vertrete ich ja gerade die Ansicht,daß man weder eine Revolution, noch einen großen, ernsten Massen-streik künstlich machen oder provozieren kann.Da sich der Herr Staatsanwalt auf meine Rede in Mannheimberufen bat. so darf ich wohl auch zur Klarlcgung meiner Auf-fassung hier einige Stellen auS einer Schrift von mir verlesen,nämlich aus der Broschüre über den Massenstreik, die gerade zumMannheimer Parteitag geschrieben war. Da sage ich Z. B. aufSeite 33:»Es genügt, das Bisherige zusammenzufassen, um auchüber die Frage der bewußten Leitung und der Initiative beidem Massenstreik Aufschluß zu bekommen. Wenn der Massen-streik nicht einen einzelnen Akt, sondern eine ganze Periode desKlassenkampfes bedeutet, und wenn diese Periode mit einer Re-volutionsperiode identisch ist, so ist es klar, daß der Massen-streik nicht aus freien Stücken hervorgerufen werden kann, auchwenn der Entschluß dazu von der höchsten Instanz der stärkstensozialdemokratischen Partei ausgehen mag. Solange die Sozial-demokratie es nicht in ihrer Hand hat, nach eigenem ErmessenRevolutionen zu inszenieren und abzusagen, genügt auch nichtdie größte Begeisterung und Ungeduld der sozialdemokratischenTruppen dazu, eiue wirkliche Periode der Massenstreiks als einelebendige mächtige Volksbewegung ins Leben zu rufen."Und endlich auf Seite 50:„Wenn es einerseits schwerlich mit Sicherheit vorausgesagtwerden kann, ob die Vernichtung des allgemeinen Wahlrechtsin Deutschland in einer Situation eintritt, die unbedingt einesofortige Massenstreikaktion hervorrufen wird, so ist eS anderer-seitS ganz sicher, daß, sobald wir in Deutschland in die Periodestürmischer Massenaktionen eingetreten sind, die Sozialdemokratieunmöglich auf die bloße parlamentarische Defensive ihre Taktikfestlegen darf. Den Anlaß und den Moment vor-auszubestimme»,, an dem die MassenstreiksinDeutschland ausbrechen sollen, liegt außer-halb der Macht de-r Sozialdemokratie, weile s außerhalb ihrer Macht liegt, geschichtlicheSituationen durch Parteitagsbeschlüsse her-beizuführen. WaS sie aber kann und muß, ist, die politi-scheu Richtlinien dieser Kämpfe, wenn sie einmal eintreten, klar-legen und in einer entschlossenen, konsequenten Taktik formu-lieren. Man hält nicht die geschichtlichen Ereignisse im Zaum.indem man ihnen Vorschriften macht, sondern indem man sichim voraus ihre wahrscheinlichen berechenbaren Konsequenzenzum Bewußtsein bringt und die eigene Handlungsweise danacheinrichtet."Das ist meine Auffassung in bezug auf den Massenstreik undSie können daraus ersehen, wie weit sie von den Vorstellungendes Herrn Staatsanwalts entfernt ist.Besonders erschwerend soll für mich der Umstand sein, daß ichso häufig in meiner Rede auf die russische Revolution hingewiesenhabe. Aber die russische Revolution ist nun einmal das erste großegeschichtliche Experiment mit dem Kampfmittel des Massenstreiksund jeder ernste soziale Forscher, und sei er auch ein bürgerlicherGelehrter, der das Problem deS Massenstreiks studieren und be-urteilen will, muß sich unbedingt an die russische Revolutionwenden und aus ihr seine Erkenntnis schöpfen.Nun aber noch ein wichtiger Gesichtspunkt: von welcher Be-schaffenheit war das Auditorium, das ich zu Gewalttätigkeiten an-gereizt haben soll? Ich sprach, nicht einmal in einer Volksversamm-lung, sondern auf einem sozialdemokratischen Parteitag; ich sprachalso vor einer Versammlung von Männern, die die Elite der auf-geklärten Arbeiterklasse Deutschlands darstellen. Und nun meineich, das ist eine wahrhaft kolossale Unterschätzung der politischenReife und der Intelligenz der sozialdemokratischen Agitatoren,wenn man glaubt, sie wären so leicht durch eine erregte Rede zuGewalttätigkeiten anzureizen. Es liegt darin überhaupt eine un-geheure Unterschätzung des aufklärenden und veredelnden geistigenEinflusses, den die 40 Jahre sozialdemokratischer Schulung auf diedeutsche Arbeiterklasse geübt haben. Und ich sage offen, ich hättegenau dieselben Ausführungen nicht bloß auf dem Parteitag,sondern in einer beliebigen sozialdemokratischen Volksversammlunggemacht und machen können, ohne daß unsere Arbeiter entfernt anGewalttätigkeiten gedacht hätten. Ja, hat denn das deutsche Prole-tariat nicht in den letzten Jahrzehnten zur Genüge bewiesen, wiesehr eS volitisch reif, wie sehr es seine Leidenschaften gegenüberallen Aufreizungen im Zügel zu halten vermag? Denn wahrhaftignicht mit Worten, sondern mit Taten wird eS genügend tagtäglichaufgereizt. Glauben Sie denn, daß eine Bolksmasse,die nicht durch das Soziali st engesetz, durch dieUmsturzvorlage, die Zucht Hausvorlage, denfiungertarif, durch die jetzige Anti-Gewerl-chaftSvorlage zu Gewalttätigleiten gegen dieherrschenden Klassen aufzureizen ist, daß diesich durch ein paar Worte über die Revolution dazuhinreißen läßt? Ich wundere mich, daß der Staatsanwaltnicht, statt mich anzuklagen, die Urheber all jener Gesetze und Vor-lagen in Anllagezustand versetzt, denn diese Taten sind wahrhaftgeeignet, die besitzlosen Massen in höchstem Grade aufzureizen,und sie würden sicher zu Gewalttätigkeiten führen, wenn— ja,wenn eben nicht der vertiefende und klärende Einfluß der Sozial-demokratie wäre!Der Staatsanwalt meinte, ich leugne durchaus den revolutio«nären Charakter meiner Jenaer Rede. DaS ist ein vollkommenerIrrtum. Ich habe revolutionär geredet und ich rede immer re-volutionär, wie unsere ganze sozialdemokratische Agitationrevolutionär ist. Aber nicht in dem Sinne der seltsamen Vor-stellung des Staatsanwalts, der die Hamburger Krawalle auf dierevolutionäre Wirkung der Sozialdemokratie zurückführt, sondernin dem Sinne, daß wir eine vollkommene, gründliche Umwälzungder bestehenden Gesellschaftsordnung anstreben. Und auch dieRolle der Gewalt negiere ich dabei gar nicht. Nur stehe ich mitmeiner Partei dabei auf dem Standpunkt, daß die Initiative zurAnwendung der Gewalt stets von den herrschenden Klassen aus-geht, auf dem Standpunkt, den unser Lehrmeister FriedrichEngels im Jahre 18S2 in der»Neuen Zeit" präzisiert hat,Engels schrieb:»Wie oft haben die Bourgeois uns nicht zugemutet, wivsollten unter allen Umständen auf den Ge,brauch revolutionärer Mittel verzichten undinnerhalb der gesetzlichen Grenzen bleiben-jetzt, da daS Ausnahmegesetz gefallen, das gemeine Recht wiederhergestellt ist für alle, auch für die Sozialisten l Leider sindwir nicht in der Lage, den Herren Bourgeoisdiesen Gefallen zu tun. Was aber nicht verhindert.daß in diesem Augenblick nicht wir diejenigen sind, die„dieGesetzlichkeit kaput macht". Im Gegenteil, sie arbeitet so vor,trefflich für uns, daß wir Narren wären, verletzten wir sie, so,lange dies so vorangeht. Viel näher liegt die Frage,ob es nicht gerade die Bourgeois und ihre Regierung sind, dieGesetz und Recht verletzen werden, um uns durch die Gewalt zuzermalmen? Wir werden das abwarten. Inzwischen:»schießenSie gefälligst zuerst, meine Herren" Bourgeois! Kein Zweifel,sie w e.r d e n zuerst schießen. Eines schönen Morgen« werdendie deutschen Bourgeois und ihre Regierung müde werden, deralles überströmenden Springflut des Sozialismus mit ver-schränkten Armen zuzuschauen; sie werden Zuflucht suchen beider Ungesetzlichkeit, der Gewalttat. Was wirds nützen? DieGewalt kann eine kleine Sekte auf einem beschränkten Gebieterdrücken; aber die Macht soll noch entdeckt werden, die eine überein ganzes großes Reich ausgebreitete Partei von über zwei oderdrei Millionen Menschen auszurotten imstande ist. Die Kontre-revolutton, momentane Uebermacht kann den Triumph desSozialismus vielleicht um einige Jahre verzögern, aber nur»damit er dann um so vollständiger und endgültiger wird."Dies ist unsere Auffassung. Und nun bitte ich Sie zum Schluß,mich freizusprechen. Nicht weil ich mich vor einer eventuellen Ge-fängnisstrafc fürchte, gilt cS. die uns von der herrschenden Justizfür unsere Ueberzeugungen zudiltierten Gefängnisstrafen zu er-tragen, so sagt sich jeder Sozialdemokrat, um in dem Bisniarcksche!»Äuchenlatein zu reden: Nescio, quod mihi niagis farcimcntuin,zu deutsch: Ich weiß nicht, was mir mehr Wurst wäre